(Fast) immer, wenn ich Musik von Sergej Tanejew höre, frage ich mich, warum er nicht öfter gespielt wird. Denn obwohl in praktisch jedem Programmheft steht, der russische Komponist habe Zeitgenossen als »akademisch« und »trocken« gegolten, erlebe ich seine Musik stets von neuem als feurig, ja vulkanisch; außerdem verliebte sich ja auch die lebenshungrige Sofia Tolstaja, Ehefrau des verpriesterten Großschriftstellers, in den 1856 geborenen Tanejew.

Und ganz gelegentlich, wenn ich Musik von Anton Bruckner hören, frage ich mich, warum er so geliebt wird; denn seine eigenartige Musik ist doch kaum zu fassen?

Letzteres unterlief mir beim Konzert von Christian Thielemann mit der Staatskapelle Berlin, dem mit Spannung erwarteten ersten Auftritt seit der Bekanntgabe seiner Barenboim-Nachfolge als kommender Lindengeneraldiktator. Bruckner Fünf, quasi Thielemanndomäne, wie man so dahersagt. Das Konzert wird sich für mich als gleichermaßen bewunderungswürdig wie befremdlich erweisen. Dabei stehe ich noch ganz im Bann eines anderen Musikerlebnisses, aus einer Konzertkultur, wie sie konträrer nicht sein könnte. Die Staatskapelle spielt ihre Konzerte immer am ersten Abend im Opernhaus Unter den Linden, am zweiten in der Philharmonie, und ich höre sie stets lieber in letzterer; am ersten Abend war ich auch schon in der Philharmonie, allerdings im Kleinen Saal, bei einem Programm der seit 35 Jahren bestehenden Spectrum Concerts.

Vergessenes, Verdrängtes, Verfemtes hat sich diese Kammermusikreihe auf die durch und durch zivilen Fahnen geschrieben, zugleich eine transatlantische Perspektive. So stand und steht immer wieder die Musik emigrierter, geflüchteter, verfolgter Komponisten auf dem Programm. Und ebenso führt man bei Spectrum schlicht und sehr ergreifend auf: seltenst gespielte Kammermusik auf hohem Niveau.

Fotos: Public Domain

Wie eben Tanejew. Drei Werke aus dem letzten Schaffensjahrzehnt vor seinem Tod 1915. Und wenn ich im ersten Satz dieses Artikels nicht »immer«, sondern »fast immer« schrieb, so bezieht sich das auf Tanejews Violinsonate a-Moll von 1911, die mich hier leicht ratlos macht. Es duftet geradezu kurios nach Wiener Klassik, Läufe, Perioden, etwelche Vorhalte etcetera pipapo, dazu sogar ein echtes »Minuetto«, aber gar nicht im verspielten Sinne des späteren Neoklassizismus oder des traumreichhaften Ravel-Menuetts. Vielleicht liegt es auch daran, dass der Geiger Boris Brovtsyn und der Pianist Eldar Nebolsin sich hier als zwei allzu sachliche Musiker erweisen; da will einfach nicht so recht ein Ganzes entstehen.

Ganz anders dann bei den beiden folgenden, großräumigeren Werken: einem Klavierquartett von 1906 und einem Klavierquintett von 1910/11, eins in E-Dur, eins in g-Moll. Warm singend, funkelnd, hymnisch ist das. Und obwohl es auch im Finale des Quartetts eine Fuge gibt, ist diese so durchhörbare wie orchestrale Musik ein wahres Feuerwerk. Auf einen animalischen Geräuschmoment zwischen Klavier und Cello folgt eine porzellanene Apotheose, und dann nennt dieser Abschnitt sich auch noch »Moderato serafico«.

Noch gewaltiger scheint das fast einstündige Quintett: Ein berauschender Kopfsatz von zwanzig Minuten, den man brahmshaft nennen kann, auch wenn dieser Vergleich Tanejew gestunken haben soll. Flitzezaubriges Scherzo. Und vor dem enormen Finale steht ein Largo, das zu dem Beeindruckendsten gehört, was ich seit langem kennenlernen durfte. Über zunächst harschem Unisono-Ostinato, das alsbald von Alexey Stadlers Cello samten fortgesetzt wird, erhebt sich ein betörender Gesang der Streicher (neben Brovtsyn nun exquisit der Geiger Mohamed Hiber und der Bratschist Gareth Lubbe). Und was in diesem Largo dann an Reichtum von Unerbittlichkeit und Schönheit folgt, hat das Zeug, für den Rest seines Lebens im Gedächtnis des Hörers zu bleiben.

