Laut einer Statistik des Deutschen Musikinformationszentrums gehen 70  Prozent aller freischaffenden Musiker einer Nebenbeschäftigung nach – eine Tatsache, die gerne totgeschwiegen oder zumindest geschickt verschleiert wird. Dabei befinden sich die Musiker:innen mit Nebenerwerb historisch betrachtet in guter Gesellschaft: Viele berühmte Komponist:innen waren multiprofessionell  aufgestellt, manövrierten sich mit Nebenbeschäftigungen durch wirtschaftliche Engpässe oder schlugen sogar gänzlich andere Karrierewege ein. Wir stellen die zehn skurrilsten Nebenjobs vor. 


Johann Sebastian Bach als Investor

Soli Deo Gloria – Gott allein [sei] die Ehre – notierte Johann Sebastian Bach unter seinen Kompositionen. Diese Widmung ist nicht nur das Glaubensbekenntnis eines frommen Mannes – sie kann auch als  Wunsch nach Freiheit von weltlichen und geistlichen Gönnern gelesen werden, von denen das wirtschaftliche Überleben von Musikern des 18. Jahrhunderts im Wesentlichen abhing. 

Weil man von Gottes Gnade allein aber nicht leben, geschweige denn eine Familie ernähren kann, hangelte sich Bach im Laufe seines Lebens von einer Festanstellung zur nächsten. Allesamt waren mit unliebsamen administrativen Verpflichtungen verknüpft. So war er als Leipziger Thomaskantor nicht nur dafür zuständig, die wöchentlichen Gottesdienste musikalisch zu gestalten, sondern sollte außerdem die Tertianer und Quartianer der Thomasschule in Latein zu unterrichten. Diese Aufgabe ging Bach so sehr gegen den Strich, dass er dem damaligen Konrektor Geld dafür zahlte, ihn als Lateinlehrer zu vertreten. Wer weiß, vielleicht war das ja der Moment, in dem sich zum ersten Mal der Wunsch nach einem passiven Einkommen in ihm regte?  1741 erwarb er jedenfalls Anteile an dem Silberbergwerk St. Ursula im sächsischen Freiberg. Der Wert belief sich auf etwa 60 Taler, was einer heutigen Kaufkraft von etwa 4.000 Euro entspricht. Eine teure Investition und eine hoch spekulative dazu: Der Kauf einer sogenannten Kux rentierte sich für die Anleger nur, falls die Arbeiter der Zeche auf einen ungewöhnlich großen Silberfund stießen. Das war aber nur selten der Fall, meist fraßen die laufenden Betriebskosten der Silberstollen das Geld der Investoren auf, ohne dass diese aus ihrer Anlage Kapital schlagen konnten. Auch St. Ursula warf keinen Gewinn ab. So blieb Bachs Silberrausch ein Verlustgeschäft.


Alexander Borodin als Chemiker

Aldolreaktion, entdeckt im Jahre 1872 von Alexander Borodin

»Für andere ist die Komposition Aufgabe, Arbeit, Pflicht, bedeutet sie das ganze Leben; für mich ist sie Ruhe, Spaß, eine Laune.« So beschrieb Alexander Borodin sein Verhältnis zum Komponieren. Zwar gehörte er zusammen mit Mili Balakirew, César Cui, Modest Mussorgski und Nikolai Rimski-Korsakow der sogenannten »Gruppe der Fünf« an, die gemeinsam die russische Musiktradition erneuern wollten, doch saß er nur in seiner Freizeit am Notenpult. Seine Arbeitstage gehörten dem Labor der medizinisch-chirurgischen Akademie in St. Petersburg, wo er eine Professur für organische Chemie innehatte und sich unter anderem als Lehrer für die medizinische Ausbildung von Frauen einsetzte. Er entwickelte eine Methode zur Bestimmung von Harnstoffen und publizierte wissenschaftliche Abhandlungen über die Geschichte von Fluorverbindungen.


