Ab jetzt spricht Michel Friedman über Oper. Gleich eine ganze Gesprächsreihe bekommt er in Frankfurt. Eine gute Idee. Als Anwalt, Publizist, Philosoph und nicht zuletzt auch Immobilienexperte verfügt er über multiple Kompetenzen, um diesem brüchigen alten Kraftwerk der Gefühle wiedebr auf die Sprünge zu helfen. Friedman sagt: »Opernstoffe verhandeln Themen, die uns in der Gegenwart herausfordern. Wie haben sich Komponisten und Librettisten in den letzten 400 Jahren mit Krieg, Liebe, Rache, Gewalt, Intrige, Leidenschaft, sozialer Ungerechtigkeit auseinandergesetzt? Was können wir heute davon mitnehmen, neben dem Genuss, den wir musikalisch auf der Bühne erleben? Gemeinsam auf Spurensuche zu gehen und diese mit dem heutigen Bewußtsein zu vergleichen – das reizt mich sehr!«

Anna Nekhames (Venus; im Sarg liegend), Simon Neal (Nekrotzar) und Peter Marsh (Piet vom Fass) sowie im Hintergrund Statisterie der Oper Frankfurt • Foto © Barbara Aumüller

Es geht also um einen Relaunch und um Aktualisierung. Als erstes wird Friedman sich Le Grand Macabre von György Ligeti vornehmen. Sein Subthema dazu lautet: Apocalypse Now. Denn in diesem Stück, einer »Anti-Anti-Oper« (Ligeti) aus den späten Roaring Seventies, rast ein Komet auf die Erde zu. Der Weltuntergang steht unmittelbar bevor. Den Stoff fand Ligeti in einer Parabel des flämischen Theaterdichters Michel de Ghelderode von 1934, die ursprünglich ein Puppenspiel hatte werden sollen, in Anspielung auf Hitlerdeutschland. Das Marionettenhafte hat Ligeti für seine Oper fast eins zu eins übernommen. Die politischen Anspielungen ließ er weg, sie spielen nur unterschwellig mit. Trotzdem sollte es schwierig werden, anzudocken an so etwas wie einen musikalischen »Genuss«. In diesem Punkt schieden sich deutlich sichtbar die Geister bereits am Premierenabend der Frankfurter Erstaufführung, die unter der wohlsortierten Leitung des jungen GMD Thomas Guggeis am 5. November stattfand – 45 Jahre nach der Uraufführung in Stockholm. Das Parkett stimmte in der Pause mit den Füßen ab. Da stellt sich doch vehement die Frage: Ist das Stück heute nicht mehr zeitgemäß? 

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Es waren die Zuschauer zumal in den ersten, den Ehrenkarten-Reihen, die vor der Zeit das Weite suchten. Vielleicht war ihnen einfach alles zu viel: die scharf geschneiderte Autohupen-Tokkata zum Auftakt, die schrillen Cluster, die tosenden Schlagzeugwetter und Piccoloblitze, Flageoletts in allerhöchster Lage, blökendes Basstrompetengedröhn, krähende Tenöre, kreischende Soprane, polternde Baritone. Und so weiter. Wirklich läßt Ligeti auch in der revidierten und abgemilderten Zweitfassung seiner einzigen Oper nichts aus, was zünftig und nötig ist, um die Dummheit der Menschheit abzubilden im Chaos ihres Untergangs. 

