Der Preis von Bachs Matthäus-Passion, der Mutter aller Passionen, ist der Schmerz. Jener Rückenschmerz, der viele Menschen befällt, wenn sie drei Stunden auf harten Kirchenbänken sitzen müssen. Oder gar drei Stunden stehen. Ja, es soll immer noch Gegenden geben, wo der Chor die ganze Matthäus-Passion durchstehen muss. Ach, Golgatha!

Solches Stehvermögen war in den drei Aufführungen, von denen hier die Rede sein soll, nicht gefordert. Was das anging, betrat Claus Bantzer in der Hamburger Aufführung mit dem Ensemble Resonanz am 5. März in St. Johannis im Stadtteil Harvestehude sogar Neuland: Er ließ seinen 44-köpfigen Chor reichlich sitzen, sogar fünf Choräle im Sitzen singen. Er ließ den ersten Chor extra sitzen, während der zweite sang, und umgekehrt – selbst wenn das mit einer gewissen Thermik verbunden war. Damit sich dem Publikum die doppelchörige Anlage der Matthäus-Passion auch visuell einpräge. So kann man es machen, und so sollte man es vielleicht sogar machen, denn Choristen, die nicht ständig denken »Wann kann ich endlich wieder sitzen …?«, sondern vielmehr »Obacht, wann darf ich endlich wieder aufstehen«, sind konzentrierter und frischer. Und der Klangqualität eines Chorals wie ›Bin ich gleich von dir gewichen, stell ich mich doch wieder ein‹ tut das Sitzen keinen Abbruch, sondern dient der Sache mehr, als wenn nach der berückenden ›Erbarme dich‹-Arie der ganze Laden aufrauscht. Um genau das zu vermeiden kann man die ›Erbarme dich‹-Arie natürlich auch durchstehen. Das mussten die 70 Sängerinnen und Sänger der Capella St. Crucis bei ihrer Matthäus-Passion am 20. März in der Pauluskirche zu Hannover. Sie standen auch sonst deutlich länger als die Hamburger, und Choräle im Sitzen gab es bei Dirigent Florian Lohmann auch nicht.

Abgesehen von solchen Petitessen demonstrierten beide Aufführung eindrucksvoll, was in den vergangenen Jahrzehnten in Sachen Matthäus-Passion erreicht wurde: Die Chöre – es handelte sich in beiden Fällen um Laienchöre, wenn auch um sehr versierte und qualifizierte  – bewältigen das Mammutprogramm – große Chöre am Anfang, in der Mitte und am Ende, viele kurze zwischendrin und die das Werk prägenden zwölf Choräle – in bewundernswerter Manier, für »live« nahezu perfekt: klangschön, rhythmisch sicher, ziseliert gestaltet. Das ist eine gute Nachricht. Es wird noch besser, wenn man bedenkt, dass es – ohne den Ruhm der genannten Ausführenden schmälern zu wollen – in Deutschland vielleicht nicht hunderte, aber doch dutzende versierter Laienchöre gibt, die die Matthäus-Passion auf diesem oder ähnlichem Niveau zu singen vermögen.

Wie anders war es damals bei der »Wiederentdeckung« im Jahr 1829: Die »Große Passion« Bachs galt als ein Werk von so hohem Schwierigkeitsgrad, dass zunächst niemand an eine vollständige Erarbeitung oder gar öffentliche Aufführung zu denken wagte. Verschämt wurden Teile des Werkes hinter verschlossenen Türen geprobt. Bis dann der 20-jährige Felix Mendelssohn doch ein Konzert wagte. Es fand am 11. März 1829 statt und hatte wenig mit den Aufführungen von heute gemein. Die Anzahl der Mitwirkenden im Chor der Berliner Singakademie war mit etwa 150 Sängerinnen und Sängern stattlich, ansonsten erklang die Große Passion aber eine Nummer kleiner, das heißt, in einer Einrichtung, welche auf die Fassungskraft der damaligen Zuhörerschaft Rücksicht nahm: 16 der 23 Arien beziehungsweise Ariosi fielen weg, ebenso sechs Choräle und einige Rezitativpassagen, die aus damaliger Perspektive den dramatischen Fluss der Musik hemmten.

