Vor einigen Jahren durchforstete die US-amerikanische Komponistin Ashley Fure die Archive des Darmstädter Musikinstituts, um das Geschlechterverhältnis bei den im Rahmen der Ferienkurse aufgeführten Kompositionen zu untersuchen. Das Ergebnis: In den sieben Jahrzehnten zwischen 1946 und 2014 stammte von insgesamt 4409 aufgeführten Stücken nicht einmal jedes zehnte von einer Frau. (Juana Zimmermann wies in VAN allerdings darauf hin, dass es unter den Kursteilnehmer:innen wesentlich mehr einflussreiche Frauen gab).

Ganz besonders finster sah es in Darmstadt in den Fünfziger und Sechziger Jahren aus: In den zwei Jahrzehnten standen 1174 Werke auf dem Programm, davon aber nur 8 von Komponistinnen. In zehn Jahrgängen wurde dabei überhaupt kein Stück einer Komponistin gespielt.

Jetzt widmen die Philharmoniker den Fünfziger und Sechziger Jahren ihre Biennale. Eine in politischer und sozialer Hinsicht »bleierne Zeit«, künstlerisch aber »eine faszinierende Epoche, deren experimentierfreudige Konzepte Sie nun neu entdecken können«, wie es im Programmflyer heißt. Frauen, so scheint es, haben zu dieser Epoche, und auch allen früheren und späteren, leider keine Experimente beigetragen: Ausgehend vom Werk György Ligetis, dessen Geburtstag sich am 28. Mai zum hundertsten Male jährt, stehen in fast 30 Symphoniekonzerten, Kammermusikformaten, Meisterklassen, Gesprächskonzerten und Late Nights zwar über 50 Werke auf den Programmen, diese stammen jedoch ausschließlich von Komponisten – von Bach bis Kurtág, insgesamt 28 an der Zahl.

Es wirkt, als wolle man in einer Art Reenactment die Fünfziger und Sechziger auch programmatisch möglichst realitätsgetreu nachstellen. Das ist vor allem deshalb schade, weil eine Biennale eigentlich die Chance böte, aus kuratorischen Automatismen auszubrechen. Unter dem Scheinwerfer eines »Festivals« könnte die Musik, die in der Musikgeschichte zu oft und zu Unrecht am Rand steht, ausgegrenzt wurde oder unter den Tisch gefallen ist, vom Schatten ins Licht gerückt werden. Der Kulturleuchtturm Berliner Philharmoniker würde sie dort besonders hell zum Leuchten bringen. Stattdessen finden sich im Biennale-Programm lauter altbekannte und vielgespielte Orchesterwerke des 20. Jahrhunderts, die allein in Berlin fast monatlich zu hören sind: Debussys La Mer, Ligetis Lontano oder Lutoslawskis Konzert für Orchester.

Ob Intendantin, Chefdirigent und Orchestervorstand der Philharmoniker bei der Programmplanung einfach ›vergessen‹ haben, dass auch Frauen komponieren? Anruf beim Orchester. Dort gibt sich die Pressesprecherin etwas zerknirscht. Was Komponistinnen im Programm angeht, gäbe es insgesamt Luft nach oben, das wisse man. (In der gesamten Saison finden sich in den Programmen der Abokonzerte der Philharmoniker tatsächlich nur drei Werke von Komponistinnen, hinzu kommen zwei weitere bei den Akademiekonzerten und drei im Bereich Kammermusik.) Aber schon Ligeti sorge nicht gerade für ein volles Haus. »Der Kartenverkauf ist seit Corona schwieriger geworden, das Publikum wird konservativer, da fragen wir uns: Trauen wir uns das jetzt?«

Was für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ›die Quote‹, ist für die öffentlich finanzierten Orchester und Opernhäuser ›die Auslastung‹. Hier wie da könnte man fragen, ob nicht mit der öffentlichen Finanzierung auch der Auftrag einhergeht, Programme nicht nur nach ›Marktkriterien‹ zu gestalten. 