Dazu gehören kurz getaktete, übereinander geschichtete Zitate, motivische und formale. Kein Suchspiel: Ob man den Offenbachgalopp oder die Rameaubourrée nun erkennt oder nicht, ist nicht wirklich wichtig. Es reicht, dass die streng theatergerechte Musik, die Ligeti erfand, unmittelbar sinnlich erfahrbar ist. Eine sängerintensive, geräuschhafte, haptisch greifbare Musik. Das ist die einzige »Regel«, die Ligeti  sich auferlegte: dass die Musik »zum Motor des szenischen Geschehens« wird. Jede Geste, die aus dem Orchester auf die Bühne brandet, schlägt um in Handlung. Lässt man sich hörend und sehend darauf ein, kann man Spaß haben. Aber es handelt sich bei Le Grand Macabre eben nicht nur um ein lustiges Durcheinander, wie schon so häufig irreführenderweise in krawallbunten Inszenierungen dargestellt, etwa von Sellars oder Kosky oder Fritsch. Vielmehr um eine ernsthafte, ehrliche Publikumsbeschimpfung. So etwas läßt sich nicht weglachen oder wegdösen. Man muss es aushalten. Zur Ehre der Musikstadt Frankfurt sei gesagt, dass die Mehrheit der Leute blieb. Es kamen sogar etliche Kinder des Olymp, Ligetikenner und -liebhaber, aus den oberen Rängen heruntergestiegen in der Pause, ganz im Vertrauen auf das Banausentum von Frankfurts Politik und Wirtschaft, um die leeren Plätze wenigsten teilweise zu nutzen.

Peter Marsh (Piet vom Fass) und Ensemble • Foto © Barbara Aumüller

Und noch ein Rüpelnachspiel dazu gab es, das in diesem Kontext erwähnenswert ist: Drei Kommunalpolitiker der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung, von denen zwei nicht mal anfangs anwesend gewesen sein sollen, legten anderntags Protest ein gegen das angeblich rassistische »Blackfacing« eines Nebendarstellers, im dritten Bild der Aufführung, nach der Pause. Opernintendant Bernd Loebe wies dies zurück, Frankfurts Kulturdezernentin Ina Hartwig schloss sich ihm an, dann wurde die Sache rasch wieder unter den Teppich gekehrt. Denn: Der fragliche Sänger ist zwar Weißer, er wurde auch schwarz bemalt. Stellte aber den ägyptischen Totengott Anubis dar. Und der hat bekanntlich ein dunkles Schakalsgesicht. Ist eine antike Ikone, kenntlich auch an seinem goldenen Pharaonen-Outfit und an Begleiterin Nofretete. 

Auch für den Frankfurter Regisseur, Vasily Barkhatov, stellt sich, wie für Friedman, die Frage nach der Gegenwart. Er trennt die Musik vom Text. Das Libretto des Grand Macabre sei, so erklärte Barkhatov vorab, eher »schlecht gealtert«, im Unterschied zu der »zeitlos-genialen« Musik. Deshalb brauche letztere eine »heutige Perspektive«. Gemeint sind: neue Bilder, ein anderes Narrativ. 

Anna Nekhames (Venus) und Simon Neal (Nekrotzar) sowie Statisterie der Oper Frankfurt • Foto © Barbara Aumüller

Der Tod, in Gestalt des gewaltigen Nekrotzar, steigt bei Barkhatov nicht psalmodierend in C auf dem Friedhof aus dem Grab, in einem fiktiven Breughel-Land. Er steigt, steckengeblieben im Verkehrsstau auf dem Frankfurter Autobahnkreuz, aus seinem Kombi. Ist Bestattungsunternehmer, transportiert im Kofferraum einen Sarg mit einer wunderschönen Leiche darin, die später halbwegs wieder lebendig wird, sich bei Bedarf in die Figur der Venus verwandelt, auch in den Chef der Geheimen Politischen Polizei GePoPo und als solcher stakkatozerrupfte Koloraturen zwitschert. Anna Nekhames singt das vorbildlich unverständlich. Sie schwankt traumhaft akrobatisch zwischen Aktionismus und Leichenstarre. Auch die anderen Marionetten in diesem Spiel, Piet vom Fass (Peter Marsh) oder das utopische Liebespaar Amanda (Elizabeth Reiter) und Amando (Karolina Makuła), tauchen aus diversen lädierten Autos auf. Nekrotzar (Simon Neal) ruft, als Prophet des Untergangs, zwar nach Mantel, Sense, Trompete und dem fahlen Pferd, bekommt stattdessen jedoch eine Handkettensäge, ein rotweiß-gestreiftes Baustellen-Schandhütchen, eine Schubkarre und einen lächerlichen giftgrünen Friseurumhang. Auch sängerisch kann er sich nicht durchsetzen. Nachrichtensendungen, über Videowände flimmernd, in allen Sprachen der Welt, machen ihn arbeitslos, sie sind es, die als erste, noch bevor ein Ton erklingt, die Katastrophenbotschaft verbreiten.

