Dr. Renate Stark-Voit, Vizepräsidentin der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft Wien und Co-Editionsleiterin der Neuen Kritischen Gesamtausgabe, beantwortet die Frage zu den heißesten News über Mahler.

VAN: Was ist das größte ungelöste Mahler-Rätsel?

Renate Stark-Voit: Die Frage ist eher: Wann war dieser Mann je mit einer Fassung seiner Werke zufrieden? Wie wollte er, dass die Musiker spielen? Wie wollte er interpretiert werden? Wie würde das klingen, wenn er heute seine eigenen Werke dirigieren würde? Dieses Problem besteht natürlich bei anderen Komponisten auch, aber bei Mahler ist es extrem. Mit seinem Tod 1911 gab es einfach einen Einschnitt. Er hätte nie aufgehört zu redigieren! Wenn Mahler noch dreißig Jahre gelebt hätte, wären noch ganz andere Fassungen seiner Sinfonien entstanden.

An welchem Werk hätte Mahler besonders intensiv weiter gearbeitet?

Ich spreche da aus eigener Erfahrung. Ich habe seine Sinfonie No. 2 ediert. Diese 1895 uraufgeführte Sinfonie konnte bei Mahlers Tod ja bereits eine sechzehnjährige Interpretationsgeschichte aufweisen. Mahler dirigiert Mahler, Mahler korrigiert Mahler, Mahler verfeinert Mahler. Jetzt sitze ich gerade an der Sinfonie No. 4. Und obwohl diese Sinfonie, 1901 uraufgeführt, bei Mahlers Tod »nur« zehn Jahre von ihm immer wieder dirigiert worden war, ist auch hier die Herausforderung sehr groß. Ich habe dazu den gesamten Briefwechsel von Mahler und seinen Verlegern vorliegen. Der Universal Edition schickte er im Sommer 1910, also weniger als einem Jahr vor seinem Tod, eine Fassung der Vierten, von der er sagte: »Ihr dürft nur diese Fassung, die ich gerade in New York dirigiert habe, drucken, sonst nichts!« Und genau diese Fassung ist nicht mehr beim Verlag angekommen, sondern bis Ende der 1920er Jahre bei seiner Frau Alma liegen geblieben. Erst dann konnte man mit dieser Fassung arbeiten. Es kamen später auch noch andere Quellen hinzu, mit denen ich dann zu tun hatte. Man muss diese Formulierung »Fassung aus letzter Hand« immer unter dem Gesichtspunkt sehen, dass er gestorben ist. »Aus letzter Hand« heißt keineswegs, dass er damit zufrieden war.

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Was ist gerade die Haupt-Forschungsfrage in Sachen Mahler?

Es gibt zum Beispiel Forscher, die sagen: »Die fünfsätzige Fassung von Mahlers Sinfonie No. 1 ist viel toller als die letztlich 1899 gedruckte Fassung!« Und: »Nein, Das klagende Lied natürlich nur in drei Sätzen!« Also nicht in der von Mahler 1898 revidierten, zweisätzigen Fassung. Denn, im Klagenden Lied sei der »Brudermord« am Schluss noch auskomponiert und später hätte Mahler den verdrängt und so weiter… Ich gehöre nicht zu denjenigen, die Frühfassungen favorisieren. Mit einer einzigen Ausnahme: dem Lied Das himmlische Leben. Dieses ließ Mahler nicht mit den anderen Wunderhorn-Liedern zusammen drucken. Denn das Lied hatte er ursprünglich als Grundlage für den Finalsatz seiner dritten Sinfonie auserkoren, bevor er sich dann dafür entschied, die ganze vierte Sinfonie im Hinblick auf das Lied als Finalsatz zu entwerfen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Das himmlische Leben dann für Mahler keinen Anspruch mehr auf den Rang eines eigenständigen Liedes. Natürlich frage ich mich: »War das in Ordnung von mir, das Lied 1992 erstmals zu veröffentlichen?« Mahler selbst hat es allerdings auch einzeln aufführen lassen. Trotzdem habe ich meine Zweifel, bin aber auch froh, dass man das Lied in die Welt tragen konnte. Viele Leute haben es inzwischen aufgeführt, darunter auch viele Männer. Es ist ja tatsächlich ein geschlechtsneutrales Lied. Denn es ist oft noch witziger, wenn Männer das singen, dann kommt der Hintersinn dieses Textes vom »himmlischen Paradies-Schlaraffenland« noch besser zur Geltung. Denn ansonsten hört man das Ganze zu sehr durch die Brille der vierten Sinfonie, in der ja eine Sängerin diese Worte singt. Mit Thomas Hampson haben wir da lustige Experimente gemacht. Wenn man das nämlich für einen Bariton nach unten, nach F-Dur, transponiert, dann es ist noch witziger als in G-Dur.

