In dieser Playlist geht es um Stellen, nicht um ganze Werke! Darum hier nicht gesondert aufgeführt: Die 1824 zu Papier gebrachte Sonate in a für Arpeggione und Klavier von Franz Schubert. Der Arpeggione – diese sechsseitige Mischung von Violoncello und Gitarre – konnte sich nicht so richtig durchsetzen, weswegen die Schubert-Sonate fast nie auf einem Arpeggione zu hören ist, sondern meistens von Violine, Viola, Cello, Kontrabass oder Gitarre (plus Klavier) spielenden Menschen aufgeführt wird. Nun aber zur Top Ten der (fast) immer falsch gespielten Stellen.

Nr. 10: Die Oktobass-»Stelle« in Charles Gounods Cäcilienmesse

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Charles Gounods Cäcilienmesse. Komplett falsch gespielt, weil: ohne Oktobass!

Charles Gounods (übrigens wunderschöne) Messe solennelle en l’honneur de Sainte-Cécile (kurz Cäcilienmesse genannt) von 1855 wird selten mit richtigem Oktobass besetzt, einer Art noch unhandlicherem, dreisaitigen Riesen-Kontrabass, den man mit Fingern gar nicht bespielen kann, zu groß, zu grob ist alles »geschreinert«. Man braucht Hebel, Bügel, um das Ding in seinen (knarzigen) Gang zu bringen. Quasi jede einzelne Schwingung lässt sich sehen! So langsam bewegen sich die schlackernden, schlotternden Saiten! Ein Streichinstrument mit pathologischem Riesenwuchs. Gounod setzt den Oktobass nur in dem Sanctus der Messe ein; dort, wo das Instrument »lediglich« Töne, die ohnehin im Orchester gespielt werden, nach unten hin verdoppelt.

Die Oktobass-Stelle im Sanctus aus Charles Gounods Cäcilienmesse

Stellt sich die Frage: Würde es sich lohnen, das Werk einmal – denn eine Aufnahme mit Oktobass ist mir nicht bekannt (korrigiert mich!) – auch dementsprechend aufzuführen? Ja, aber selbstverfreilich doch. Allein die optische Wirkung eines Oktobasses an der Seite der Kontrabass-Gruppe wäre nicht zu unterschätzen. Und irgendwie kann man mutmaßen, dass die von Gounod verherrlichte Größe Gottes so bildlich (wie auch, ähem, »klanglich«) instrumental unterstützt würde! Natürlich gibt es eine ganze Reihe weiterer Werke mit »seltenen«, nicht einfach herbeizuschaffenden und dementsprechend schwer zu finanzierenden Instrumenten, beispielsweise die 16 Ambosse zur Musikalisierung der schweren Arbeit der Nibelungen in Richard Wagners Rheingold. Der Klang der Ambosse wird dabei niemals ausgelassen, aber die Ambosse werden fast immer »vom Band« eingespielt, was wiederum häufig zu einer Asynchronität im Zusammenspiel mit dem restlichen Orchester führt. Dirigentinnen und Dirigenten fürchten diese Stelle deshalb. Oft klappert es! Dabei ist hier eine Präzision wirklich wünschenswert.


Nr. 9: Eine nicht jugendfreie Stelle in Nam June Paiks Symphony V

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Richtiger Komponist, falsches Stück, denn von dem, um das es hier geht, gibt es keine Aufnahme. (Besser ist das.)

Nam June Paik (1932–2006) war ein Rebell. Unter anderem schrieb er in One for Violin Solo (1962) vor, nach einem mehrminütigen, zeitlupenartigen Anheben einer Violine über einer Tischkante, das Instrument – als »Höhepunkt« des Ganzen – zu zerdeppern. Das veranlasste den alles andere als humorbefreiten Mathias Spahlinger einmal dazu, unter Freiburger Studierenden zu behaupten, die Komposition sei im Grunde tonal, da sie plump auf dem Konzept »Spannung (langsames Anheben der Violine) – Entspannung (plötzliches, finales Zerstören der Violine)« fuße. In Paiks Symphonie No. 5 (ca. 1965) – einer ironischen Performance-Anweisung in »Space Notation« – dagegen geht Paik, ein bedeutender Vertreter der musikalischen Fluxus-Bewegung, noch einen (schmerzvollen) Schritt weiter. In dem »Formteil« January the third soll der Kammerton »a1« mit dem steifen Glied gespielt werden (»strike with the erected penis«) – und zwar im vierfachen »Forte«. Hier ist erstens die Frage, ob »man« das überhaupt sehen/hören will – und ob dies (an dieser Stelle möge man die potentiellen Witze dazu im heimischen Wohnzimmer für sich alleine deduzieren) überhaupt möglich ist. Aber genau darauf zielte Paik wahrscheinlich ab. Eine Aufnahme dieses Werkes habe ich nicht gefunden. Und das ist schön, sehr schön.