Simon Neal (Nekrotzar; am Steuer sitzend), Kinderstatist der Oper Frankfurt (darüber), Anna Nekhames (Venus), Peter Marsh (Piet vom Fass), Claire Barnett-Jones (Mescalina) und Alfred Reiter (Astradamors) • Foto © Barbara Aumüller

Das ist zwar so heutig und normal wie ein Hollywoodfilm. Kostüme und Bühnenbild sind ein Knaller, aufwendig und sehenswert. Doch die dicht verhäkelte Text-Musik-Semantik des Stückes geht dabei über Bord. Das zweite Bild – ein Familienstreit im Hause des Hofastrologen – funktioniert noch so einigermaßen. Barkhatov hat die sexbesessene Auseinandersetzung zwischen Astradamors (Transvestit) und dessen Weib Mescalina (Nymphomanin) – in einen Wohnwagen verlegt, mit effektvoll eingebauter virtueller Realität. Nur versteht man nicht ganz, warum das Herz der Dame in ihrem Unterrock schlägt und der grüne Friseur, als sadistischer Gastliebhaber, es herausreißen und in die Mikrowelle stecken muss, wo es explodiert. Im dritten Bild schließlich läuft alles aus dem Ruder. Neben Anubis und Nofretete tummelt sich weitere historische Prominenz auf dem Fest, welches der Fürst und Popstar Go-Go für die oberen Zehntausend von Breughel-Land veranstaltet: Adam und Eva sind da, zwei Neandertaler, Napoleon und Elton John, Hirsch- und Hasenmenschen sowie vier zum Quartett Infernal zusammen geschmiedete, musizierende Rauschgoldengel im Fatsuit. Zugedröhnt mit tütenweise Koks amüsieren sich alle zu Tode. Es geht zu wie bei Edgar Allan Poe auf der Orgie des Prinzen Prospero. Als Zuhörer und Zuschauer kann man freilich nicht auseinanderhalten: Wer ist das choralbetende Chorvolk, wer sind die korrupten Minister, wer hackt wem das Händchen ab und wer, zur Hölle, singt wann was? All dies ist wegen der weithin unverständlichen englischsprachigen Version nebst sinnverkürzender Übertitelung letztlich egal. Und so zieht sich das in die Länge.

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Anders an der Wiener Staatsoper: Da vergeht die Zeit wie im Flug. Auch dieses große Haus, als konservativ verschrien, macht seine Hausaufgaben eigentlich skandalös spät: Die Neuinszenierung des Grand Macabre ist eine »Erstaufführung«. In Wien wurde das Werk allerdings schon zweimal auf anderen Bühnen gezeigt, 1994 und 2012. An der Staatsoper hat Intendant Bogdan Roščić jetzt eine Bombenbesetzung zusammengekauft. Maestro Pablo Heras-Casado, im Graben, schlägt nicht nur ein flotteres Tempo an als Guggeis. Er ist auch beweglicher in den dynamischen Abstufungen, schärfer und zugleich transparenter im Klangbild und, vielleicht das Allerwichtigste: Er und die Wiener Philharmoniker haben, was die Interaktion mit dem Bühnengeschehen angeht, die Hosen an. Man singt auf deutsch, schier jedes Wort ist zu verstehen. Anders als in Frankfurt teilt sich am Ende auch der Sinn von zwölftönigem Spiegelkanon und Passacaglia wie von selbst mit: Wenn Nekrotzar sich auflöst, wird es ernst. Wenn das wunderholde Liebespaar (Maria Nazarova und Isabel Signoret), das die Weltuntergangspanik verpasste, wie eh und je wieder in Terzenseligkeit erblüht, dann ist klar: Das Geheimnis der Liebe ist stärker als das Geheimnis des Todes. 