Elfrida Andrée als Telegraphistin

Im Jahr 1856 schrieb Elfrida Andrée einen Brief an den schwedischen König. Ihr Anliegen: Die Ausübung des Organistenamtes sollte zukünftig auch Frauen gestattet werden. Der König fand die Vorstellung von Frauen an der Orgel nicht überzeugend und lehnte ab. Elfrida, die gerade erst im zweiten Anlauf für das Organistenexamen an der Hochschule für Musik in Stockholm zugelassen worden war, ließ sich nicht entmutigen. 1859 startete sie einen zweiten Versuch – und hatte Erfolg. Der König änderte das Gesetz. Andrée wurde in Göteborg zur ersten weiblichen Domorganistin und blieb es bis zu ihrem Tod im Jahr 1929. Nebenbei schrieb sie bis heute beliebte Orgelsinfonien, Orchesterwerke und Lieder.

Das Erfolgserlebnis von 1859 muss den Geist des Aktivismus in ihr geweckt haben, denn neben ihrem musikalischen Schaffen engagierte sie sich außerdem in der schwedischen Frauenrechtsbewegung. Dabei scheint ihr stets klar gewesen zu sein, dass ein Einkommen von der Kunst allein alles andere als gesichert war, gerade als Frau, und so absolvierte sie zusätzlich eine Ausbildung zur Telegraphistin, was damals ein Beruf mit Zukunft war. Ganz Europa durchzog damals ein engmaschiges Telegraphennetz, erst 1851 war das erste transatlantische Seekabel zwischen Frankreich und England durch den Ärmelkanal verlegt worden. Telegraphisten waren allerorts gefragt und konnten gute Gehälter verlangen. Dass auch Frauen in Schweden ab 1863 in diesem Beruf tätig sein konnten, ist ebenfalls Andrée zu verdanken, die auch hierzu – mit Erfolg – das entsprechende Gesuch beim schwedischen König eingereicht hatte. 


ANZEIGE


Philip Glass als Klempner

New York gehört zu den teuersten Städten der Welt. Wer es dort als Künstler:in schaffen will, braucht entweder einen gut laufenden Aktienfonds oder ein zweites Standbein. Mit über 40 Jahren war Philip Glass deshalb noch auf Nebenverdienste angewiesen, obwohl er in Kreisen der musikalischen Avantgarde längst ein Star war.

Also fuhr er Taxi oder verrichtete als Klempner kleine Haushaltsreparaturen – und sorgte damit für nicht selten für Verwirrung. Kunstkritiker Robert Hughes zum Beispiel traute seinen Augen kaum, als er eines Tages bei den Renovierungsarbeiten in seiner Küche nach dem Rechten sehen wollte und dort niemand Geringeres erblickte als den berühmten Komponisten Philip Glass, der gerade dabei war, seine Spülmaschine einzubauen. Mit Glass’ Oper Einstein on the Beach stellten sich zum Glück erste kommerzielle Erfolge ein. Am Tag nach der Premiere an der Metropolitan Opera setzte sich Glass, so erzählt der Komponist im Guardian, trotzdem ins Taxi und absolvierte wie üblich seine Touren. Bei dieser Gelegenheit tippte ihm eine teuer gekleidete Kundin auf die Schulter und rief erstaunt aus: »Wissen Sie, dass Sie den gleichen Namen haben wie ein sehr berühmter Komponist?« 


Steve Reich als Umzugshelfer

Steve Reich gilt heute als Pionier der Minimal-Music. Leben konnte er davon lange Zeit nicht. Anstatt sich mit Unterrichten über Wasser zu halten, wie es viele seiner Kolleg:innen taten, entschied er sich bewusst fürs Taxifahren und nächtliche Sortieren von Briefen bei der American Post. Diese Jobs strengten ihn zwar körperlich sehr an, aber er sparte dadurch kreative Energie, die er für seine Musik verwenden konnte. Gemeinsam mit Philip Glass, mit dem er einst gemeinsam die Juilliard School of Music besucht hatte, verwirklichte er kurzzeitig noch eine andere Geschäftsidee: Unter dem Namen Chelsea Light Moving verdingten sich die beiden Komponisten als Umzugshelfer schleppten Möbel von einem Haus ins andere.