Nr. 8: Genauer Rhythmus vs. das Gefühl fließenden Improvisierens: Ludwig van Beethoven in seinen Klaviersonaten

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Beethovens Klaviersonate c-Moll op. 10. Nr. 1, zweiter Satz (ab Minute 6.56). Richtig gespielt, weil »falsch«.

Viele Stellen in klassischen Werken sollen gar nicht »richtig« gespielt werden. Es geht den Komponistinnen oder Komponisten dabei häufig eher um Anmutungen, um Andeutungen wie: »Spiele diese Bewegung durchaus fließend, im Sinne eines größeren Zusammenhangs!«, aber eben nicht um: »Spiele das rhythmisch exakt so, wie ich es – verdammte Axt – notiert habe!« Hinzu kommt der Aspekt der Praktikabilität: Warum eine schnelle Figur so notieren, wie sie spielbar wäre, wenn ich doch sagen möchte: »Versuche, den Fluss des Ganzen beizubehalten!« Und: Wozu das rhythmische Partitur-Bild dadurch zerstören? Damit mir nachher jemand unterstellt, ich hätte – nur deswegen – eine neun- statt achttaktige Periode komponiert?

Die Takte 29 bis 32 aus Ludwig van Beethovens Klaviersonate c-Moll op. 10 Nr. 1

Im zweiten Satz (Adagio molto) von Ludwig van Beethovens Sonate Nr. 5 c-Moll op. 10 Nr. 1 (1796–98) lässt der Komponist, um nicht ganz im Momenthaften einzufrieren, Begleit-Achtel in der linken Hand dahintupfen. Über diesen sanften Tupfern steigen schnelle und genau ausnotierte Girlanden hinauf. Das kann man freilich ohne größere Probleme exakt im Rhythmus spielen. Aber niemand macht das so zwanghaft. Selbst bei dem absolut auf »Linie« bedachten Artur Schnabel wird beispielsweise die letzte Achtel in Takt 30 (siehe Video oben) gewissermaßen »automatisch« verlängert. Derartige – im Grund intentional nie »richtig« zu spielende – Stellen finden sich in tausenden von klassischen Werken.

»Falsch« ist natürlich ohnehin ein großes Wort. Manchmal kann aber ganz klar sagen: »Hier irrt Goethe.« Besser: Hier und da spielen bedeutende Interpretinnen und Interpreten in Orchestern, Kammermusikformationen oder sogar solo einen falsch eingeübten Ton. Darüber lässt sich kollegenseitig dann natürlich profund die Nase rümpfen. Auch existieren Millionen von schwierigen Stellen, bei denen immer mal wieder etwas »passiert«. Auf der Suche nach solchen Stellen sind wir nicht. Nicht heute.


Nr. 7: »Nun schrei doch mal endlich!« Gustav Mahlers umgangener Revelge-Schrei

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Nur Bernd Weikl führt den von Mahler in der Revelge vorgeschriebenen Schrei richtig aus. Hier bei Minute 5.15.

In Gustav Mahlers knochenklapperndem Leichenmarsch-Wunderhornlied Revelge schreibt der Komponist für das x-te Zombie-»Tralali« in die Partitur: »geschrien« (in einer anderen Ausgabe heißt es zumindest: »con tutta forza«). Fast niemand traut sich diesen – herausfordernd: auf Noten auszuführenden – Schrei allerdings interpretenseitig (zu). In einem Interpretationsvergleich aus dem Lockdown Anno 2020 habe ich davon berichtet, dass es sogar einmal fast Ärger mit einem bekannten Sänger gab, dem ich die Nicht-Beachtung dieser Partituranweisung in einer Zeitungskritik freundlich (aber deutlich) unterstellt hatte. Für mich realisiert am ehesten noch Bernd Weikl diesen Schrei (siehe Video oben). Eine der krassesten Gänsehautstellen der gesamten Literatur.