Allerdings sind sowohl Quote als auch Auslastung mittlerweile zu einer Art Selbstzweck geworden. Mit Ablauf der Spielzeit werden alljährlich Pressemitteilungen verschickt, in denen sich Intendant:innen stolz mit Zahlen schmücken, die klingen wie nordkoreanische Wahlergebnisse. Diese Fixierung wird verstärkt von einer Kulturpolitik, die den Erfolg eines Hauses selbst zu oft nur nach Zahlen bemisst.

Bei den Philharmonikern liegt die Auslastung derzeit nach eigenen Angaben bei 88 Prozent, »runter von 91 in 2019, sie war mal bei 97 Prozent«, so die Pressesprecherin des Orchesters. Immer noch hoch genug, um sich ein bisschen mehr Mut leisten zu können. Wenn es ein Orchester in Deutschland gibt, dass sich keine Sorgen vor dauerhaft wegbleibenden Besucher:innen machen muss, dann doch eigentlich die Berliner Philharmoniker.

Und wäre wirklich etwas verloren, wenn die Auslastung etwas sinkt, dafür aber die Spannung steigt und das Publikum zudem diverser würde? Dabei geht es nicht nur um Komponistinnen: Im September führten die Philharmoniker und Kirill Petrenko zum Beispiel Luigi Dallapiccolas Kurzoper Il prigioniero konzertant auf, ein Werk, das fast nie irgendwo zu hören ist, zusammen mit Stücken von Iannis Xenakis und Bernd Alois Zimmermann. Der Saal war ziemlich voll. »Das Publikum war jünger als sonst«, so die Philharmoniker-Pressesprecherin, aber man müsse sich da auch mehr anstrengen, den Saal voll zu kriegen. Eine Anstrengung, die sich in jeder Hinsicht gelohnt hat.

Auf die größere Anstrengung verweisen die Philharmoniker auch an anderer Stelle: Schwerpunkt der Biennale sei das Werk von Ligeti, es habe sich dann relativ spät das Thema der Fünfziger und Sechziger Jahre herausgeschält. Bedeutende Vertreterinnen mit einem thematischen Bezug zu finden, sei schwierig gewesen. »Alle anderen Werke habe inhaltlich einen Zusammenhang, auf den Ligeti sich beruft.«

Gut möglich, dass sich Ligeti im Laufe seines 83-jährigen Lebens irgendwann einmal auf die 27 anderen Komponisten bezogen hat, deren Werke bei der Biennale zu hören sein werden. In der westlichen, »klassischen« Musikgeschichte lässt sich zwischen zwei beliebigen Punkten immer irgendein Bezug konstruieren, und sei es nur als Kontrapunkt. Wenn die Philharmoniker dann aber auf die Nachfrage, welche Verbindung denn zwischen Ligeti und zum Beispiel Barber oder Dutilleux besteht, allein auf deren Zeitgenossenschaft verweisen, wird klar, dass es auch mit den inhaltlichen Bezügen als Ausschlusskriterium nicht weit her ist.

Oder halten es die Berliner Philharmoniker insgeheim wie ihr Wiener Pendant bei der Auswahl von Dirigenten fürs Neujahrskonzert? »Ein Werk einer Komponistin muss sich erst mal zehn Jahre bewähren, bevor wir es aufs Programm setzen.« Mit diesem Argument ließe sich eine rein männliche Musikgeschichtsschreibung bis in alle Ewigkeit fortsetzen. Wenn stets das Etablierte handlungsleitend ist, verharrt man für immer im Stillstand. 

