Stefan Herheims neuer Berliner Ring des Nibelungen endet, bevor er sich schließt: mit der Götterdämmerung vor dem Siegfried. Wobei der Untergang von allem ja zwangsläufig ist – aber doch nicht so! Ein Debakel, aber mit Ereignissen.
Selten so lapidar erlöst worden: Die Reinigungskraft mit medizinischer Maske fegt auf der Bühne zusammen, und natürlich wischt sie auch einmal über diesen gottverdämmerten Flügel, der bereits durch den ganzen Ring des Nibelungen geflattert ist, welchen Stefan Herheim an der Deutschen Oper Berlin inszeniert, als Nachfolger des legendären Götz-Friedrich-Rings (Sie wissen schon, der mit dem Zeittunnel). Aber was heißt hier ganzer Ring? Die Corona-Turbulenzen zerschlugen ja alle Pläne, und der Ring fügte sich dann zusammen, als hätt’ ihn ein mürrischer Zwerg neu geschmiedet: zuerst die Walküre (vorzeitige Todesverkündigung damals im VAN Magazin), anschließend Rheingold (a new hope), und der Siegfried wird gar erst im November folgen, im ersten Gesamtzyklus dann. Weisst du wie das wird? Man fürchtet, ja.
Und was heißt schon geflattert bei diesem Flügel? Er steht ja stock und steif im Bühnenbild, kein Musikmöbel, sondern stumme Immobilie, selbst wenn er dauernd rein und raus fährt oder auch mal rauf und runter. So wie es überhaupt viel Bewegungssimulation in dieser Inszenierung gibt, die sich wie dauerhibbeliger Stillstand anfühlt. Etwa das permanente An- und (dann allerdings wiederum stets nur halbe) Ausziehen von Hauptpersonal und Statisterie. Überhaupt – aber das nur am Rande – die ewigen Unterkleider in Operninszenierungen! Hier pure Weißwäsche. Wenn die doch wenigstens was druntertrügen, wie der alte Samt- und Seidenfetischist Wagner es ausgesucht hätte.
Auch in dieser Götterdämmerung ist wieder all das da, was schon bisher nur mäßig funktionierte: nicht nur dieser Flügel also, durch dessen Korpus das Personal auftritt oder verschwindet und an dem jetzt ständig irgendwer pantomimisch mitklimpert. War’s im Rheingold noch der Möchtegern-Strippenzieher Wotan, so erinnert’s jetzt (wie ein öffentlich-rechtlicher Kritiker in der Pause bemerkt) an ein Bahnhofsklavier, wo jeder mal darf. Das mag als Regie-Idee bewusst dafür stehen, wie hier alle Weltordnung komplett aus den Fugen gelaufen ist. Aber im Bühnenleben wirkt es, wie mein Sohn sagen würde, komplett random: eben genau das zu tun, nämlich einfach alles aus den Fugen laufen zu lassen.

Immerzu wird der Flügel abgedeckt und wieder aufgedeckt, abgedeckt und aufgedeckt mit jenen gemeinen Baumwolllaken (ebenfalls unwagnerisch purweiß), die auch wieder da sind, allgegenwärtig gewedelt, so dass man den Regisseur zwischendurch am liebsten in seine eigenen Laken einwickeln würde, um ihn an der nahgelegenen Caprivibrücke in der Spree zu versenken. Ja, zu solcherlei bösen Einfällen kann es den sich mopsenden Zuschauer hinreißen an diesem sehr langen Abend! Die Pausen ufern lüftungsbedingt aus wie in Bayreuth, nur halt ohne Kneipp-Anlage in angrenzenden offenen Feldern, dafür mit Döner in der Bismarckstraße. Die Corona-App checkt einen automatisch nach vier Stunden aus, was natürlich auch für eine kurzpausigere Götterdämmerung nicht reichen würde, deren maßlos epischer erster Aufzug ja allein fast so lang dauert wie das ganze Rheingold und länger als eine komplette Oper von, sagen wir mal, Leoš Janáček. Am Platz darf man mittlerweile ohne Maske sitzen, und man hofft inständig, dass dieser Wagemut nicht trotz 3G-Regel Lücken ins ja nicht immer spritzjunge Opernpublikum reißen wird.