Georg Nigl als Nekrotzar und Gerhard Siegel als Piet vom Fass an der Wiener Staatsoper • Foto © Michael Pöhn

Georg Nigl singt den Nekrotzar. Eine Naturgewalt, zum Fürchten. Sobald er auftaucht, steht er im Fokus. Verströmt Gefahr im Verzug, eine geradezu angststinkende Aura – halb lachhaft cholerische Witzfigur, halb hitlerstalinputinesker Eisklotz. Und wenn er dann im letzten Bild in sich zusammensackt. Vor sich hinsabbernd wie einst Hans Moser, ein Verlierer, volltrunken und gescheitert: Dann tut er uns nur noch leid. Der Komet ist vorbeigerauscht, Breughel-Land gerettet. Der Tod hat versagt. Einer der zwölf Tänzer, die zur Kulisse gehören in dieser pastellfarbenen Inszenierung von Jan Lauwers, wiegt ihn nun sanft in den Armen, wie Maria den toten Christus. Auch aus dem aufgeblasenen fahlen Pferd des Möchtegern-Weltzerstörers ist jetzt die Luft raus. Ligetis Regieanweisung verlangt, dass Nekrotzar, Zar aller Nekrosen, immer kleiner wird und verschrumpelt, im Erdboden verschwindend. Das ist szenisch schwer möglich. Nigl tritt also ganz einfach ab. Und scheint bei jedem Schritt unsichtbarer zu werden.

Marina Prudenskaya ist eine vital strahlende Mescalina. Sarah Aristidou eine nachtköniginnenreife Venus und auch als Chef der GePoPo beeindruckend. Wenn sie himmelhoch zu singen beginnt, ihre verführerisch loreleiartigen Propagandagirlanden skandierend, dann hebt sie auch physisch ab. Ihr riesiger pastellkarierter Reifrock fliegt in die Höhe. Sie fängt an, zu schweben, getragen von einem oder mehreren Tänzern. Gerhard Siegel als kurzbehoster, sonorer Piet vom Fass und Wolfgang Bankl als klangprächtiger Astadamors baumeln ebenfalls am Ende in der Luft, geknüpft an Wagenräder, die aus dem  Schnürboden herabgelassen sind. Wie sie einander da kopfüber versichern, dass sie den vermasselten Weltuntergang offenbar überlebt haben, sieht das für einen Moment so aus, wie von Bruegel gemalt.

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Werktreu könnte man diese Inszenierung von Lauwers nennen. Er ist seines Zeichens Maler, Poet, Theatermensch und Choreograph. Sein Bühnenbild ist zwar praktisch, aber fad: Ob es unbedingt nötig ist, ein Bruegelwimmelbild in unregelmäßige Streifen zu zerschneiden, nur, damit man zwischendurch auf und abgehen kann, sei dahin gestellt. Doch Lauwers Personenführung ist kongenial. Die Tänzer, in ihren hautfarbenen Trikots, sind im Hintergrund allgegenwärtig, sie bilden, in klassischen Posen, die Orchestergesten ab. Die Sängerfiguren, im Vordergrund agierend, gewinnen so eine gewisse Lebens-Autonomie. Nicht für eine Sekunde lang vergisst man, dass alles nur Theater ist. Und doch trifft jeder Satz, jede Geste, mitten ins Herz. Einmal tritt auch Lauwers selbst am Rande auf, er stolpert mitten hinein ins dritte Bild, als Zaungast am Fürstenhof. Gleich kommt einer seiner Tänzer gelaufen und trägt ihn wieder raus. Merke: Ein Regisseur hat auf der Bühne nichts zu suchen. ¶


… lernte Geige und Klavier, studierte Musik-, Literatur- und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, promovierte über frühe Beethoven-Rezeption. Von 1994 bis 1997 Musikredakteurin der Zeit, von 1997 bis 2018 bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seither wieder freelance unterwegs. Seit 2011 ist Büning Vorsitzende der Jury des Preises der deutschen Schallplattenkritik.