Am 30. Mai 1723, dem 1. Sonntag nach Trinitatis, trat Johann Sebastian Bach mit der Aufführung der Kantate Die Elenden sollen essen BWV 75 das Leipziger Thomaskantorat an. Aus der Rückschau betrachtet, war dies eine zwingende Fügung – und vom Ende her betrachtet zugleich eine der großen musikgeschichtlichen Zäsuren, mindestens im Bereich der Kirchenmusik. Doch auch wenn wir dieses Amt heute ganz natürlich mit dem Namen Johann Sebastian Bach in Verbindung bringen, war es alles andere als ein Automatismus, dass er letztlich das Thomaskantorat übernahm. Im Gegenteil, die Leipziger hatten zunächst ganz andere Pläne.
»Was er [Johann Kuhnau] nächstdem an Musicalischen Kirchen-Stücken … seit anno 1701, da er Cantor und Director Musices worden, componiret habe, mag wohl schwerlich zu zählen seyn, gestalt er bey seinen häuffigen musicalischen Aufführungen sich fremder Composition niemahls oder doch gar selten bediente; da hingegen mit seiner Arbeit er andern vielfältig aushelffen müssen … Solchem nach wird er um so viel mehr vermisset, je schwerer es fällt, einen würdigen Nachfolger auszufinden und zu erlangen«
Mit diesen berührenden Worten beendet ein Leipziger Stadtchronist irgendwann im Jahr 1722 seinen ausführlichen Nachruf auf den berühmten Johann Kuhnau, der am 5. Juni im Alter von 62 Jahren und nach 21 Dienstjahren im Thomaskantorat das Zeitliche gesegnet hatte. Der Chronist drückt damit aus, was in den Wochen und Monaten nach Kuhnaus Tod viele Leipziger gedacht haben mögen: Es wird nicht leicht werden, einen Musiker ins Thomaskantorat zu locken, der dem seligen Kuhnau das Wasser zu reichen vermag.
Für die Nachfolger-Suche ist der Leipziger Stadtrat zuständig, denn das Thomaskantorat, also die Position des Musiklehrers im berühmtesten Musik-Internat des protestantischen Deutschlands, ist ein städtisches Amt. Der Amtsinhaber unterrichtet die 54 Internatsschüler in Musik (und einige in Latein) und besorgt mit ihnen den Gesang in allen vier Leipziger Kirchen, bei Begräbnissen und Hochzeiten. Außerdem hat er mit den besten unter ihnen an jedem Sonn- und Feiertag, wechselweise in Thomas- und Nikolaikirche zwischen Evangeliumslesung und Predigt, die vornehmste seiner regulären Aufgaben zu erledigen: die Aufführung der »Haupt-Music« – ein Format, das wir heute allgemein als Kantate bezeichnen. Sie stammt vorzugsweise aus seiner eigenen Feder. In ihr muss sich der Thomaskantor als Ausleger der Bibel erweisen, denn der Text einer Kantate steht üblicherweise in enger Beziehung zu den jeweiligen Lesungstexten – und der Kantor mit dieser Art von ›musikalischer Predigt‹ auf gewisse Weise in Konkurrenz mit den Pfarrern.
Zugleich muss der Thomaskantor als Direktor des gesamten Leipziger Musikwesens die vier Stadtpfeifer und drei Kunstgeiger nebst Gesellen beaufsichtigen sowie die Anschaffungen von Musikinstrumenten überwachen und oft genug selbst organisieren. Mit anderen Worten: Die Leipziger Ratsherren um die drei Bürgermeister Gottfried Lange, Abraham Christoph Platz und Adrian Steger d.J. suchen ab Juni 1722 einen breit aufgestellten Musiker: einen sendungsbewussten ›Super-Cantor‹, der das facettenreiche Amt des »Director Chori Musices Lipsiensis« bestmöglich auszufüllen vermag. Sicherlich hoffen sie, einen der bekanntesten Musiker aus der Generation der 35- bis 50-jährigen für das Amt gewinnen zu können – nicht zuletzt aus Selbstzweck, denn beides, eine gute Kirchenmusik und ein prominenter Musikdirektor, wären für das Außenbild der Stadt eine Zierde und für die Musikliebhaber unter den Leipzigern ein Genuss.