Schwarzalbiges Gedankengut also, aber das ist bei einer Götterdämmerung ja systemimmanent, muss es sein. Auch die Berge alter Koffer sind natürlich wieder dabei, eine übermächtig in unsere Köpfe gebrannte Bildchiffre für das hier wohl gar nicht gemeinte Auschwitz (eine Problematik, auf die Ulrich Amling bereits nach der Walküre im Berliner Tagesspiegel hinwies). Ich, und sicher nicht nur ich, also: wir ahnen sehr wohl, in welche Richtung das alles will, nämlich irgendwie zur ewigen Selbstsuche des schauenden und spielenden Menschen. Nur hält sich eben die Lust, dem nachzugrübeln, in Grenzen, einfach weil das alles mangels Bühnenleben kein Interesse aufkitzelt.
Stattdessen freut man sich kindlich über gelegentliche Gags (Siegfried hopst gegen eine Lampe) und sogar über eine neue Kulisse im Bühnenbild, selbst wenn es die abgedroschenste überhaupt ist: die Selbstbespiegelung der Oper und des Publikums. Auf einmal ist da nämlich das Parkettfoyer des Hauses auf der Bühne, mitsamt der markanten Wolkenplastik von George P. Baker. Und in diesem Gibichungenfoyer kommt es zu den stärksten Momenten. Das liegt zum einen daran, dass es einfach … eine halbwegs leere Bühne ist.
Zum anderen aber am interessantesten Rollenporträt dieser Götterdämmerung, das bei der Premiere allerdings eine geradezu tragikomische Schlagseite bekommt. Denn der sicherlich normalerweise profunde Bassbariton Gidon Saks ist angeschlagen, hörbar angeschlagen sogar, derart, dass er keinesfalls hätte auftreten sollen, auch nicht mit Intendanten-Ankündigung einer »Indisposition«. Dass aber Saks‘ Hagen trotz der krankheitsbedingten stimmlichen Malaise zur eindrucksvollsten Figur wird, ist ein paradoxes Ding. Darauf können sich sowohl der Darsteller Saks als eben auch der Regisseur Herheim doch was einbilden.

Pechschwarzkomödiantisch ist dieser hagere Hagen, ein Joker vom faulen Fleisch des Jokers Alberich, den Jürgen Linn mit genauerer Diktion und sehr agiler Häme singt. Aber dass der arme, kranke Hagen-Saks hier klingt, als wären ihm die Mundwinkel tatsächlich blutig aufgeschnitten und nicht bloß jokerhaft geschminkt, wirkt glatt wie eine List der höheren Vernunft des Grauens. Das Zusammentreffen der beiden Finsterlinge, in der vom Dirigenten Runnicles sehr flott genommenen Noctambulszene zu Beginn des zweiten Aufzugs, ist eindrucksvoll anders. Und als man gegen Schluss diese Götterdämmerung endgültig als Debakel abzuhaken geneigt ist, reißt wiederum dieser charismatische Hagen was raus, wenn er als durchgeknallter, zuckender Horrorclown beim Trauermarsch zum Nothungmotiv das Schwert in die Luft reckt und dem toten Recken den Kopf abschlägt und dann am Bühnenhorizont Wotan auftaucht und der Hagenjoker Angesicht in Angesicht mit dem bald zur Ruhe gehenden Göttervater sich selbst in Siegfried zu verwandeln sucht. Das ist alles absolut unschlüssig (auch wenn Herheim im Interview meint, dass Hagen »selbst eine von Wotan gelenkte Spielfigur« sei). Und doch gewinnt es für mich eine Art von großartig wahnwitziger Plausibilität, einfach weil hier die monströse Mythenmaschine Ring, die sich zuvor allzu oft in Kleinteiligkeiten und Gemeinissen verlor, derart überdreht, dass es einfach packt und (Irr)Sinn ergibt.