Der auskomponierte Schrei in Gustav Mahlers Revelge (hier die Version mit Orchester)

Und überhaupt wird Gustav Mahler – dessen Lieblingswort als komponierender Dirigent doch immer »Genauigkeit« war – häufig bei »nie richtig gespielten Stellen« genannt, fragt man die kompetente Community danach. Aber es existieren auch absolute Fakes! Immer wieder wird beim »Hörblick« auf den Beginn des dritten Satzes von Mahlers Erster kolportiert, Mahler habe sich hier kein wirkliches Kontrabass-Solo, sondern ein Kontrabass-Gruppen-Solo gewünscht.

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So ist es richtig: Das Kontrabass-Solo nicht als Gruppen-Solo in Mahlers Erster. Hier bei Minute 24.55.

Nicht solle hier »Bruder Jakob in Moll« (was so auch nicht ganz stimmt …) von einem einzigen Kontrabass, sondern eben von den meist sechs bis acht Bässen gemeinsam intoniert werden.

Ja, fein! Schön alleine, nicht mit den anderen Kindern zusammen!

Dazu habe ich Mahler-Expertin Renate Stark-Voit befragt, die mich auf die Seite von Paul Banks zu diesem Streitpunkt hinwies. Herausgeber Sander Wilkens beharre auf die Gruppen-Solo-Theorie. Laut Stark-Voit fänden sich in dem Notenmaterial einer New Yorker Aufführung unter der Ägide des Komponisten aber selbst nur Bogenstriche in dem Exemplar des damaligen Solo-Bassisten. Zudem habe Mahler »seinen« damaligen Wiener Solo-Kontrabassspieler Otto Stix zu einer Aufführung des Werkes eigens nach Brünn mitgenommen, vermutlich eben, damit die Stelle – freilich dann nur gespielt von Stix himself – intonatorisch möglichst rein klänge. In der gerade entstehenden Version von Mahlers Erster im Rahmen der Neuen Kritischen Gesamtausgabe wird Stark-Voit, so viel durfte sie verraten, eindeutig für die »Solo-Solo-Theorie« plädieren.

Viele weitere »Falsch«-Fälle dürften Besetzungsgrößen betreffen. Max Regers Motetten verlangen beispielsweise im Grunde einen sehr großen Chor.

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Max Regers Geistliche Gesänge op. 110. Großartige Vokalmusik, nur meist in zu kleiner Besetzung zu hören (wie hier).

Regers herrliches Opus 110 wird meist aber nur in kleiner Besetzung gemacht, weil es mit einem über 100-köpfigen Chor einfach noch viel schwieriger wäre, eine gewisse Klarheit hineinzubringen. Das betrifft vermutlich abertausend andere Werke der E-Musik. Stundenlang könnte man sich über die Besetzungsgrößen von Johann Sebastian Bachs Kantaten, Passionen und Messen streiten, wobei die Motivationen und tatsächlichen Realisierungsversuche – aufgrund der ewigen Musikgeschichtsausstrahlung Bachs – immens, eindrücklich und äußerst respektabel sind.


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Nr. 6: Es ist doch nur ein Beispiel! Giuseppe Verdis Celeste-Aida-Herausforderung

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Er konnte es noch: Helge Rosvaenge. Der Schluss von Celeste Aida – annähernd richtig gesungen. Hier bei Minute 4.38.

Manche Interpretationsanweisungen sind so komplex zu realisieren, dass sie gewissermaßen meist »falsch« – weil im Grunde gar nicht – (mehr) umgesetzt werden können. Manchmal hatten Komponistinnen und Komponisten derart gute Interpretinnen und Interpreten zur Verfügung (oder waren komponierendes und interpretierendes Subjekt in Personalunion), dass mehr oder weniger nur diese Personen fähig waren, ganz besondere »Dinge« nah oder sogar sehr genau am Notentext orientiert aufzuführen. In der Operngeschichte kommen solche Fälle häufig vor, ja, manche Opern entstanden erst, weil beispielsweise Georg Friedrich Händel eine fantastische Sopranistin aus Venedig nach London holen und für sie virtuose Partien komponieren konnte. Die liebeserregte Vergötterungs-Arie Celeste Aida des Radames – ganz am Anfang von Giuseppe Verdis 1871 uraufgeführter Ägypten-Oper Aida – endet nicht mit schmetternden Triumphtönen, sondern mit einem hohen »b1« des Tenors. Das »b1« soll dabei bereits nicht nur »pianissimo«, sondern zudem »morendo« – also »verhauchend«, »ersterbend« – eingeleitet werden: angesichts dieser Höhe und der manchmal grundsätzlich verschwundenen Bereitschaft seitens der Tenöre dieser Welt, überhaupt pianissimo zu singen, eine absolute Seltenheit!

