Tschaikowski-Neueinspielung
Alles wird lyrischer
Der größte Wumms der Klavierliteratur dürfte künftig an Wucht verlieren, glaubt man den Betrachtungen der neuesten Tschaikowski-Forschung.
Text Julia Kaiser · Illustration Tobias Ruderer
Dutzende Aufnahmen des Klavierkonzertes Nr. 1 von Peter Iljitsch Tschaikowski wurden weltweit eingespielt. Doch interpretiert wird das Werk dabei in einer Fassung, die der Komponist selbst wahrscheinlich nie zu Gesicht bekommen hat.
Das Tschaikowski-Museum und -Archiv in Klin bei Moskau, wo der Komponist seine letzten Lebensjahre verbrachte, bereitet anlässlich des 175. Komponistengeburtstages in diesem Jahr eine neue Kritische Urtextausgabe seines Gesamtwerkes vor. Besonders aufsehenerregend verspricht in dieser Veröffentlichung die Rückkehr zu einer fast vergessenen, doch vom Komponisten selbst geschriebenen Fassung von Tschaikowskis Klavierkonzert Nr. 1 zu werden. Der russisch-amerikanische Pianist Kirill Gerstein hatte schon vorab Einblick in die Forschungsunterlagen, erkannte die Sensation und hat daraufhin das in dieser Version noch nie aufgenommene Werk eingespielt, gemeinsam mit dem Deutschen Symphonie-Orchester unter der Leitung von James Gaffigan. Die CD erscheint in Deutschland am 13. März bei myrios classics (MYR16).
Die Finger aus größtmöglicher Höhe auf die Tastatur hinabstoßen und im Fortissimo auf dem Klavier ein ganzes Orchester an die Wand spielen – damit könnte es bald vorbei sein. Zumindest für Interpreten von Tschaikowskis Klavierkonzert Nr. 1. »Wie Bomben klingen die ersten Akkorde im Klavier«, sagt Kirill Gerstein, »es war bisher so eine Art pianistischer Stolz, der Spielangabe ›möglichst laut‘ besonders gerecht zu werden.«
Um zu entdecken, dass dieses erschütternde Fortissimo und auch andere bombastische Effekte vermutlich nie vom Komponisten gewollt waren, lohnt es sich, die Geschichte des Werkes zu betrachten. Erst die aktuelle Forschung des Tschaikowski-Archivs konnte nun klären, wie viele Fassungen des 1. Klavierkonzertes es überhaupt gab. 1874 schrieb Tschaikowski das Werk. Er widmete es seinem Freund und Pianistenkollegen Nikolai Rubinstein, doch dieser kritisierte es vernichtend. In einem Brief an seine Gönnerin Nadeschda von Meck entrüstete sich der Komponist damals:
Ich spielte den ersten Satz. Nicht ein Wort, nicht eine Bemerkung … Ich fand die Kraft, das Konzert ganz durchzuspielen. Weiterhin Schweigen. ›Nun?‹, fragte ich, als ich mich vom Klavier erhob. Da ergoss sich ein Strom von Worten aus Rubinsteins Mund. Sanft zunächst, wie wenn er Kraft sammeln wollte, und schließlich ausbrechend mit der Gewalt des Jupiter Tonans. Mein Konzert sei wertlos, völlig unspielbar. Die Passagen seien so bruchstückhaft, unzusammenhängend und armselig komponiert, dass es nicht einmal mit Verbesserungen getan sei. Die Komposition selbst sei schlecht, trivial, vulgär. Hier und da hätte ich von anderen stibitzt. Ein oder zwei Seiten vielleicht seien wert, gerettet zu werden; das Übrige müsse vernichtet oder völlig neu komponiert werden.
Nicht eine Note änderte Tschaikowski und schickte die Partitur stattdessen dem Pianisten Hans von Bülow, der beglückt antwortete: »Ich bin stolz auf die Ehre, die Sie mir mit der Widmung dieses herrlichen Kunstwerkes erwiesen haben, das hinreißend in jeder Hinsicht ist.« Von Bülow spielte die Uraufführung des Werkes ein Jahr später, 1875 in Boston.
Eine zweite Fassung entstand kurze Zeit später. »Ein ganz normaler Prozess im Leben eines Werkes«, erklärt Kirill Gerstein. Tschaikowski habe das Werk einige Male gehört und auch selbst dirigiert und daraufhin einige kleinere Änderungen vorgenommen. »Nicht im musikalischen Material selbst, sondern eher zu Gunsten pianistischer Leichtigkeit und Bequemlichkeit.« 1879 wurde diese Fassung gedruckt, und Tschaikowski dirigierte sie selbst in den folgenden Jahren immer wieder, bis zu seinem Tod 1893.
