Text · Grafiken  Wolfgang Beyer (alle CC BY-SA 3.0Datum 9.12.2015

Bei manchen Sätzen aus Bachs h-Moll-Messe empfinde ich eine Art akustisches Schwindelgefühl, wahrscheinlich als Reaktion auf die fast unbegreifliche Komplexität dieser Musik. Ein solcher Satz ist das Qui tollis, das zum Gloria-Teil der Messe gehört.

Johann Sebastian Bach: Messe in h-Moll, Qui tollis peccata mundi, The Monteverdi Choir, The English Baroque Soloists, John Eliot Gardiner (Leitung), Archiv, 1985 · Link zur Aufnahme

Dass man in dieser Musik nicht alles gleichzeitig »hören« kann, gilt im doppelten Sinne: Erstens akustisch, denn auf keiner mir bekannten Aufnahme lassen sich zum Beispiel alle Töne der beiden Flöten wahrnehmen, deren Sechzehntel-Figuren mit geradezu gnadenloser Schönheit aus dem Klangstrom auftauchen und wieder in ihm verschwinden. Alles zu »hören« ist aber zweitens auch als verstehendes Mitvollziehen der einzelnen Verläufe des bis zu neunstimmigen Satzes nahezu unmöglich. Wäre es in diesem theologischen Rahmen nicht etwas unpassend, könnte man sagen, dass man zum angemessenen Bach-Hören über die gleichschwebende Aufmerksamkeit eines Buddhisten verfügen müsste.

Und dann hat man den nahezu lückenlosen allegorischen Subtext einer Ton- und Zahlensymbolik noch gar nicht erwähnt, der eine unerschöpfliche Fundgrube für die Kabbalisten der Bach’schen Musik darstellt. Das reicht von Motiven, die durch ab- und aufwärts gerichtete Tonfolgen schon im Schriftbild ebenso auf das Kreuz verweisen wie die chiastisch überkreuzten Einsätze der Stimmgruppen, bis zu zahlreichen Figurationen der Trinität aus Gott, Sohn und Heiligem Geist: Dreiergruppen in der instrumentalen Besetzung, in Notenwerten oder Taktzahlen und -arten. Und im Hinblick auf die 144 Takte der Bass-Arie Et in spiritum sanctum spekulierte ein Wissenschaftler, hier werde möglicherweise auf die 144.000 Auserwählten angespielt, die in der Johannes-Offenbarung erwähnt werden.

Iván Fischer verweist im Gespräch auf das Duett Et in unum dominum: Ins Manuskript hat der Komponist ein doppeltes J eingetragen, das für »Jesus Juve« (»Jesus, hilf«) steht. Zugleich ist das J (bzw. I) der neunte Buchstabe des lateinischen Alphabets; zwei mal der neunte Buchstabe als Signatur eines Abschnitts, der aus genau zwei mal neun Takten besteht. Dass Bach neben seinen polyphonen Satzkünsten auch noch diese Zahlensymbolik im Kopf haben konnte, führt Fischer mit einer relativ nüchternen Erklärung auch darauf zurück, dass der Komponist offenbar über ein »Mehrfaches an Gehirnzellen« im Vergleich zum Normalmenschen verfügt haben müsse. Er sagt aber auch: »Für uns Musiker ist Bach doch fast so etwas wie eine göttliche Erscheinung.«

Man kann leicht übersehen, dass Iván Fischer regelmäßig Kompositionen von Johann Sebastian Bach programmiert; der Dirigent ist einer der großen Muttersprachler des österreichisch-ungarischen Repertoires, nicht zuletzt als Leiter des von ihm in den 1980er Jahren gegründeten und bis heute weltweit erfolgreichen Budapest Festival Orchestra. Bei kaum einem klingen die Werke von Haydn bis Béla Bartók so authentisch, so fern von Routine einerseits, von interpretatorischer Willkür andererseits. Iván Fischer hat wie Abbado, Mehta oder Jansons bei dem bedeutenden Dirigentenlehrer Hans Swarowsky studiert, er war aber auch Assistent von Nikolaus Harnoncourt am Mozarteum Salzburg. Den Unterschied zwischen den beiden prägenden Persönlichkeiten seiner Lehrjahre hat Fischer in einem Interview für die Berliner Philharmoniker sinngemäß so zusammengefasst: Swarowsky sei es um die Struktur, die Objektivität des Werks gegangen, Harnoncourt habe Musik als »Mittel der Kommunikation« verstanden. Dabei sei Harnoncourt, dessen Abschied vom Konzertbetrieb die Musikwelt gerade erfahren musste, entgegen dem Klischee »niemals dogmatisch« gewesen.

Die Verbindung von Strukturbewusstsein und Kommunikativität bei Abwesenheit jeder Dogmatik konnte man auch in der Aufführung von Bachs h-Moll-Messe Ende November 2015 im Berliner Konzerthaus erleben. Mit dem in der Welt der Alten Musik beheimateten Vocalconsort Berlin und dem »modernen« Konzerthausorchester, dessen Chefdirigent Fischer seit 2012 ist, begegnen sich zwei stilistisch sehr unterschiedliche Ensembles. Umso konzentrierter scheinen sie aufeinander zu hören. In den Proben, die ich besuchen durfte, vermittelt Fischer mit so knappen wie effektiven Angaben, worum es ihm geht: »Sofortiger Enthusiasmus, aber leicht«, empfiehlt der Dirigent zu Beginn des Gloria, wenn die Stimmung, wie mehrmals in Bachs Messe, unvermittelt von stiller Andacht in trompetenschmetternde Festlichkeit umschlagen muss. Im Gratias sollen die Choristen dem Wort »Gloria« jeweils einen Akzent verleihen, ein Ratschlag, der unmittelbar die Struktur der Fuge verständlicher macht. »Der leichte Bass ist der Schlüssel zu diesem Satz«, sagt Fischer an einer Stelle. Beim Crucifixus ermuntert er die Musiker/innen, mit vollem Klang in die Dissonanzen zu gehen.