Das Ende der Radames-Arie Celeste Aida in Giuseppe Verdis Aida

Luciano Pavarotti (hier bei Minute 4.12) singt dagegen ein klar zu vernehmendes Fortissimo. Auch Giuseppe Di Stefano (hier bei Minute 3.56) brüllt im Fortissimo seine Liebe zu Aida heraus, ebenso Jussi Björling (hier bei Minute 1.06), der gnadenlos bis zum Ende durchballert. Franco Corelli (hier bei Minute 4.15) bekommt zwar einen tollen Abschweller auf dem »b1« hin. Doch das »Morendo« beginnt ja eigentlich schon weit früher! Aber da wildert Corelli noch völlig selbstverständlich in tenortypischen Fortissimo-Wäldern. (Wo bleibt eigentlich die Stiftung Waren-Testosteron, wenn man sie mal braucht?) Nur ganz wenige Tenöre bemühen sich, der Dynamikanweisungen Verdis zu folgen, zumal mit dem Ende dieser Arie schließlich nichts weniger als das liebestödliche Eingemauert-Seins-Ende von Radames selbst angedeutet zu werden scheint! Einer dieser Tenöre ist Helge Rosvaenge, der (siehe Video oben, dort leider auf Deutsch gesungen) das »b1« 1938 ins Falsett nahm. Wunderschön! Wäre Johan Botha nur nicht so tragisch früh verstorben … Er war einer der Letzten, die sich um diese Stelle (hier bei Minute 3.47) noch bemühten. Eine berühmte – und tatsächlich irgendwie sehr häufig falsch gesungene – Stelle. Eine von abertausenden »Stellefällen« der Opernliteratur!

Ich glaube, dass Verdi hier diese (nicht unmögliche) »Unmöglichkeit« der Dynamik durchaus wollte! Andere Komponistinnen und Komponisten haben im Bereich Dynamik freilich (meist später) immer mal wieder mit tatsächlich irgendwie »unrealisierbaren« Laut/-Leise-Wunsch-Angaben gespielt. So verlangt beispielsweise György Ligeti in einigen Klavieretüden der 1980er Jahre Zehnfach-»Forte«-Akkorde und Ähnliches. Das ist Ligeti selbstverständlich nicht einfach so »passiert«. Auch sind die Interpretinnen und Interpreten dieser Werke nicht zu blöd, das zu realisieren. Was wieder einmal viel wichtiger ist: Ligeti will Ekstase, Größe, Raum! Große Crescendo-Räume, Intensität.


Nr. 5: Wie klingt Ewigkeit? Olivier Messiaens Cello-Unmöglichkeit

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Der zweite Satz aus Olivier Messiaens Quatour pou la fin du temps. Wie hier: immer viel zu schnell gespielt!

Im Zeichen von Olivier Messiaens existenziellem, göttlichem Quartett vom Ende der Zeiten (1940–41) erzittern die Cellistinnen und Cellisten dieses Planeten; insbesondere angesichts des vierten Satzes (Louange à l’Éternité de Jésus). Nicht wegen waghalsiger Sprünge oder vieler Noten auf engem Raum, im Gegenteil. Fast (?) niemand hat den Mut und/oder den Atem, das richtig zu spielen! Messiaen schreibt als Tempoanweisung: »Infiniment lent, extatique«, also »unendlich langsam, ekstatisch«. Gut, hier könnte man meinen, es handele sich lediglich um eine charismatische Spielanweisung eines tiefreligiösen Menschen. Zusätzlich schreibt Messiaen aber vor: 16tel = 44. Im Zusammenwirken mit den offenbar ebenso von Messiaen stammenden Bogenstrich-Anweisungen ist das in der Tat eine absolute Herausforderung, jedoch möglich. Das würde ich sehr gerne einmal wirklich so hören – und nicht doppelt oder sogar dreimal so schnell gespielt wie üblich (und, ja, falsch!). Denn die überirdische Zeitlichkeit Gottes (beziehungsweise seines Sohnes) wollte der ja wirklich gottgläubige Messiaen meiner Ansicht nach schon auch »realistisch« (nicht also »nur« utopisch) anfassbar machen, trotz der Bibelstelle, die einem vielleicht beim Mutmaßen in den Sinn kommt: »Eins aber sei euch nicht verborgen, ihr Lieben, dass ein Tag vor dem Herrn wie tausend Jahre ist und tausend Jahre wie ein Tag.«