Tatsächlich zeigt einer der gefragtesten Musiker seiner Zeit schon wenige Wochen nach Kuhnaus Tod Interesse an der Stelle: Georg Philipp Telemann. Er ist seit einem Jahr Musikdirektor in Hamburg und in Leipzig keineswegs ein Unbekannter. In seinen Jahren als Student an der Leipziger Universität (ab 1701) hatte er das Musikleben der Stadt kräftig durcheinandergewirbelt. Er hatte ein alsbald weitberühmtes Collegium musicum gegründet, war Kapellmeister im inzwischen verwaisten Opernhaus und Musikdirektor der Neukirche gewesen und hatte – neben Kuhnau – regelmäßig Kantaten für die Thomaskirche komponiert. Inzwischen, fast 20 Jahre später, gilt sein Name als der Inbegriff für innovative Kirchen- und Instrumentalmusik; sein Komponiereifer ist so grenzenlos wie legendär.
Die Ratsherren sind folglich begeistert. Und so gibt Telemann am 9. August 1722, dem 10. Sonntag nach Trinitatis, mit der Aufführung zweier Probekantaten sein Comeback in der Thomaskirche – »mit besonderer Approbation«, wie es in den Gazetten schwärmerisch heißt. Zwei Tage später wird er in der großen Ratsversammlung einstimmig zum neuen Thomaskantor gewählt: weil er »wegen seiner Music in der Welt bekannt wäre«.
Telemann inspiziert umgehend den ihm angetragenen Arbeitsplatz und unterbreitet selbstbewusst seine Forderungen. Um ihn tatsächlich zurück nach Leipzig zu holen, sind die Ratsherren – erstmals in der Geschichte des Thomaskantorats – zu einem besonderen Zugeständnis bereit. Sie räumen Telemann ein, dass er den traditionellen Schulunterricht des Kantors (vier Wochenstunden Latein sowie eine Stunde Katechismuslehre am Samstagvormittag in Quarta und Tertia) gegen Bezahlung an einen Kollegen abtreten darf.
Zurück in Hamburg, schreibt Telemann sein Entlassungsgesuch. Darin schildert er seinen Noch-Dienstherren genüsslich, welch »beträchtliche« finanzielle »Verbesserung« ihm das Leipziger Amt einbrächte, und dass er dessen »gute Beschaffenheit bis ins späte Alter, ohne große Arbeit und bey guter Ruhe genießen« könne. Ein Wink mit dem Zaunpfahl – und nicht zu hoch ge(job)pokert!
Der Hamburger Stadtrat beschließt umgehend eine Erhöhung der Kantoratsbesoldung, und die fällt so beträchtlich aus, dass Telemann noch im Herbst den Rücktritt vom Rücktritt vollzieht. Es ist gut möglich, dass der clevere Stratege von Anfang an auf einen solchen Ausgang spekuliert hatte.
Als der regierende Leipziger Bürgermeister Lange am 23. November dem Ältestenrat die Nachricht von der Absage Telemanns überbringt, zeigen die Ratsherren sich uneins über das weitere Vorgehen. An Kandidaten, die sich ebenfalls für das Thomaskantorat ins Gespräch gebracht haben, mangelt es nicht; unter ihnen immerhin der Rising Star Johann Friedrich Fasch aus Zerbst, der Magdeburger Kantor Christian Friedrich Rolle, der Braunschweiger Kantor Andreas Christoph Duve, der Merseburger Domorganist Georg Friedrich Kaufmann – allesamt gestandene Musikdirektoren.