Johann Sebastian Bach: Messe in h-Moll, Crucifixus, Collegium Vocale Gent, Philippe Herreweghe (Leitung), Phi/Note 1, 2011 · Link zur Aufnahme

Mit dem Cruzifixus, das genau in der symmetrischen Mitte des neunteiligen »Credo«-Abschnitts steht, erreicht die Messe ihr Gravitationszentrum, den tiefsten Punkt des Martyriums. Zwölf Mal wird unter den Seufzern des Chores eine chromatisch absteigende Basslinie wiederholt, bevor beim 13. Mal die Begleitfiguren in Streichern und Bläsern verstummen und der Chor zu den Worten »et sepultus est« (»Er ist begraben«) mit unvergleichlicher Wirkung von e-Moll nach G-Dur moduliert. Sofort schließt sich dann mit einem wiederum radikalen Stimmungsumschwung das Et resurrexit an (die drei Tage zwischen Kreuzigung und Auferstehung finden sozusagen in den Sekunden zwischen den beiden Sätzen statt). Unter Fischers Leitung klingt das tonsymbolisch aufsteigende Motiv mit seiner Triolenfigur tatsächlich wie eine »Aufforderung zum Tanz«.

Johann Sebastian Bach: Messe in h-Moll, Et resurrexit, Collegium Vocale Gent, Philippe Herreweghe (Leitung), Phi/Note 1, 2011 · Link zur Aufnahme

Nicht nur ihres theologischen Gehalts wegen gilt Bachs h-Moll-Messe als ein Heiligtum der Musikgeschichte. Der Komponist vollendete das Werk in seinen letzten Lebensjahren, hielt dabei Rückschau auf seine Vorläufer, mischte Alten und Neuen Stil und verwendete zudem eigene frühere Werke. Die erste Hälfte der Komposition, die beiden Teile Kyrie und Gloria, hatte er als protestantische Missa brevis bereits im Jahr 1733 zusammengestellt. Für die Komplettierung zur großen Messe bearbeitete Bach viel früher entstandene eigene Sätze aus geistlichen und weltlichen Kantaten und sogar Instrumentalwerken. (Dieses Wiederaufgreifen und Neutextieren von älteren Kompositionen war als sogenanntes »Parodieverfahren« allerdings zur Barockzeit nicht unüblich.) So stehen in der Entstehung ungefähr 35 Jahre zwischen dem vermutlich 1749 komponierten Et incarnatus est und dem Cruzifixus, für das Bach auf einen Chorsatz aus einer Kantate des Jahres 1714 zurückgriff. In der vollendeten Messe folgen nun beide Sätze unmittelbar aufeinander. Die vollständige Vertonung des lateinischen Messetextes ist in der lutherischen Tradition ohne Vorbild, weshalb man das Werk schon früh als »katholische Messe« bezeichnete.

Der Komposition, die ein Dokument der Genialität und zugleich der musikalischen Gelehrtheit darstellt, nähert sich Fischer mit einer großen Selbstverständlichkeit, die für sein Musizieren ohnehin charakteristisch ist. In der zweiten Hälfte der Messe experimentiert Fischer bei den Proben mit der Aufstellung des Chors. Stehen die einzelnen Stimmgruppen im ersten Teil auf fünf getrennten Podesten (der erste Sopran in der Mitte der Bühne), so wechseln die Choristen im zweiten Teil, der vier-, fünf- und sechstimmige Sätze und im Osanna sogar einen achtstimmigen Doppelchor vorsieht, mehrfach die Positionen: Die Sänger/innen formieren sich zur Reihe, gruppieren sich als Doppelchor um die Mitte als Spiegelachse, beim Schlusschor stehen sie vorne auf der Bühne, zwischen Dirigent und Publikum. Für diesen Schlusschor, das Dona nobis pacem, hat Bach, zum Zeichen der Einheit des Werks, noch einmal auf die Musik des Gratias agimus tibi aus dem ersten Teil zurückgegriffen:

Johann Sebastian Bach: Messe in h-Moll, Dona nobis pacem, The Monterverdi Choir, The English Baroque Soloists, John Eliot Gardiner (Leitung), Archiv, 1985 · Link zur Aufnahme

Bachs Musik sei zugleich »kompliziert« und »organisch«, sagt Iván Fischer.

Die Rolle des Dirigenten definiert er dabei im Tonfall einer souveränen Bescheidenheit: »Er muss den Musikern helfen.« Er solle der »Guardian of the unity sein«, hat Fischer an anderer Stelle einmal gesagt. Und als Hüter der Einheit hat man den Dirigenten auch in der Aufführung von Bachs h-Moll-Messe erlebt. ¶

... studierte Literatur- und Musikwissenschaften und arbeitet als freier Dramaturg und Journalist unter anderem für den Tagesspiegel.

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