Als potentialorientiertes Servicemagazin sind wir aber überzeugt, dass die Berliner Philharmoniker entdeckungsfreudiger sind als ihre österreichischen Kolleg:innen, und präsentieren hier sieben Stücke von Komponistinnen, bei denen die Ligeti-Bezüge auf der Hand liegen. Corona hat ja gezeigt, dass auch kurzfristige Programmänderungen durchaus möglich sind … 


Unsuk Chin

YouTube video

Wer einen heutigen Blick auf Ligeti werfen möchte, kommt kaum an seiner berühmtesten Schülerin Unsuk Chin vorbei. Die Komponistin studierte von 1985–88 bei ihm in Hamburg. Die Beeinflussung durch ihren ehemaligen Mentor kann man ihrem Stil häufig anhören. Jenen beschreibt sie selbst mit den Worten: »Wenn ich meine Musik beschreiben müsste, könnte ich vielleicht sagen, dass ich ein besonderes Faible habe für das Illusionäre, für das Phantastische und das Virtuose.« Das Zitat ist neben all den anderen Bezügen doch eine echte Steilvorlage, um ihre Musik bei einer groß angelegten Biennale einzuplanen, oder? Und es macht sich gut in einem Programmheft. An Unsuk Chins Werk Su hätte Ligeti sicherlich seine wahre Freude gehabt.

Was sie darüber hinaus als Vertreterin bei einer derartigen Biennale unverzichtbar macht, ist ihre einsame Präsenz als Frau im Studio für elektronische Musik des WDR, dem auch Ligeti einst einen viel rezipierten Besuch abstattete. An dem männerdominierten Ort waren bis zu seiner Schließung Ende 2000 ihre Kollegin Younghi Pagh-Paan und sie die einzigen Frauen weit und breit. 


Judit Varga

YouTube video

Die Komponistin Judit Varga drängt sich nicht nur wegen ihrer Biografie auf: Die österreich-ungarische Pianistin und Komponistin schreibt Werke für Chöre, Orchester und Kammermusikformationen; für den Konzertsaal und (ausgesprochen erfolgreich) für die Leinwand – im Gegensatz zu Ligeti, dessen Musik erst im Nachhinein von Kubrick cinematisiert wurde, aber mittlerweile symbolisch für den elaborierten Soundtrack steht. Ihre Werke sind hörbar von Ligeti beeinflusst – beginnen oft mit einer sich auffächernden Klangfläche, auf der dann bestimmte Details, die gelegentlich auch eine folkloristische Weite atmen oder von pulsierenden Rhythmen geprägt sind, präsentiert werden. Das Werk Schlummert ein… ist ein Auftragswerk, das anlässlich des Jahrestags des Ausbruch des Zweiten Weltkriegs entstand. Und Ligetis Requiem scheint – obgleich Vargas beim besten Willen keine Kopie vorlegt – stets matt durch das Stück hindurch zu leuchten.


Kaija Saariaho

YouTube video

Wenn das keine Reminiszenz an das Ligeti-Violinkonzert ist: Die schillernde Eröffnung auf den leeren Saiten, die ein verlockend-jenseitiges Obertongebäude entfalten, ist seit dem Jahr 1992 klar mit dem musikalischen Idiom des ungarischen Komponisten verbunden. Und auch andere Werke von Saariaho machen ihre Verbindung zu Ligeti deutlich: Die von ihr polyphon anmutend aus unüberschaubar vielen Einzelstimmen gewebten Texturen erinnern an Ligetis Satztechnik – das ferne Lontano scheint bei der finnischen Komponistin oft ganz nah zu sein. Wie auch der hundertjährige Jubilar verschiebt Saariaho in ihren Werken wahre Klangmassen, bewahrt aber stets eine enorme Transparenz und zeigt so innerhalb des luziden Geflechts eine Vielzahl musikalischer Details.