Heutzutage sind Kürzungen unüblich. In der Regel erklingt die Ganzfassung der Matthäus-Passion, von deren Partitur jede Seite »perfekt« sei. So bringt es Andrew Manze in einem anrührenden Imagefilm auf den Punkt, mit dem der Chefdirigent der NDR-Radiophilharmonie für seine diesjährige Aufführung des Werkes im Großen Sendesaal in Hannover warb:

Manzes Aufführung mit dem NDR-Chor und der NDR-Radiophilharmonie am 18. März fand nicht wie die anderen in einer Kirche, sondern im Konzertsaal statt. Dort ging es dann leider auch für die Große Passion zu wie immer in solcher Umgebung: Applaus zum Auftritt, Applaus nach dem ersten Teil, ausgedehnte Pause mit Sekt und Schnittchen, Applaus zum Aufzug nach der Pause und Applaus am Ende. Und dann das noch: Dreimal klingelte während der Aufführung ein Mobiltelefon, davon die beiden letzten Male offenkundig dasselbe.

Gemeinsam war allen drei Aufführungen, dass in ihnen der Geist der historischen Aufführungspraxis waltete – auch wenn lediglich in der Pauluskirche mit sogenannten historischen Instrumenten und dem vokalistenfreundlichen Kammerton von 415 Hz musiziert wurde. Aber das ist heute nicht mehr entscheidend, denn auch die Musiker der NDR-Radiophilharmonie auf modernen Instrumenten und die des Ensembles Resonanz sowieso befleißigen und erfreuen sich am eigenen sprechenden, wohlartikulierten Spiel und an einer differenzierten Artikulation, die Bach in seinen eigenhändig geschriebenen Stimmen und seiner Partitur verlangt.

Diese Ausdifferenzierung war für Nikolaus Harnoncourt das große Erlebnis, als er 1970 die erste Einspielung der Matthäus-Passion in historischer Aufführungspraxis realisierte. Er hatte zuvor in konventionellen Orchestern oft erfahren müssen, dass diese Artikulationen »normalerweise gleichsam in einem herrlich-harmonischen Klangbrei ertrinken«. Heutzutage, ein knappes halbes Jahrhundert später, hat sich der musikalisch-rhetorische Bach-Stil auch in den großen Orchestern durchgesetzt, zumal die Aufführung im NDR mit Andrew Manze jemand leitete, der vor seiner Dirigentenkarriere eine profunde Laufbahn als Barockgeiger hingelegt hat. Also kein Klangbrei nirgends.

NDR Radiophilharmonie, NDR Chor, Knabenchor Hannover, Solist/innen, Andrew Manze (Leitung): J.S. Bach, Matthäus-Passion; Aufführung vom 18. März 2016

Im Netz finden sich noch einige Aufnahmen aus der sinfonischen Tradition des 19. Jahrhunderts. Wilhelm Mengelberg schlägt im Jahr 1939 im Eingangschor sogar ein etwas rascheres Tempo an als gut dreißig Jahre später Karl Richter – bei dem dauert ›Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen‹ sage und schreibe elf Minuten. 11! Und das ein Jahr nachdem Harnoncourt die Matthäus-Passion neu buchstabiert hatte. Zum Vergleich: Bei den März-Aufführungen 2016 dauerten die Eingangschöre nur etwa sieben Minuten. Auch mag der heutige Betrachter kaum glauben, dass Karl Richters riefenstahlesk anmutende Inszenierung der großen Passion erst 1971, also inmitten der Kanzlerschaft Willy Brandts entstand …

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Matthäus-Passion mit dem Münchener Bach-Chor und Bach-Orchester, Karl Richter (Leitung); 1971

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Matthäus-Passion mit dem Concertgebouw-Orchester Amsterdam, Wilhelm Mengelberg (Leitung) 1939

Wer weiß, vielleicht können sich in Zukunft auch die verbliebenen Freundinnen und Freunde des düsteren sinfonischen Mysterienspiels à la Karl Richter auf »Retro«-Aufführungen und -Aufnahmen freuen, in denen sich dann wieder Klangbrei mystifizierend auftürmt. Vielleicht hätte es nach den Transparenz- und Durchhörbarbeitsexzessen der vergangenen Jahrzehnte sogar auch einen Reiz – Intendanten und Konzertdesigner aufgepasst! Zumindest wetterte kürzlich ja kein Geringerer als Reinhard Goebel gegen die Schmalbrüstigkeit »kammermusikalisch durchhörbare[r] Matthäus-Passion[en]« und warb für mehr Emphase und Pathos, auch wenn er damit sicher kein Zurück zu Karl Richter und Co. gemeint haben dürfte.