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Von diesen beiden brillant dargebotenen Tanejew-Werken fühlt man sich schwer erschlagen und reich beschenkt. Dezent irritiert ist man heutzutage höchstens von dem all-male-panel auf der Bühne. Im nächsten Spectrum-Konzert im Januar werden allerdings wieder Frauen im Team sein, und was für welche: neben der vorzüglichen Geigerin Clara-Jumi Kang auch Janine Jansen, die längst ein Weltstar ist, deren Karriere aber Wurzeln auch im Spectrum-Miteinander hat. Neben Schostakowitsch und Enescu wird da Musik des von den Nazis zu Tode geschundenen Erwin Schulhoff auf dem Programm stehen. Und in weiteren Spectrum-Konzerten 2024 sind sowohl Klassiker von Schumann bis Bartók als auch Raritäten wie die Musik von Ernest Bloch oder Ernst Toch zu finden.

Also das absolute Gegenteil der konsequenten thielemannschen Repertoire-Verengung. Womit per se nichts gesagt sein muss gegen diese persönliche Beschränkung Thielemanns, schon Carlos Kleiber pflegte die geniale Limitierung, es ist halt immer die Frage, was man rings um sich so blühen und gedeihen lässt. Auch unter Thielemanns Führung an der Staatsoper wird also weniger die Frage sein, was er da machen wird (das ist ja ziemlich vorhersagbar), sondern eher, wen und was und überhaupt wie frei er andere machen lassen wird.

Vor, neben und um Bruckner lässt er jedenfalls nichts ran, die Fünfte steht im Konzert der Staatskapelle ganz für sich, kein Mozart davor wie bei Blomstedt, kein moderner Klang wie bei Nagano oder Metzmacher. Selten habe ich ein Konzert so zwiespältig erlebt wie diese Bruckner-Zelebration unter Christian Thielemann. »feierlich« steht über allem, und das ist viel mehr als eine Äußerlichkeit. Wahrhaft erhaben sind die atemberaubenden Klangschönheiten, die sich da ereignen: Die vollkommenen Pianissimi nahe am Nichts, aus denen Kopfsatz und Finale entstehen (in echter Berliner Kontrapunktik wispert am Beginn ein älterer Herr zu seiner Frau »Kannst du wat hören?«). Habe ich je beglückendere Crescendi gehört als von dieser Staatskapelle unter Thielemann? Berückendere Tutti auf den absoluten Höhepunkten? Und überhaupt einen weicheren Klang, von der isolierten Flöte über die ganze Streichergruppe bis zum Großen und überhaupt?

Geradezu verstörend erlebe ich aber die eigentlich widersinnige Verbindung von Weichheit und Zähheit bei diesem thielemannschen Bruckner. Unter den äußerst langsamen Tempi zerfällt mir das Werk; quasi alles, was ich an buchstäblich organischer Wirkung von Bruckner erwarte und erhoffe (oder auch an Vulkanismus), ist verloren in Feierlichkeit. Das geht bis zur Langeweile; selten habe ich bei einer Bruckner-Aufführung so oft im Stillen bis Vier gezählt, und im Scherzo befällt mich gar die Wahnvorstellung, man könne hier glatt behaglich mitklatschen. Und dass meine Nachbarin bei einem Bruckner-Scherzo einschläft, das habe ich auch noch nicht erlebt!

Das alles macht die gewaltigen Schönheiten dieser Bruckner-Aufführung keineswegs zunichte. Eher ist Thielemanns Bruckner für mich, sagen wir mal, die Mutter von Ambivalenz. Faszinierend und frustrierend zugleich. ¶


… lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Beethovn‹ (2020). Zuletzt erschien ›Silence‹. ✉️ KonzertgaengerBerlin@gmail.com

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