Gustav Mahler Das himmlische Leben. Thomas Hampson (Bariton), Wiener Virtuosen (Deutsche Grammophon, 2010) • Link zur Aufnahme

Was halten Sie von den Versuchen, die Skizzen von Mahlers Sinfonie No. 10 zu verwenden, um – wie in jüngster Zeit Yoel Gamzou [Interview in VAN] – eine Konzertfassung von Mahlers letzter, nicht mehr vollendeter Sinfonie zu erstellen?

Ich bin, ehrlich gesagt, kein Fan von Ergänzungen und Rekonstruktionen. Ich habe mich da immer zurückgehalten, auch, was die Rekonstruktion von Deryck Cooke angeht. Wir sind von der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft eigentlich nicht dafür, dass man diese Fertigstellungen verbreitet. Es gibt genug ungelöste Rätsel bei Mahler, als dass man sich auf die unfertigen Sachen stürzen sollte. Das hat am Schluss doch eher mit einem PR-Effekt und nicht viel mit Mahler zu tun. Das mag nicht die Mainstream-Meinung sein, aber wir kümmern uns eben um die Sachen, die Mahler »fertig« hinterlassen hat und lassen die unfertig gebliebenen Sachen in Ruhe.

Sie rechnen aber nicht damit, dass irgendwann in der Mahler-Forschung noch eine Bombe platzt?

Doch! Andauernd! Sie glauben gar nicht, was für Schätze noch überall schlummern! Bei vielen Auktionen von Stargardt oder Sotheby’s tauchen plötzlich aus irgendeiner Ecke interessante Dinge auf. Zum Beispiel aus dem Nachlass von Mahlers langjähriger Vertrauter Natalie Bauer-Lechner. Und jetzt gerade befinden wir uns vor einer immens wichtigen Versteigerung. Das Autograph »meiner« zweiten Mahler-Sinfonie, die ich zehn Jahre lang editorisch begleiten durfte, wird jetzt versteigert. Ich kenne das fünfteilige Manuskript sehr gut. Am 29. November wird dieses Autograph bei Sotheby’s in London, wahrscheinlich für einen Millionenbetrag, versteigert. [Sotheby’s rechnet mit einem Verkaufspreis von über 3,5 Millionen Pfund. Artikel über die Versteigerung in der englischen Ausgabe von VAN, d. Red.] Man weiß nicht, wo das landen wird. Das wird sich wohl keine Bibliothek leisten können. Übrigens wollen wir bald sämtliche auf der Welt verstreuten Mahler-Quellen zusammentragen und digital verfügbar machen. Das ist ein großes Projekt, über das ich aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht mehr verraten darf. Es kann dabei weiterhin jederzeit eine neue Werkfassung oder sogar zum Beispiel ein ganz neues Lied von Mahler auftauchen. Vor vielen Jahren passierte es einmal in Graz, wo ich damals studierte, dass meinem Theorielehrer Gösta Neuwirth von seinen Studenten eine verdächtige Partitur von Mahlers Sinfonie No. 4 vorgelegt wurde. Als er die Partitur anschaute, sagte Neuwirth: »Ich glaube sehr wohl, dass euch das verdächtig vorkommt. Die in dieser Partitur mit roter Tinte eingetragenen Bemerkungen stammen nämlich von Mahler persönlich!« ¶

Eine Seite aus dem Manuskript von Mahlers 2. Sinfonie, 5. Satz, das am 29. November bei Sotheby’s in London versteigert wird. © SOTHEBY’S
Eine Seite aus dem Manuskript von Mahlers 2. Sinfonie, 5. Satz, das am 29. November bei Sotheby’s in London versteigert wird. © SOTHEBY’S

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.