Ethel Smyth als Autorin

Sie hatte mit Johannes Brahms über Musik gestritten, mit Suffragette Emmeline Pankhurst Fensterscheiben fürs Frauenwahlrecht eingeworfen, mit Queen Victoria Tee getrunken, der Schriftstellerin Virginia Woolf leidenschaftliche Liebesbriefe geschrieben und als erste Frau eine Oper an der Metropolitan Opera uraufgeführt. Kein Zweifel: Dame Ethel Smyth hatte ein bewegtes Leben. Als der Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Aufführung ihrer Opern vereitelte und ihr das Komponieren aufgrund einer fortschreitenden Taubheit zunehmend schwer fiel, suchte sie sich kurzerhand eine alternative Einkommensquelle und schrieb ihre Memoiren nieder. 1919 erschien ihr Erstlingswerk Impressions That Remained und feierte große Erfolge. In den folgenden Jahren veröffentlichte Ethel Smyth insgesamt 9 weitere autobiographische Bücher und schlug damit zwei Fliegen mit einer Klappe: Sie besserte ihre persönlichen Finanzen auf und nutzte gleichzeitig ihre neu gewonnene Sichtbarkeit, um auf die gesellschaftliche Diskrimminierung von Frauen aufmerksam zu machen. Auch heute lesen sich Ethel Smyths Erlebnisberichte als flammende Plädoyers für weibliche Selbstbestimmung: So fordert sie In ihrem letzten Buch What Happened Next ganz unmissverständlich: »Ich möchte, dass Frauen sich großen und schwierigen Aufgaben zuwenden. Sie sollen nicht dauernd an der Küste herumlungern, aus Angst davor, in See zu stechen.«


Schumann als Redakteur

Rebell und Romantiker Robert Schumann wollte die Grenzen der Vernunft sprengen und die Welt mit Worten und Klängen verzaubern – ganz egal ob als Komponist, Konzertpianist oder Dichter. Seine musikalisch-literarische Doppelbegabung nutzte er, um 1834 die Neue Zeitschrift für Musik zu gründen. Sie sollte als Sprachrohr der zeitgenössischen Ästhetik eine »neue poetische Zeit« einläuten und nebenbei als finanzielle Absicherung dienen. Den Traum einer Laufbahn als Konzertpianist hatte Schumann nämlich wegen anhaltender Schmerzen in der rechten Hand begraben müssen und auch die Komponistenkarriere wollte noch nicht so recht Fahrt aufnehmen. Dafür lief es mit der Neuen Zeitschrift für Musik umso besser: Schon im Gründungsjahr verkaufte sie sich mit einer Auflage von 400 Exemplaren für die damaligen Verhältnisse ausgesprochen gut. Grund für den Publikumserfolg mag der kühne, poetische Stil gewesen sein, der sich von dem nüchternen Ton etablierter Medien unterschied. Unter Verwendung verschiedener Pseudonyme rezensierte Schumann höchstpersönlich die Werke seiner Musikerkollegen – und hielt mit seiner Meinung nicht hinterm Berg: Während er das Nachwuchstalent Johannes Brahms als ein Genie »an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten« in den Himmel lobte, beschimpfte er den Komponisten Carl Banck (der sich pikanterweise zeitgleich mit Robert Schumann um die Gunst der jungen Clara Wieck bemühte) als »elenden Fingerier« mit »moralwidrigem Nasenwurf«, dessen Gesicht wie »das offene Feldgeschrei des Skandals« aussehe.   