Aber Langes Bürgermeisterkollege Platz, ein auf das Gemeinwohl bedachter Anhänger des Pietismus mit wenig Sinn für ›Äußerlichkeiten‹, ermahnt die Ratskollegen: »man habe hauptsächlich … dahin zu gedencken, dass das Subjectum nicht allein die Music verstehe, sondern auch informiren [d.h. Latein unterrichten] könne.« Die Entscheidung lautet letztlich: Drei weitere Kandidaten zur Probe, und einem jeden 20 Taler für das »Hin- und Herreisen.«

Keiner der Kandidaten überzeugt die Ratsherren. Kriegsrat Lange, seit August regierender und damit einflussreichster Bürgermeister der Stadt, will sich nicht mit der Bewerberliste abfinden. Der am Dresdner Hof bestens vernetzte Schöngeist, der in jungen Jahren Gedichte und Romane verfasst hatte und für den es von nachrangiger Bedeutung ist, ob der künftige Kantor auch ein guter Schulmann sein wird, geht nun offenbar selbst auf Kandidatensuche. Alsbald präsentiert er den Ratsältesten einen weiteren großen Namen in der Bewerberrunde: Christoph Graupner, den Darmstädter Hofkapellmeister, einst Thomaner unter Kuhnau. Aber Lange warnt die Ratskollegen zugleich vor einem déjà-vu-Erlebnis: Graupner habe »allenthalben ein gutes Lob, wie unterschiedene Briefe auswiesen, nur wäre praecaution zu nehmen, daß er bey seinem Hofe dimittiret [entlassen] werden könne«.
Als am 15. Januar 1723 im Ältestenrat auf das bevorstehende Probespiel Graupners vorausgeschaut wird, zeigen sich alle in freudiger Erwartung, nun endlich den richtigen Nachfolger für den Thomaskantor Kuhnau gefunden zu haben. Nur der alte Baumeister Wagner bringt noch zwei weitere Namen ins Spiel, die seit einigen Wochen ebenfalls auf der Bewerberliste stehen: »ob man Rollen und Bachen noch zur Probe admittiren solle?« Seinem Ratskollegen Kregel ist dies entschieden zu viel: Es wäre »zweiffelhafft, ob man noch mehr Proben lassen machen solle.«
Christoph Graupner legt am 17. Januar, dem 2. Sonntag nach Epiphanias, im Gottesdienst der Thomaskirche seine Kantoratsprobe ab. Mit der Aufführung seiner – bis heute erhaltenen – zwei Kantaten Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu Dir und Lobet den Herrn alle Heiden erfüllt er die hohen Erwartungen. Die Ratsherren wollen ihn umgehend als Thomaskantor verpflichten. Jedoch entwickelt sich die Causa Graupner buchstäblich zur Hängepartie, weil der Herr Kapellmeister die Leipziger wochenlang über das Votum seines Landgrafen und seine eigene Entscheidung im Unklaren lässt.
Sicherlich deshalb beschließen die Ratsherren wenig später, dem Köthener Kapellmeister Johann Sebastian Bach nun doch die Chance zu geben, sich in Leipzig zu präsentieren. Als er seine Reise plant, wird ihm der aktuelle Stand bei der Leipziger Kantorensuche zumindest in Umrissen bekannt gewesen sein. Und deshalb wird er geahnt haben: Diese Kantoratsprobe wird kein Selbstläufer. Er muss mit seinen Probekantaten idealerweise alle Zuhörer überzeugen. Deshalb ist Fingerspitzengefühl gefragt – und die Fähigkeit nicht anzuecken. Denn weder die lauschenden Leipziger Gemeindeglieder insgesamt, noch die Berufungskommission – knapp drei Dutzend Stadträte – werden einen homogenen Geschmack haben. Die einen werden es schätzen, wenn