Genauso alt wie die Frage nach der rechten Interpretation der Matthäus-Passion ist die nach ihrem Sinn und ihrer Bedeutung für den heutigen Menschen. Mein derzeitiger Ohrwurm aus dem Sopranrezitativ ›Wiewohl, mein Herz in Tränen schwimmt‹ (»So liebt er sie bis an das Ende«) rührt und erschüttert mich, egal in welcher Aufführungspraxis er daher kommt.

Hat diese Stelle oder haben andere die Gemeinde bei der Uraufführung der Matthäus-Passion gerührt oder erschüttert? Wir wissen es nicht, denn über keine (!) der mutmaßlich vier Leipziger Aufführungen Bachs zwischen 1727 und 1742 ist die geringste zeitgenössische Notiz überliefert. Die Menschen dieser Zeit bleiben ein Rätsel.

Sehr viel mehr Aufhebens wurde hundert Jahre später gemacht, bei der Wiederentdeckung. Vier Tage vor dem Konzert der Singakademie im März 1829 schrieb der Berliner Journalist Adolf Bernhard Marx in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung: »Wo sich der Geist des größten Tondichters in all seiner Kraft und Herrlichkeit der Religionsidee als Diener untergeben hat, da müssen wir ihm auf seinem Weg zum Altar folgen, um sein Werk und die Verherrlichung ganz zu fassen, die der Menschengeist in dieser Weihe für die höchste Idee gewonnen hat. Es öffnen sich mit dieser Aufführung die Pforten eines lange verschlossenen Tempels: und wir werden nicht zu einem Kunstfest berufen, sondern zu einer religiösen Hochfeier.« Und Marx formuliert die Erwartung: »Mögen unsere Leser mit andächtiger Ehrfurcht vor Religion und Kunst zu dieser Hochfeier wallen. Wer so hintritt, wird geläutert und erhoben, beides für Religion und Kunst, zurückkehren.«

Was für ein Statement. Wir Heutigen mögen uns während einer Matthäus-Passion an schöner Gestaltung und Durchhörbarkeit erfreuen oder möglicherweise fehlendes Pathos beklagen, aber kehren wir geläutert und erhoben für Religion und Kunst zurück? Auf keinen Fall finden wir in dem Werk jenen absoluten, unbedingten Sinn, den er für Bach und seine Zeitgenossen hatte, nämlich die universale Heilsbedeutung des Leidens und Sterbens Jesu Christi für die Erlösung der ganzen Menschheit, ja der ganzen Schöpfung. Das konnten auch die Menschen im frühen 19. Jahrhundert nicht mehr. Die religiöse Hochfeier, die dem Journalisten Marx 1829 schwante, hatte nichts mehr mit dem lutherisch-orthodoxen Verständnis des Heilswerkes Christi im frühen 18. Jahrhundert zu tun. Darüber war die Aufklärung hinweggegangen. Es war die Zeit, in der man vielerorts mit dem damaligen Cheftheologen Friedrich Schleiermacher Religion mit »Sinn und Geschmack fürs Unendliche« übersetzte.

Bach war da noch ganz anders. In seiner 1736 erstellten handschriftlichen Schönschrift-Partitur der Matthäus-Passion hat er die Bedeutung des Heilswerkes Christi besonders hervorgehoben, indem er sie mit roter Tinte geschrieben hat und zwar in Gestalt jener Choralstrophe, die dem doppelchörigen Eingangschor beigegeben ist:

Die rote Tinte, die sonst in der Partitur nur dem Evangeliumstext vorbehalten ist, nicht aber den Chorälen und den gedichteten Arien seines Textdichters Picander, zeigt, wie ernst es Bach meint.