Nr. 4: Robert-Schumann-Phantastereien und der Beginn von Franz Schuberts Unvollendeter

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Nicht »falsch«, sondern großartig: Martha Argerich in Robert Schumanns Klaviersonate g-Moll op. 22 mit der Tempofolge »So rasch wie möglich«, »Schneller« und »Noch schneller«

Schon früh »verlangten« Komponistinnen und Komponisten mittels bestimmter »Wünsche«, die Eingang in die Partitur fanden, absichtlich Dinge, die gar nicht realisiert werden sollen, weil sie (beispielsweise!) nicht 1:1 realisiert werden können. Derlei »Wünsche« – strenggenommen: »Spielanweisungen« – sind meist entweder Ausdruck von reinem (und/oder philosophischen) Schabernack (siehe so manche Partitur von Erik Satie) und/oder drücken den Wunsch nach »mehr« aus. Nach mehr Ausdruck, mehr Temperament, mehr Emphase. Das wohl berühmteste Beispiel für so einen »unmöglichen« Wunsch ist der »Tempoanweisung gewordene Florestan« (der wilde Teil des Phantasiefigurenpaars Florestan und Eusebius) in Robert Schumanns Klaviersonate g-Moll op. 22 (1830–1838). Schumann schreibt als Spielanweisung vor: »So rasch wie möglich.«

Der Beginn von Robert Schumanns Klaviersonate g-Moll op. 22

Das heißt noch nicht einmal (nur): »Spiele das, so schnell wie du persönlich es vermagst.« Es heißt: »Spiele das mit einem phantastischen Gefühl des Rauschens, des Berauscht-Seins.« Denn auch Martha Argerich könnte das in der oben verlinkten Aufnahme schneller spielen. Und zwar so schnell, wie es ihr gerade noch möglich ist – und das wäre wirklich, wirklich sehr schnell. Das ist aber sicher nicht gewünscht – und in irgendeinem Sinne schön wäre es auch nicht. Nein, wie gesagt: Es ist ein Gefühl. Aber natürlich kommen immer mal wieder Schlaumeier daher und unterstellen Komponistinnen und Komponisten Irrationalität, versuchen sich wohl heimlich, über Schöpferin oder Schöpfer zu stellen. Anstatt zu kapieren, was hier eigentlich Schönes versucht werden soll. Zumal Schumann kurz vor Schluss des ersten Satzes der g-Moll-Sonate noch einen draufsetzt …

Und ein paar Takte später noch einen …

Keine »falsche« Stelle also! Sondern einfach phantastischer Schumann!

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Der Beginn von Schuberts Unvollendeter. Rhythmisch »falsch« gespielt von der Academy of St Martin in the Fields unter Neville Marriner (1984).

Ein wenig anders verhält es sich mit dem Beginn von Schuberts Unvollendeter, deren Anfang fast immer – und das ist auch gut so! – in dem »gefühlten Rhythmus« der jeweiligen dirigierenden und im Orchester sich befindlichen Menschen gespielt wird. Das hat sicher auch etwas mit Phrasen, Perioden und individuellen Spannungsbögen zu tun, aber: Tatsächlich wird der Beginn von Schuberts h-Moll-Symphonie selten rhythmisch exakt präsentiert. Hier (oben) die Originalstimme der Celli und Bässe sowie (unten) die von mir extra notierte »Version«, wie sie – rhythmisch »falsch« – beispielsweise von der Academy of St Martin in the Fields unter Neville Marriner 1984 intoniert wurde (siehe Video oben).

Der Beginn von Schuberts Unvollendeter: »korrekt« (oben) – und so, wie Neville Marriner das dirigiert hat (unten). Hass-Zuschriften diesbezüglich bitte an eure Mutter.