der Thomaskantor in seinen Kantaten gewissermaßen am Puls der Zeit einen affektreichen, virtuosen und musikalisch anschaulichen Kommentar zu den sonntäglichen Lesungstexten liefert. Andere hingegen werden Klänge, die auch nur im Entferntesten an die Musik in den Opern- oder Kaffeehäusern erinnern, kategorisch als unangemessen für die Kirche verdammen. Nicht von ungefähr hatte man schon 1701 dem Thomaskantor Johann Kuhnau in dessen Anstellungsvertrag geschrieben: »Zu Beybehaltung guter Ordnung in denen Kirchen« müsse der Kantor seine Musik so gestalten, dass sie »nicht zu lang« dauert und »nicht opernhaftig« wirkt, »sondern die Zuhörer vielmehr zur Andacht aufmuntert.«
Bach reist schließlich Anfang Februar nach Leipzig und führt am Sonntag Estomihi (7. Februar) mit den Thomanern seine zwei Probestücke auf: die Kantaten Jesus nahm zu sich die Zwölfe BWV 22 und Du wahrer Gott und Davids Sohn BWV 23. Beide nehmen textlich Bezug auf das Sonntagsevangelium: Jesu Heilung eines Blinden und die Ankündigung seines Leidens in Jerusalem (Lukas 18, 31–43). Trotz ihrer äußerlichen Knappheit bietet Bach in beiden Stücken einen subtil gestalteten Aufriss seiner musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten und seiner brillanten satztechnischen Fähigkeiten. Zugleich verzichtet er aber sichtlich auf alle Arten von aufgesetzter Prachtentfaltung, die womöglich Wasser auf die Mühlen der nicht wenigen Kritiker theatralisch tönender Kirchenmusik gewesen wären. Bachs Probekantaten strahlen vielmehr von innen heraus. Der Höhepunkt in BWV 23 ist die abschließende Bearbeitung von Martin Luthers deutschem Agnus Dei-Lied, Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd‘ der Welt, erbarm‘ dich unser! – eine großangelegte Choralfantasie, die Bach erst in letzter Minute in sein Probestück integriert, nachdem er die Kantate in Köthen eigentlich schon beendet hatte. Luthers Lied ist zugleich die große musikalische Klammer innerhalb der Kantate, denn es erklingt bereits im Accompagnato-Rezitativ nach dem eröffnenden Duett, hier allerdings unter der Oberfläche: als recht unauffällige, nur von den Instrumenten gespielte Begleitung. Welch raffinierter Kunstgriff – den Bach sicherlich präsentiert, um gegenüber den musikalischen Kennern in Kirche und Stadtrat blicken zu lassen, wie tiefendurchdringend seine kompositorischen Ausdrucksmöglichkeiten sind. Und keineswegs Selbstzweck! Denn Luthers jedermann bekannte Melodie bietet einen unausgesprochenen Kommentar zur gleichzeitig vom Tenor vorgetragenen Bitte an den im Evangelium vorübergehenden Jesus, das »Lamm Gottes«, das der Blinde hier sinnbildlich im Namen der gesamten Menschheit anruft: »Ach! gehe nicht vorüber; Du, aller Menschen Heil, bist ja erschienen, die Kranken und nicht die Gesunden zu bedienen.«
In BWV 22 hingegen präsentiert sich Bach (kalkuliert?) fasslicher. Hier bestechen der kunstvolle Eingangssatz mit der eingewobenen Vox Christi; die ausgedehnte Alt-Arie mit einer plastischen Darstellung des »Ziehens« hin zu Jesus; und schließlich der sich unmittelbar als Ohrwurm festsetzende figurierte Schlusschoral, dessen zupackende Streicherbegleitung wie ein Perpetuum mobile daherkommt.