Und wir? Wir können das nicht mehr, denn »die Form, in der die orthodoxe Theologie diese Bedeutung der Passion Christi goß, ist für uns heute nicht mehr annehmbar: Als stellvertretendes Sühneopfer, mit dem der Zorn Gottes über die in Sünden und Abfall von Gott verstrickte Menschheit beschwichtigt wird«. So formulierte schon im Bachjahr 1985 der Theologe Peter Kreyssig und weiter: »Uns erscheint heute mit Recht diese Vorstellung Gottes als eines Despoten, der willkürlich einen Unschuldigen für zahllose Schuldige schlachten läßt, als eine Beleidigung Gottes durch eine menschliche Projektion.«

Ja, so ist es. Dass Gott ein Opfer braucht, um sich wieder mit uns Menschen zu versöhnen, das glaubt heute – Gott sei Dank! – kein vernünftiger Mensch mehr, außer vielleicht den verblendeten Kämpfern des IS. Aber was ist es dann, was an diesem Stück so fesselt? Zurück zu meinem Ohrwurm ›So liebt er sie bis an das Ende …‹:

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(Matthäuspassion / ›Wiewohl mein Herz in Tränen schwimmt‹; Dorothée Mields (Sopran), mit Collegium Vocale Gent (Chor und Orchester), Philippe Herreweghe (Leitung); Aufzeichnung aus der Kölner Philharmonie von 2010 

Was passiert da eigentlich? Antwort: Ein Quartsprung des Soprans vom d” zum g”, der dann auf dem Wörtlein »liebt« zum e” zurückfließt – alles über dem pochenden E drei Oktavenstockwerke tiefer im Bass. So gibt es diesen kurzen Moment der Reibung, wenn die f”-Sechzehntel im Durchgang auf den liegenden E-Basston treffen und die beiden Oboen d’Amore diese Dissonanz mit ihren Tönen d” und einem Halteton g” anreichern. Drei Sechzehntelmomente lang verweilt die Sopranstimme mit dem »liebt« auf e” in Konsonanz mit dem tiefen E-Basston, bis die Linie weiter abwärts fließt, insgesamt eineinhalb Oktaven weit, um schließlich auf dem c’ »Ende« zu singen. Die beide Silben von »En-de« bilden einen Quartvorhalt mit dem Bass, dessen Linie sich derweil in der Tiefe in seinen pulsierenden Achtelnoten eine kleine Terz bis zum G hochgerankt hat, um am Schluss – wenn der Sopran bereits pausiert – zusammen mit den Sextenranken der Oboen in C-Dur zu landen.

Man kann versuchen, die letzten zwölf Sekunden des Sopran-Rezitativs so mit Worten zu schildern und rein phänomenologisch beschreiben, was da passiert. Aber was ich während diesen zwölf Sekunden fühle, ist ganz anders, nämlich dies:

Alles ist gut. Urvertrauen, Erlösung, it’s all wrong but it’s all right.

Wenn ich nach dem Text Picanders gehe, bin ich geliebt, weil Er, Jesus, mir sein »Fleisch und Blut« in meine Hände vermacht. Das Arioso nimmt Bezug auf das Stück direkt zuvor, in der die Einsetzungsworte des Abendmahls vertont sind. Aber wer will denn heute noch Fleisch und Blut essen? Niemand. Pfui deibel! Natürlich ist es die Musik Bachs, die uns in den Bann zieht. Aber es ist eben nicht nur die Musik, denn auf »lalala« gesungen würde das alles nicht zum Ohrwurm taugen.