Nr. 3: Kontra Fagott? Zu Peter Tschaikowskys Pathétique

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Bassklarinette statt vorgeschriebenem Fagott: Der Übergang zur »Schock-Stelle« im ersten Satz von Tschaikowskys Pathétique (bei Minute 9.26).

Diese – fast immer »falsch« dargebrachte – Stelle ist nur mini. Aber es wäre gleichsam »Mimimimi«, zu sagen, dass ja noch niemand darüber nachgedacht hätte, warum im ersten Satz von Peter Tschaikowskys sechster Symphonie (der Pathétique) die letzten Töne kurz vor dem Allegro-vivo-Einbruch immer von einer Bassklarinette – nicht, wie vom Komponisten eigentlich vorgesehen, vom Fagott – geblasen werden.

Partiturausschnitt aus dem ersten Satz der sechsten Symphonie von Peter Tschaikowsky, kurz vor Allegro vivo

Immer wieder habe ich in den letzten zehn Jahren Dirigentinnen und Dirigenten nach dem »Warum?« gefragt – und bisher immer ein »Ja, hat sich halt so eingebürgert!« zurückbekommen. Deshalb habe ich jetzt die Tschaikowsky-Expertin Lucinde Braun zu Rate gezogen. Frau Dr. Braun schreibt mir: »Die Ersetzung des Fagotts durch die Bassklarinette im ersten Satz hat aufführungspraktische (spieltechnisch-klangliche) Gründe. Ich kann Ihnen leider nicht sagen, wer diese Änderung eingeführt hat und wie weit sie verbreitet ist. Dass Tschaikowsky das nicht selbst getan hat, hängt mit einem für ihn noch gültigen klassischen Gattungs- und Besetzungskonzept zusammen. Die Bassklarinette wurde traditionell immer noch dem Bereich Oper, Ballett und Programmmusik zugewiesen, fungierte also als ›Sonderinstrument‹, das in der klassischen Symphonie keinen Platz hat. Dies änderte sich erst in der nächsten Komponistengeneration. Glasunow etwa schrieb die Bassklarinette erstmals in seiner 1895 komponierten fünften Symphonie vor.« Mit den »spieltechnischen Gründen« ist gemeint, dass eine Bassklarinette etwas leichter die radikale Dynamik, die Tschaikowsky hier – das Ganze atmosphärisch vermitteln wollend – verlangt, umsetzen kann. Einiges von dem Schockeffekt des anschließenden Tuttis ginge eventuell – bei einem weniger leisen Fagott – sonst verloren. Die Tschaikowsky-Forschung möge die Frage nach dem »Seid wann/wem wird das so gemacht?« aufklären! (Ich könnte mir vorstellen: spätestens seit Mrawinski).


Nr. 2: »Sah kein Knab’ den Waldvogel singen!« Richard Wagner und eine Besetzungsfrage im Siegfried

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Eigentlich soll das Waldvögelchen (wie hier) von einem Knaben gesungen werden. Und ganz ehrlich: Das ist wunderschön!

Wagner-Fans lieben die Stelle im Ring des Nibelungen, exakter: gen Ende vom Siegfried, an der dem Titelhelden das Waldvögelein erscheint: wunderschöne Motivik, Heiterkeit, Hoffnung, Vorbotin einer baldigen – aber wie unschuldig funkelnden – Erotik (Stichwort: Brünnhilde). Die Waldvogel-Partie wird immer von schlankstimmigen Sopranistinnen gesungen, doch ursprünglich hatte Wagner dafür eine Knabenstimme vorgesehen.