Glauben wir der kurzen Zeitungsnotiz, hat Bach mit seinen Vertonungen der beiden anonymen Kantatenlibretti ins Schwarze getroffen:
»Am verwichenen Sonntage Vormittags machte der Hochfürstliche Capellmeister zu Cöthen, Monsieur Bach, allhier in der Kirchen zu St. Thomä wegen der bisher noch immer vacant stehenden Cantor-Stelle seine Probe, und ist desselben damahlige Music von allen, welche dergleichen ästimiren, sehr gelobet worden.«
Aber trotz aller Begeisterung halten ihn die Leipziger Ratsherren einstweilen hin. Und Bach selbst fragt sich wochenlang, ob er wirklich den Kapellmeisterdienst in Köthen an den Nagel hängen will, nur um Kantor in einer Knabenschule zu werden. Rückblickend wird er gegenüber seinem Jugendfreund Georg Erdmann (1731) bekennen: »Ob es mir nun zwar anfänglich gar nicht anständig seyn wolte, aus einem Capellmeister ein Cantor zu werden, weswegen auch meine resolution auf ein vierthel Jahr trainirete.«
Entschieden ist im Februar also noch nichts, nur dass die Ratsherren Graupner weiterhin als die erste Wahl betrachten und noch immer inständig auf seine Freigabe hoffen. Es vergehen fast zwei Monate, bis sich der Darmstädter Hofkapellmeister wieder meldet. Er hat keine guten Neuigkeiten. In einem Brief an Bürgermeister Lange übermittelt er seine endgültige Absage an das Thomaskantorat, denn der Landgraf wolle ihn nicht ziehen lassen. Graupner zeigt sich enttäuscht; er macht dem Bürgermeister aber auch deutlich, wen unter den verbliebenen Kandidaten er für die beste Alternative hält: Bach sei »ein Musicus, ebenso starck auf der Orgel, wie erfahren in Kirchensachen und Capell-Stücken, der honeste und gebührlich die zugeeignete Function versehen« werde.
In der Ratsstube regiert nun die Ungeduld. Als die Ratsältesten sich am 9. April erneut in der Causa Nachfolge Kuhnau beraten, versucht Bürgermeister Lange seine Kollegen erneut auf die Berufung eines Kapellmeister-Kantors einzuschwören. Doch Bürgermeister Platz hat nach neun Monaten Suchverfahren und zwei Absagen keine Lust mehr auf weitere Enttäuschungen. Er will endlich Nägel mit Köpfen machen, und deshalb schlägt er laut Sitzungsprotokoll vor: »da man nun die besten nicht bekommen könne, müsse man mittlere nehmen, es sey vom einem [Kantor] zu Pirna ehemals viel Gutes gesprochen worden.«
Wie der Vorschlag von Platz im Ratskollegium aufgenommen und mit welchen Argumenten er letztlich abgelehnt wird, ist nicht überliefert. Just nach dem Vorpreschen des Bürgermeisters wird der protokollierende Stadtschreiber wegen einer Finanzangelegenheit in die benachbarte Steuerstube gerufen, und deshalb hat niemand für die Nachwelt festgehalten, wie und unter welchen Bedingungen es dem regierenden Bürgermeister Lange in der Sitzung gelingt, die Ratsältesten doch noch auf einen von den »Besten«, nämlich auf Johann Sebastian Bach einzuschwören – und diesem außerdem die ehemals Telemann zugebilligte Möglichkeit einzuräumen, den mit dem Kantorenamt verbundenen Lateinunterricht gegen Bezahlung an einen Kollegen abtreten zu dürfen.
Fest steht, dass Bach schon zehn Tage später, am 19. April, im Rathaus einen vorläufigen Anstellungsvertrag unterzeichnet, drei Tage später in der großen Ratsversammlung einstimmig zum neuen Thomaskantor und Musikdirektor der Stadt Leipzig gewählt wird und am 5. Mai seinen endgültigen Arbeitsvertrag besiegelt – ganze elf Monate nach dem Tod Johann Kuhnaus. Heute können wir nur ungläubig staunen, wie schwer sich die Ratsherren taten, Bach das altehrwürdige Thomaskantorat zu übertragen. Er war tatsächlich nur die dritte Wahl!

Am 30. Mai 1723, dem 1. Sonntag nach Trinitatis, tritt Johann Sebastian Bach im Frühgottesdienst in der Nikolaikirche das Thomaskantorat an. Auf die Pulte der Musiker legt er seine Antrittsmusik: die Kantate Die Elenden sollen essen BWV 75 – ein zweiteiliges Stück von fast 35 Minuten Länge. Anders als in seinen beiden im Februar 1723 aufgeführten Probekantaten, dominieren in ihr nicht die andachtsvollen Klänge, vielmehr präsentiert sich Bach als ein weltgewandter Kapellmeister, der in den musikalischen Sprachen Europas zu Hause ist; der mit seinen Noten Tanzformen in beschwingte geistliche Arien und schlichte Choräle in feinste musikalische Delikatessen zu verwandeln vermag.