Was also ist das Mehr? Nikolaus Harnoncourt hat es, als er über die Matthäus-Passion sprach, einmal schlicht so ausdrückte: »Bach steht unter irgendeiner Dusche von Eingebung. Es gibt kein Wort dafür – vielleicht Vollkommenheit in allem.« Wobei für den jüngst verstorbenen Altmeister zur Vollkommenheit auch der Wahnsinn gehört, den er zum Beispiel in der Altarie ›Sehet, Jesus hat die Hand, uns zu fassen ausgespannt‹ ausgemacht hat:

https://www.youtube.com/watch?v=EUJiEe7ItqY

Letztlich ist Harnoncourts Diktum von der Eingebungsdusche die geraffte, säkularer klingende Zusammenfassung der Bach-Sätze des Philosophen Emile Cioran: »Wenn wir Bach hören, stehen wir Gott aufkeimen, sein Werk ist Gottheit gebärend. Nach einem Oratorium, einer Kantate oder einer Passion muß er existieren. Sonst wäre das gesamte Werk des Kantors eine zerreißende Illusion. […] Wenn man bedenkt, dass viele Theologen und Philosophen Tage und Nächte damit verloren haben, nach Gottesbeweisen zu suchen, und den eigentlichen vergessen haben …«

Wer religiöses Gründeln nicht mag, kann sich natürlich damit begnügen, dass ein Letztes und Wesentliches im Zusammenhang mit Musik nicht sagbar ist. Punkt. Hans Blumenberg, der vor 20 Jahren, am 28. März 1996 verstorbene Philosoph, versuchte es in seinem 1988 erschienenen Buch Matthäuspassion anders: Er stand in kritischer Distanz zu Kirche und Christentum, aber er versucht es erneut mit der Theologie – angestiftet durch den großen Eindruck, den Bachs Matthäus-Passion immer wieder auf ihn gemacht hatte. Blumenberg unternimmt in seinem 300-seitigen Werk eine »Horizontabschreitung«, obwohl er wusste, dass dieses Vorhaben nur ein Paradox sein kann, ein »metaphorisches Ansinnen des Unvollziehbaren«, denn jeder, der sich dem Horizont versuche zu nähern, »würde nur die enttäuschende Erfahrung des Kindes machen, dass sich ihm in jeder Anstrengung ein neuer, nicht minder unerreichbarer Gesichtskreis aufspannte.«

Das Buch ist nicht gerade flockig zu lesen, aber die dort entfalteten Gedanken- und Assoziationsgänge sind überaus originell. Den Vollzug der Passion heute erschließt für Blumenberg Bachs Matthäus-Passion, und zwar ausschließlich. Sie leistet für ihn das schier Unmögliche, die dogmatische Position in einer Weise zum Tönen zu bringen, dass auch im modernen Hörer, trotz seiner Distanz zur Tradition, die Bereitschaft wächst, sich diesen Gott als den seinen gefallen zu lassen, wenn auch nur für die Dauer der Musik, denn: »Musik hat etwas mit Bereitwilligkeit zu tun, Metaphern zu akzeptieren.«

In Bachs Amalgam von Musik und Text kann also auch der nicht- und nachchristliche Hörer die unerhörte Botschaft der Passion annehmen. Der Theologe Thomas Erne deutete dies 2001 so: »Musik ist in dieser Perspektive die Rettung des Textes vor der historischen Kritik, ästhetische Erfahrung folglich eine wesentliche Zugangsbedingung, um religiöse Erfahrung überhaupt machen zu können. Jedenfalls sofern es sich um eine Erfahrung handelt, die nicht einfach jenseits der Arbeit an den Bildern und Geschichten der biblischen Tradition, nur aus der Existenz des Betroffenen oder aus orthodoxem Wissen gewonnen werden soll.« Die Passion Jesu und damit auch der eigentlich furchtbare Gott, der diese Passion – glaubt man der Tradition – fordert, können für den modernen Menschen in dem Gesamtkunstwerk der Bachschen Matthäus-Passion zeitweise wieder Gestalt gewinnen, auch wenn der moderne Mensch sie eigentlich ablehnen muss und soll. Aber zumindest, so ein typischer Blumenberg-Satz, gelte es »Offenheit zum Abwesenden hin zu wahren, weil und insofern es das nie ganz Abwesende ist«.

Eine eher unfreiwillige Stütze für Blumenbergs Annahmen lieferte die vierte und letzte Aufführung der Matthäus-Passion aus diesem März, von der hier die Rede sein soll: Eine 45-minütige Teilaufführung, die unter dem Titel »Matthäuspassion für Kinder« stand und am 19. März, dem Vortag der Aufführung in der Pauluskirche, stattfand. Angekündigt als »Konzert für Kinder von 5–11 Jahren« erklangen unter der Leitung von Florian Lohmann mit den jungen Leuten der U30-Besetzung der Capella St. Crucis Ausschnitte aus Bachs Matthäus-Passion.