»Und dann kommt diese interessante Nebelperiode.« 1894 erscheint eine dritte Fassung auf dem Markt, »das ist Tschaikowskis Klavierkonzert Nr. 1, wie wir es als Zuhörer und auch als Pianisten heute kennen«, sagt Kirill Gerstein. »Doch nach den neuen Erkenntnissen der Tschaikowskiforschung ist sehr klar, dass diese dritte Fassung nicht von Tschaikowski geschrieben ist und er sie auch nicht autorisiert hat. Es gibt keine Korrespondenz, die unterstützt, dass die Änderungen von ihm sind. Anscheinend ist sie von Alexander Siloti, einem Schüler von Tschaikowski und Liszt.«
Ungewöhnlich war dieser Vorgang nicht. In den Salons des späten 19. Jahrhunderts galt der Interpret mehr als der Komponist. Es war gang und gäbe, dass Notentexte von Fremden überarbeitet und sogar neu gedruckt wurden. »Denken wir nur an Busoni, so manche Komposition dürfte durch seine Bearbeitung gewonnen haben. Bei Tschaikowskis Werk war es umgekehrt.« Auch von seinem 2. Klavierkonzert wurde durch den Pianisten Alexander Siloti eine Neufassung erstellt, die aber kaum noch gespielt wird. Für das 1. Klavierkonzert war die Lage bisher unübersichtlicher, weil von der Neufassung schon bald viel mehr Exemplare im Umlauf waren als vom Original. Dass in dieser Druckfassung verschwiegen wurde, dass sie nicht vom Komponisten revidiert worden war, sei sicher auch eine kommerzielle Entscheidung gewesen. Und vielleicht entsprach sie auch dem Geschmack der Zeit, vermutet Kirill Gerstein.
»In allen Sätzen gibt es deutliche Änderungen. Die pompösen Fortissimo-Akkorde zu Beginn des ersten Satzes stehen in der Fassung des Komponisten nur im Forte, viel passender zum Mezzoforte im Orchester. Vor allem aber sind sie arpeggiert, also sind die Töne nicht gleichzeitig gespielt, sondern wie auf eine Perlenschnur aufgereiht. Sie erinnern an den Klang einer russischen Volksharfe. Das ist durchaus naheliegend, denn Tschaikowski interessierte sich sehr dafür, westliche Klassische Musik mit russischer Volksmusik zu verschmelzen.« Die metrische Flexibilität für die Melodie in den Streichern sei dadurch viel größer.
»Der gesamte Anfang, der berühmteste Teil des Klavierkonzertes ist dadurch nicht so eine triumphale Sache, sondern alles wird lyrischer, und der musikalische Ausdruck gewinnt eine andere Nuance.«
»Im 2. Satz der Neufassung steht ein prestissimo, das so schnell zu spielen ist, dass die Melodie wie Cartoon-Musik klingt. Tschaikowskis eigene Markierung lautet dagegen allegro vivace, was dem gesamten Teil ein lebendiges Walzertempo gestattet.«
»Aus dem 3. Satz ist ein langsamer Teil ganz herausgenommen, doch dieser Schnitt destabilisiert die Balance des ganzen Teils. Diese Musik hat also noch niemand je gehört.«
»Und schließlich die berühmten Oktavsprünge im 3. Satz. Tschaikowski hier einen langsamen Vokaltriller geschrieben, der fließend in das letzte Wiederaufleben der Melodie übergeht. Ohne die bekannten Zirkus-Saltos am Ende, und ohne die pompöse Fermate, an die wir uns schon so gewöhnt haben.
Alle Musikbeispiele aus Tschaikowsky / Prokofjew: Klavierkonzerte 1/2; Kirill Gerstein (Klavier), Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, James Gaffigan (Dirigent); Myrios (Harmonia Mundi)
Das Deutsche Symphonie-Orchester teilte Kirill Gersteins für die wiederentdeckte Fassung des Werkes. »Sie waren erst sehr vorsichtig, weil sie ändern sollten, was sie teilweise seit 40 Jahren auf dem Pult stehen haben.« Doch schon bald habe sich das gemeinsame Gefühl eingestellt, dass diese Fassung frischer und musikalisch sympathischer sei. »Viele Musiker sind nach der Aufnahme zu mir gekommen und sagten, es mache Spaß, diese Fassung zu spielen, die auf Klischees verzichtet.«
Die Änderungen an Tschaikowskis Original sind augenfällig und erscheinen aus heutiger Sicht anmaßend und, so Kirill Gerstein, nicht dem Werk dienlich. »Dieser Vorgang verdeutlicht, innerhalb welch kurzer Zeit nach dem Tod eines Autors oder Komponisten sein Werk verschwinden oder verändert werden kann, ohne dass es bemerkt wird.«
Ganz unbemerkt blieb der Eingriff übrigens nicht. Pianisten und Komponisten aus dem engen Umfeld von Tschaikowski, wie Sergej Tanejew und Pawel Pabst wiesen schon kurze Zeit nach dem Aufkommen der Überarbeitung darauf hin, dass diese Fassung nicht gültig sei. Ein früherer Pianistenschüler Tschaikowskis, Alexander Goldenweiser, unternahm in den 1950er Jahren noch einmal einen Versuch, zur zweiten Fassung zurückzukehren. Vergeblich. »Goldenweiser hatte nicht den Zugang zu allen Quellen, die uns jetzt verfügbar sind.«
Heute aber seien alle Zweifel ausgeräumt, sagt Kirill Gerstein, denn das Tschaikowski-Archiv habe die Dirigierpartitur etabliert, die Tschaikowski selbst zuletzt in Händen hielt. Am 28. Oktober 1893 dirigierte der Komponist in St. Petersburg die Uraufführung seiner 6. Symphonie. Im ersten Teil des Konzertes erklang sein 1. Klavierkonzert. »Und da sehen wir das, was er meinte, was sein Klavierkonzert sei – acht Tage, bevor er gestorben ist.« ¶