Zwar mag Bach mit seiner opulenten Antrittskantate strenggenommen gegen Paragraph 7 seines Arbeitsvertrages verstoßen haben, in dem er wenige Tage zuvor versprochen hatte, seine Musik würde »nicht zu lang währen« und so »beschaffen seyn«, dass sie »nicht opernhaftig herauskomme, sondern die Zuhörer vielmehr zur Andacht aufmuntere«. Aber selbst die Philister unter den Ratsherren werden dem neuen Thomaskantor für seine Inauguration einige Freiheitsgrade zugestanden haben.
Inhaltlich muss sich Bachs Kantate dem Evangeliumstext für den Sonntag widmen: dem berühmten Gleichnis vom armen Lazarus und dem reichen Mann (Lukas 16, 19-31) und damit der Ermahnung zur Fürsorgepflicht gegenüber den Armen in der Gesellschaft. Nur ein solches, an christlichen Verhaltensgrundsätzen orientiertes Verhalten und der Glaube an sich werden – das ist die lutherische Überzeugung – einem jeden den Weg ins Himmelreich ebnen.
Bachs unbekannter Textdichter legt das Libretto erstaunlicher Weise dahingehend aus, dass es unter den Menschen zuhauf geistige Armut gebe. Er stellt heraus, dass nur das Handeln in der Nachfolge Christi – »Mein Jesus soll mein alles sein…«, »Mein Jesus macht mich geistlich reich…« – für geistige Heilung sorgen könne. Noch mehr überrascht allerdings, dass am Ende beider Kantatenteile figurierte Bearbeitungen von Strophen des Chorals Was Gott tut, das ist wohlgetan stehen – ein Lied, das wie kein zweites von bedingungslosem Gottvertrauen handelt und das Bekenntnis ausdrückt, sich stets dem Willen des Höchsten fügen zu wollen. Für den Beginn des zweiten Teils der Kantate komponiert Bach sogar – einmalig in seinem ganzen Kantatenwerk – eine brillant aufspielende instrumentale Choralfantasie auf das bekannte Kirchenlied.
Die Auswahl gerade dieses Chorals leitet sich weder vom Evangeliumstext noch von dessen Auslegung durch den Textdichter ab. Vielmehr will es scheinen, als ob Bach selbst hier gewissermaßen den Wahlspruch für sein Kantorat präsentieren wollte. Eine solche Deutung drängt sich auf, weil er später (1730) in einem Brief an seinen Jugendfreund Georg Erdmann betonen sollte: »Gott« hätte es »gefügt«, dass er – nach den Absagen Georg Philipp Telemanns und Christoph Graupners – den Ruf ins Thomaskantorat erhalten habe. Und er selbst hätte es erst nach reichlichem Hin- und Herüberlegen, ob es »anständig« sei, »aus einem Capellmeister ein Cantor zu werden«, und letztlich »in des Höchsten Namen gewagt«, die Stelle auch wirklich anzutreten. Dazu passt auch, dass Bach erst in Leipzig die Praxis beginnt, an den Schluss seiner Kantaten-Partituren das heute berühmte S[oli] D[eo] G[loria]-Signum zu setzen: Allein Gott zu Ehren!

Gleich mit den ersten Takten des Eingangschores seiner Antrittskantate BWV 75 sendet Bach aber noch ein weiteres unüberhörbares Signal aus: Diese Kantate soll der Startschuss zu etwas ganz Neuem sein. Aus der Figur eines Auftaktes entwickelt er – wie passend! – die instrumentale Einleitung, in die er wenige Takte später wie von Zauberhand den Chor hineinwebt. Dann folgt ein schneller fugierter Teil, der mit einem geschickt auskomponierten Crescendo alle Musiker gleichermaßen fordert. Nebenstimmen sind hier Fehlanzeige; wirklich alle, Sänger wie Instrumentalisten, sind gleichberechtigt, wirken gleichermaßen am Erschaffen eines großen musikalischen Universums mit. So gesehen die völlige musikalische Demokratie – von den Rändern bis zur Mitte überaus lebendig, vielseitig, jedoch mitunter sehr anstrengend umzusetzen.