Jennifer Walshe

YouTube video

Jenseits von allem Sphärischem, aller Transzendenz, ist Ligeti auch ein Comedy-Könner. Seien es schräge Fanfaren, die groteske Oper Le Grand Macabre, oder Lotusflöten, die in seinem Violinkonzert traumatische Erinnerungen an weihnachtliches Blockflötenspiel der 5c (mit einer Klassenstärke von dreißig überwiegend unmusikalischen Kindern) wieder aufleben lassen – die Pointe sitzt. Skurrilen und surrealen Humor zu komponieren ist ein Drahtseilakt, den Ligeti als einer der ganz wenigen zu meistern vermag. Doch selbstverständlich gibt es auch in der Männerdomäne der Albernheit (die heute gern mit einer guten Prise Trash gewürzt sein will) Komponistinnen, die Szenen komponieren und performen, auf die Ligeti neidisch gewesen wäre. Die Queen des musikalischen Humors ist ohne Zweifel die irische Komponistin Jennifer Walshe, die sicher eine großartige groteske Mini-Oper für die Biennale komponiert hätte.


Catherine Lamb

YouTube video

Das Transzendieren des mathematisch konzipierten Proportionskanons ist eines der Markenzeichen Ligetis. Eine junge Komponistin, die an derlei ästhetische Ansätze andockt, ist Catherine Lamb. Ihr Werk String Quartet No.1 sollte man im Idealfall live hören: Das Aufbringen von Geduld für die langsame Entfaltung der feinen Klangunterschiede ist hier Pflicht! (Wer weniger Geduld mitbringt: Lamb hat auch kürzere Stücke geschrieben, die eher etwas für die Youtube-Session zwischendurch sind.) Wie auch Ligeti in einigen seiner Stücke, legt Lamb ihren Fokus auf das Entwickeln eines neuen Konzeptes von Harmonik: Der Zusammenklang entsteht bei ihr durch die Gleichzeitigkeit auseinanderstrebender Linien, die poetisch-sphärische Klangflächen erschaffen. In ihrem ersten Streichquartett komponiert sie eine Art mikrotonalen Johanneshymnus, in dem sich die Musik langsam aber persistent ihren Tonraum Schritt für Schritt erkämpft und dabei faszinierende Schwebungen entstehen lässt.


Hildegard von Bingen

YouTube video

Wo wir schon bei der Mathematik sind: Pozzi Escot ist Komponistin und Professorin. Spezialgebiet: Hildegard von Bingen. In ihrer Musik hat Escot fein abgestimmte Symmetrien und Entsprechungen zu geometrischen Konstrukten entdeckt. Ihre Entdeckungen stellt sie in dem Aufsatz The Poetics of Mathematics in Music vor. Und hier beweist sie, dass sich bei Ligetis Musik genau dieselben geometrischen Proportionierungen wie bei seiner mittelalterlich-multitalentierten Kompositionsgenossin feststellen lassen. Hildegard von Bingen wird außerdem durch Ligetis musikalische Blicke in Richtung Mittelalter zur Pflicht-Besetzung. Und mal ganz im Ernst: eine Kombination von Hildegard von Bingens O gloriosissimi lux und György Ligetis Lux Aeterna ist keine schlechte Idee!


Gladys Nordenstrom Krenek

YouTube video

Auch Zeitgenossinnen Ligetis böten sich für das Biennale-Programm an, so zum Beispiel die im Jahr 1924 geborene Gladys Nordenstrom Krenek. Der Musikkritiker Martin Bernheimer trifft mit seiner Charakterisierung den Nagel auf den Kopf: »big, splashy, well-crafted« (Los Angeles Times, 15. Dezember 1985). Zwar bezieht sich Bernheimer hier auf ihr Werk Elegy, doch könnten die Adjektive ebenso für Nordenstroms El Greco Fantasie (1966) stehen – ein Werk, das stets unterhaltsam und schwungvoll experimentelle Klangräume und körperliche Gesten kontrastreich verbindet. Das Stück überzeugte bereits bei der Uraufführung: Der Kritiker Gerhard Koch war in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 11. Oktober 1966 der Meinung, mit ihm »das kühnste und fesselndste Werk des Abends« gehört zu haben. ¶

… ist Musiktheoretikerin und Musikjournalistin. Sie hat Lehraufträge an verschiedenen Universitäten und Hochschulen inne und promoviert zurzeit an der HMT Rostock.

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com