Beginn des Waldvogel-Parts in Richard Wagners Siegfried

Was sind wohl die Gründe dafür, dass die Partie fast nie von einem Knaben gesungen wird? Ist es beispielsweise die Erotik der ganzen Partie? In der – ansonsten komplett missglückten – aktuellen Bayreuther Ring-Inszenierung wird der Waldvogel als konkrete »Hinleiterin« in Sachen Körperlichkeit/körperliche Vereinigung ins bewegte Bild gesetzt; im Rahmen der vielleicht besten Inszenierungsmomente dieses ganzen Unglücks hinein. Der Waldvogel als sexuelle Erst-Erweckerin Siegfrieds. Da wäre ein minderjähriger Knabe freilich komplett unangemessen. Wagner-Experte Ulrich Konrad schreibt mir dazu: »Ohne nun in die Untiefen der Wagner-Überlieferung eintauchen zu können, vermag ich doch aus dem Stand so viel zu sagen, dass Wagner die Überlegung, die Partie des Waldvogels von einem Knaben ausführen zu lassen, schon sehr früh fallengelassen hat. Eine eigentliche Dokumentation zu dieser Frage gibt es meines Wissens aber nicht. In den Briefen ist davon ebenso wenig die Rede wie in den Tagebüchern Cosimas. Vermutlich hat Wagner, der ja ein eminenter Praktiker war, rasch eingesehen, dass er kaum einen Knaben finden würde, der die geforderten sängerischen Ansprüche hätte erfüllen können, bedurfte es doch schon einiger Suche, um eine passende Sängerin zu finden (nicht allein wegen der Stimme, sondern auch wegen des Aussehens). Vor diesem Hintergrund gibt es auch keinen Anlass zur Frage, warum die Partie nie von einem Knaben gesungen wird, weil sie eben am Ende nicht für eine Kinderstimme geschrieben wurde. Sie dennoch einmal in einer solchen Ausführung zu hören, könnte zwar reizvoll sein, doch den Deutungshorizont der Stelle im Siegfried würde dies meiner Meinung nach nicht erweitern. Wagners Opern und Dramen dem Klangbild der Entstehungszeit anzunähern, finde ich grundsätzlich erhellend. Die größte Herausforderung besteht aber darin, die von Wagner intendierten und zum Teil gut belegten Tempovorstellungen zu realisieren, weil die gewünschten Zeitmaße manche Stücke für heutige Hörer ganz anders erscheinen lassen würden, namentlich die ›zerdehnten‹ Partituren wie Tristan, Meistersinger oder Parsifal. Wagner wollte beispielsweise das Vorspiel zu den Meistersingern flott und leicht haben – und es ist sehr gut dokumentiert, wie kurz das Stück unter seinem Dirigat dauerte. Roger Norrington ist, soweit ich sehe, der einzige Dirigent, der einige Ouvertüren in Originaltempi aufgenommen hat. Und der Parsifal unter Leitung von Pierre Boulez war für mich eine Offenbarung.«

Volker Mertens, Autor des Buches Wagner. Der Ring des Nibelungen, ergänzt: »Eine interessante Sache. Sie haben recht, Wagner wollte einen Knaben, konnte 1876 aber wohl keinen finden. Es gab mehrere Produktionen mit einem Knaben: Stefan Herheim an der Deutschen Oper Berlin, dort mit einem Solisten des Knabenchores der Chorakademie Dortmund. 2011 gab es in Frankfurt einen Tänzer und eine Sängerin hinter der Bühne. Außerdem existiert eine DVD mit Hartmut Haenchen von 1999 und eine CD aus Amsterdam von 2004/2005, beide mit einem Tölzer Knaben. Die Erotik ist also nicht von Wagner, er wollte den Kontrast wie im Tannhäuser

Nr. 1: Patschende Akkorde oder elegante Arpeggien? Der Beginn von Tschaikowskys erstem Klavierkonzert

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So brav! Kirill Gerstein mit den Arpeggien bei Tschaikowsky 1!

Schlussendlich muss natürlich das wohl bekannteste »Falsch«-Beispiel der gesamten Klassikliteratur überhaupt feierlich gewürdigt werden! »Mit Ihrer anderen Frage zu Tschaikowsky stechen Sie mitten in ein Wespennest!«, schreibt besagte Tschaikowsky-Expertin Lucinde Braun. Denn natürlich fragte ich auch nach dem Beginn des ersten Tschaikowsky-Klavierkonzerts: die gewohnten Akkorde – oder die Arpeggien, die interpretenseitig erst Kirill Gerstein in den Aufmerksamkeitsfokus perlte.