Andere starke Momente gibt’s auch, die aber dann oft in der Luft hängen bleiben. Auch der Tarnhelm sieht aus wie Alberichs Jokermaske, und dergestalt maskiert erscheint nicht nur Siegfried, sondern mit ihm Gunther als Doppel-Unhold auf dem lakenbedeckten Flügel vulgo Walkürenfelsen, wo nach Wagners Vorstellung die zur »Frau« gewordene Brünnhilde auf den hehren Gatten zu harren hat. Die beiden Männer singen Siegfrieds Originalpart im Wechsel, das ist gruselig, höchst effektvoll – und bleibt doch folgenlos. Wenn Gunther mit durchs Feuer ging und Weib wie Ring mit-eroberte, müsste das nicht alles ändern? Im zweiten Aufzug ist es aber, als wär nichts gewesen. Wozu also, außer eben für den effektvollen Moment?

Vor dem Doppel-Unhold ist jemand anders auf dem Felsen erschienen, und das sind die sängerisch vielleicht hellsten Momente des ganzen Abends: Die Waltraute von Okka von der Damerau (die demnächst in Stuttgart selbst die Brünnhilde singen wird) hat das imposanteste Weh und zeichnet zugleich ein hochdifferenziertes Rollenporträt auf kleinem Raum, ein Fest der Nuancen. Sängerisch ist überhaupt vieles fein. Vorzüglich ist etwa dieser Gunther, den Thomas Lehman mit starkem Weißwurst-Faktor gibt, ohne seine Figur aber zu denunzieren. Im Gegenteil, am Ende wird Lehman in seinem elenden Gunther gar die Würde des Weicheis verteidigen. Und Clay Hilley, ebenfalls Amerikaner, hat als Siegfried zwar auf unvorteilhafte Regie hin das heldentenorale Riesenbaby zu geben, aber ist gerade in den leisen Tönen einnehmend. Dass freilich sein Held mehr wäre als ein Hanswurst, kann Hilley kaum mehr als andeuten. Es wird ihm eben auch von den Bühnenumständen alles andere als leichtgemacht.
Das Orchester unter Donald Runnicles klingt wieder gewohnt solide und kompakt; mit einem »Toningenieur« vergleicht Runnicles im Interview seine Aufgabe, oder einen Teil seiner Aufgabe. Ein emotionales Plus bringen am ehesten (gruppen)solistische Stellen, die Celli, und mitunter leuchtet das Blech. Aber auch wenn man die orchestrale Stabilität nicht geringschätzen sollte: Es fehlt doch das gewisse Wagner-Extra, Farben und Flirren und Emotionalität. Am stärksten gelingt’s im Straffen, wenn‘s dramatisch ordenlich zur Sache geht, wie in der Konfrontation im zweiten Aufzug.
So trägt das Orchester seinen Teil zu dem von der Regie verantworteten Hauptproblem bei, der dann doch unverzeihlich ist: dass diese Götterdämmerung einen kaltlässt. Man kann Wagner gern auf den Kopf stellen oder ihm die Beine langziehen. Nur eine Götterdämmerung, die einen nicht tangiert, weder berührt noch wehtut – das geht nicht. Selbst ihr Schluss, das Ende von allem und Anfang von allem, will einen hier nicht anfassen.
Und dennoch, ganz totzukriegen ist das Ende nicht. Denn da ist ja noch Nina Stemme als Brünnhilde. Ihr Sopran mag seinen Zenit überschritten haben (die Strahlkraft dort oben, etc pp), aber ihre Kunst ist eben, auch wenn sie sich mittlerweile ein paar Meter vom Gipfel entfernt haben mag, immer noch in sehr großer Höhe unterwegs. Und da steht nun Nina Stemme als Brünnhilde am Ende einfach an der Rampe, Erbin der unbeerbbaren Kirsten Flagstad und Birgit Nilsson, Starke Scheite schichtet mir dort, und da ist die ganze Chose mit gemeinen Laken und Klavier, die irgendwie immer weiterläuft, auch egal.