Der Herausforderung, eine solch anspruchsvolle Musik zum Klingen zu bringen, muss sich nun fortan ein Sängerensemble aus etwa 16 Internatsschülern der Thomasschule im Alter zwischen 13 und 23 Jahren und ein Orchester aus altgedienten Stadtpfeifern und Leipziger Universitätsstudenten allwöchentlich stellen. Mit anderen Worten: ein Musikerapparat, dessen Grad an Professionalität und Leistungsfähigkeit ein gutes Stück entfernt war von dem, was Bach in den Jahren zuvor in seinen hochspezialisierten Hofkapellen zu Köthen und Weimar kennengelernt hatte. Und dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – macht Bach bereits mit seinem musikalischen Einstand unmissverständlich deutlich, was er zum Credo seines gesamten 27-jährigen Thomaskantorats erheben wird: Nicht die Noten werden sich seinem Personal fügen müssen, sondern das Personal seinen Noten: Soli deo gloria!
Heute wissen wir, dass die am 1. Sonntag nach Trinitatis 1723 begonnene Entdeckungsreise für die nächsten vier Jahre gut 150 neukomponierte Kantaten und letztlich solche musikalischen Weltwunder wie das Magnificat (1723), die Johannes-Passion (1724) und die Matthäus-Passion (1727) zeitigen sollte. Und ganz gleich, wie die damaligen Musiker und Zuhörer über Bachs Musik auch geurteilt haben mögen, ob manche von ihnen womöglich überfordert, irritiert, verblüfft oder schon grenzenlos begeistert waren: Bach ließ sich in den 27 Jahren seines Thomaskantorats, mancher Widrigkeiten zum Trotz, nicht von dem mit seiner Antrittsmusik eingeschlagenen Weg abbringen und verriet nie seine enorm hohen satztechnischen Ideale. Als er 15 Jahre nach Dienstantritt von einem Kritiker – Johann Adolph Scheibe – öffentlich wegen seines Komponierstils attackiert wurde, weil der »dunkel« und »verworren« sei und »wider die Natur streitet«, ließ er seinen Verteidiger Johann Abraham Birnbaum eine rührende Erfahrung schildern:
»Zuweilen aber giebt er [Bach] nur den Instrumentalisten und Sängern Gelegenheit, sich etwas mehr, als gewöhnlich, anzugreifen, um etwas heraus zu bringen, welches sie anfänglich für unmöglich [ge]halten, weil sie es nicht versucht haben. … Die Erfahrung hat gelehret: daß das Unmöglichscheinende möglich worden, wenn Fleiß, Geschicklichkeit und Uebung alle Schwierigkeiten glücklich überwunden haben. Ja dieses ist sehr oft ein sicheres Mittel gewesen, beydes, Sänger und Instrumentalisten, geschickter und vollkommener zu machen.«
Und genau diese Beobachtung haben inzwischen etliche Generationen von Musikern gemacht – seien es erfahrene Profis, die sich ihr Leben lang an Werken wie den Sonaten und Partiten für Violine solo oder den Goldberg-Variationen immer wieder üben und prüfen; oder seien es all die unzähligen ambitionierten Laienchöre auf der ganzen Welt, die beim Einstudieren einer Bach-Passion, des Weihnachtsoratoriums, der h-Moll-Messe oder einer der vielen Kantaten des Thomaskantors Bach regelmäßig über sich hinauswachsen. Manchmal ist die dritte Wahl am Ende die beste. ¶
Michael Maul ist Musikwissenschaftler am Bach-Archiv Leipzig, Intendant des Bachfestes Leipzig und Professor an der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg. Sein neues Buch über Johann Sebastian Bach ist soeben im Insel Verlag erschienen.