Verbunden wurden die Teile durch einen Erzähler mit viel Text. Es wurde bei dieser sehr engagiert vorgetragenen und sicherlich gut gemeinten Performance für die Kleinen überdeutlich, wie schwer der Kern des Passionsgeschehens zu vermitteln ist. Die Quintessenz des Erzählers lautete am Ende: »Und so hatte sich schon am gleichen Abend, als ich zu Bett ging, eine große Ruhe in mir ausgebreitet. Ich wusste: Jesus war nicht wirklich tot. Er war in seinem Grab in tiefen Schlaf gefallen und würde schon bald wieder aufstehen; lebendiger denn je.«

»Jesus war nicht wirklich tot.« Das mag ein für Kinder beruhigender Ausgang sein, lässt aber das christliche Verständnis der Passion dramatisch unterbestimmt und ist ein starkes Argument dafür, die Passion Jesu auch künftig besser der Musik Johann Sebastian Bachs anzuvertrauen als pseudo-elementarisierenden Satzwahrheiten, die den gemeinten Gehalt der Passion über Gebühr ermäßigen. Schon vor fast fünfzig Jahren schrieb die Theologin Dorothee Sölle zur Einleitung eines später berühmt gewordenen Aufsatzes: »Daß die Auferstehung Christi keine medizinisch-naturwissenschaftliche Aussage über die Ungültigkeit eines speziellen Exitus ist, daß sie nicht ein historisches Datum darstellt, wie die Schlacht bei Cannae, daß sie nicht mit den Mitteln einer Archäologie, auch nicht mit einer theologischen, verifiziert werden kann – das sei hier vorausgesetzt.« Dem ist auch heute wenig hinzuzufügen. Insofern ist es schade, wenn in der Erklärung der Passion – und sei es »nur« für Kinder – die Tatsache des wirklichen Todes und des wirklichen Leidens, die da besungen wird, völlig verblasst.

Bitte, diese Kritik soll die Anerkennung für das Engagement der Initiatoren der »Matthäuspassion für Kinder« zu Hannover nicht schmälern! Aber der Nachmittag zeigte eben auch dramatisch, wie schwer der Graben zwischen orthodoxer Dogmatik und heutiger Kindgemäßheit zu überwinden ist, ja, dass es so eigentlich unmöglich ist, da zu harmlos.

Was bleibt? Die Müh’ ist aus für diese Saison, aber die Sehnsucht, sie ist noch da. Die Sehnsucht danach, dass Bachs Musik mir das unerhört-ungehörige Geschehen der Passion Jesu mit seiner roten Tinte unwidersprechlich in Herz und Seele schreibt – und sei es nur für die Dauer der Musik. ¶

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Concentus Musicus Wien, Arnold Schönberg Chor Wien, Wiener Sängerknaben, Nikolaus Harnoncourt (Leitung); ›Wir setzen uns mit Tränen nieder‹ (Schlusschor)

Schon vor der nächsten Passionsmusiksaison gibt es im Kulturbetrieb Matthäus-Passions-Inseln:

Zur Eröffnung des Hamburger Musikfestes am 21. April hat die Staatsoper Hamburg den Regisseur Romeo Castellucci eingeladen, der schon manchen Theaterskandal provoziert hat. Er inszeniert Bachs Matthäus-Passion, die musikalische Leitung hat Kent Nagano.

Beim Leipziger Bachfest kann man die Matthäuspassion am 16. Juni um 20 Uhr in der Leipziger Thomaskirche hören, dem Ort der Uraufführung, der allerdings seit dem 18. Jahrhundert einige Umbauten erfahren hat. John Eliot Gardiner leitet seinen Monteverdi Choir, den Nachwuchschor der Thomaner und die English Baroque Soloists.

... geboren 1966, ist evangelischer Theologe und Journalist. Seit 2014 ist er Chefredakteur des Monatsmagazins zeitzeichen – Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft in Berlin. www.zeitzeichen.net