Der im Klavier (arpeggierte) Beginn von Peter Tschaikowskys Klavierkonzert b-Moll

Ausführlich und leidenschaftlich notiert Lucinde Braun: »Dass die Klavierakkorde in der Introduktion zum ersten Klavierkonzert in der sogenannten Urfassung des Werks arpeggiert waren, haben die editorischen Bemühungen von Polina Vajdman wieder ins allgemeine Bewusstsein gerückt. Es ist eine wichtige Erkenntnis, dass das Konzert anfangs in dieser Form gespielt wurde. Tschaikowsky hat das Konzert allerdings mehrfach selbst revidiert. In der neuen kritischen Gesamtausgabe hat man das Werk 2015 in zwei Fassungen publiziert: der Urfassung von 1875 und der revidierten zweiten Fassung von 1879, in der der Komponist auf Anregung von Interpreten den Solopart überarbeitet hat – auch hier gibt es aber noch die Arpeggien. Ein heftig umstrittenes Thema betrifft die dritte Fassung des Werks, deren Markenzeichen die nicht-arpeggierten, monumentalen Klavierakkorde in der Introduktion sind – die Fassung, die bis vor kurzem allgemein bekannt war und gespielt wurde. Tschaikowsky hat an dieser Revision 1888 bis ins Frühjahr 1889 hinein intensiv gearbeitet. Dies belegt seine umfassend dokumentierte Korrespondenz mit dem Pianisten Alexander Siloti und den Verlegern Peter Jürgenson (Moskau) und Daniel Rahter (Hamburg). Das entscheidende Ziel dieser Revision war, die vielen Druckfehler der früheren Ausgaben in den Orchesterstimmen zu eliminieren, denn der Komponist hatte inzwischen selbst zum Dirigentenstab gegriffen und war immer wieder mit den Fehlern konfrontiert worden. Siloti schlug außerdem die Kürzung und Überarbeitung einzelner Stellen vor, was Tschaikowsky mit ihm diskutierte, wozu es auch originale Skizzen im Autograph des Komponisten gibt. Die Streichung der Arpeggien taucht als Thema in der Korrespondenz leider nicht auf, sodass wir hierzu keine explizite Meinung des Komponisten vorliegen haben.

Die Fassung unter dem Titel Neue, vom Componisten revidirte Ausgabe wurde 1889 in den Signalen für die musikalische Welt annonciert. Vajdman bestreitet jedoch, dass die Fassung tatsächlich im Druck erschienen ist. Sie vertrat die von der heutigen russischen Tschaikowsky-Forschung übernommene Auffassung, dass diese dritte Fassung von Tschaikowsky nicht autorisiert wurde, obwohl er selbst sie angeregt und mit bearbeitet hatte. Ihrer Meinung nach gibt es von dem Werk keine Drucke, die eindeutig vor 1893 datierbar sind. Die Fassung, so ihre Meinung, erschien erst posthum und wurde von Siloti fälschlich als Tschaikowskys Version ausgegeben.

Ich teile diese Meinung nicht. Alle externen Evidenzen sprechen dafür, dass Tschaikowsky diese Revision wollte und nie ein Veto dagegen ausgesprochen hat. Leider hat es bisher noch keine echte Debatte zu dieser interessanten Frage gegeben. Ich hoffe, dass es mir in Zukunft noch gelingen wird, hierzu eine Podiumsdiskussion oder Ähnliches zu organisieren. Denn ich habe inzwischen auch eine Edition gefunden, die vor 1893 erschienen sein muss. Grundsätzlich fehlt mir auch noch eine genaue Dokumentation der Druckfehlerkorrektur, die 1888–89 durchgeführt wurde. Meine Meinung zu den Arpeggien ist, dass dieser interpretatorische Aspekt für Tschaikowsky möglicherweise keine so entscheidende Rolle gespielt hat, so dass er hier die mutmaßlich von Siloti eingeführte Änderung hat durchgehen lassen. Ansonsten hat diese dritte Fassung keine Unterschiede zur zweiten. Und es hat dann auch noch weitere Ausgaben des mit dem Untertitel 4. oder sogar 6. édition corrigée gegeben. Kurz und knapp: Aus meiner Sicht gibt es zwei gleichermaßen vom Komponisten autorisierte Versionen der Klavierakkorde. Man kann und sollte sie beide spielen. Unpassend wäre es nur, die nicht arpeggierten Akkorde mit der Urfassung von 1875 zu kombinieren und so eine Mischfassung herzustellen.«

Die Frage, was jetzt »falsch« und was »richtig« ist, ist also auch in der »Klassik« nicht so ganz einfach … ¶


[Ich danke allen, die an diesem Artikel mitgewirkt haben, insbesondere Renate Stark-Voit, Lucinde Braun, Volker Mertens und Ulrich Konrad sowie dem Organisten Stephan Kreutz und vielen anderen Kolleginnen und Kollegen aus meiner Social-Media-Community.]


... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.