Charles Ives als Versicherungsmakler

Atonale Akkordfolgen in den Streichern fügen sich zu einer bewegungslosen Fläche zusammen. Wie einsame Satelliten am Nachthimmel blitzen zwischendurch in den Bläsern einzelne Melodiefetzen auf. So klingt der Beginn von Charles Ives’ berühmten Kammerorchesterstück Central Park in the Dark von 1906. Ives’ experimentelle und collagenhafte Klangsprache passte nicht zum Massengeschmack des amerikanischen Publikums, das damals lieber historisierende Musik im europäischen Stil hörte. Fest entschlossen, sich von diesen konservativen Konventionen nicht die Feder führen zu lassen, setzte Ives nach abgeschlossenem Kompositionsstudium an der Yale University auf einen Broterwerb jenseits der Kunst und gründete die Versicherungsgesellschaft Ives & Myrick. Äußerst erfolgreich verkaufte er teure Lebensversicherungen und wurde so zu einem wohlhabenden Mann. Am Wochenende zog er sich auf seinen Landsitz in Connecticut  zurück, um in aller Ruhe zu komponieren. Doch die Doppelbelastung als Unternehmer und Künstler forderte ihren Tribut: 1918 erlitt er einen Herzinfarkt, woraufhin er das Komponieren fast gänzlich einstellen musste. 


Antonio Vivaldi als Priester

»Il prete rosso« – der rote Priester– nannten die Leute den Kaplan der venezianischen Kirche Santa Maria della Pietà. Der Spitzname bezog sich auf niemanden geringeren als Antonio Vivaldi, der mit seinen roten Haaren jedem Kirchgänger sofort in Erinnerung blieb. Obwohl Antonio früh durch musikalisches Talent auffiel und schon als Junge als Violinist im Markusdom auftrat, hatten seine Eltern eine andere Laufbahn für ihn vorgesehen: Geistlicher sollte der Junge werden Mit 25 Jahren empfing er die Priesterweihe und stand bald täglich auf der Kanzel. Nach zwei Jahren kehrte er dem Amt den Rücken – angeblich aus gesundheitlichen Gründen. Vivaldi klagte wiederholt über eine »Enge in der Brust« – wahrscheinlich chronisches Asthma. Oder vielleicht doch die psychosomatische Äußerung einer ungelebten Liebe zur Musik? 

Vivaldis endgültiger Abschied vom Kirchendienst läutete eine Blütezeit seines musikalischen Schaffens ein: Als Maestro des berühmten Mädchenorchesters des Ospedale della Pietà – einem Waisenhaus für Mädchen – komponierte er zahlreiche Violinkonzerte und erste Opern.



Arnold Schönberg als Maler

Der berufliche Weg des Erfinders der Zwölftonmusik  begann in der Welt der Zahlen. Als 16 jähriger machte Arnold Schönberg eine Lehre als Bankangestellter und arbeitete fünf Jahre im Finanzwesen. Nach Feierabend eilte er auf direktem Wege in den Wiener Prater oder in die Hofoper. Erst als die Bank Werner & Co Insolvenz anmelden musste, konnte sich Schönberg voll und ganz der Musik widmen. In den Jahren 1907-1913 kam es jedoch zu einem Intermezzo mit einer anderen Kunstform: Arnold Schönberg begann zu malen: intensive, rätselhafte Landschaften, Selbstbildnisse und Porträts. Vor allem letztere hoffte er wohl, für gutes Geld an die feine Wiener Gesellschaft zu verkaufen. Doch die Wiener waren von Schönbergs expressionistischer Malerei ebenso verstört wie von seinen Experimenten im Bereich der Musik. Die Fachwelt jedoch zeigte sich anerkennend: 1910 wurden einige seiner Gemälde in München auf einer Ausstellung des »Blauen Reiter« gezeigt – eine Künstlervereinigung zu der immerhin auch Größen wie Franz Marc, Gabriele, Münter und Wassily Kandinsky gehörten. Mit letzterem verband Arnold Schönberg eine enge persönliche Freundschaft.


Honorable Mention: Erik Satie als Barpianist

»Jeder wird Ihnen sagen, ich sei kein Musiker. Das stimmt«, sagte Erik Satie über sich selbst.  Seinen Lebensunterhalt bestritt der Exzentriker, der das Konservatorium abgebrochen hatte und dafür bekannt war, jeden Tag den gleichen braunen Samtanzug zu tragen, aber durchaus im Orbit der Musik. Die Tätigkeit ist also dem Komponieren näher als bei allen anderen hier erwähnten Kandidatinnen und Kandidaten, Satie sei aber trotzdem erwähnt, denn sein damaliges Arbeitsumfeld schien sehr eindrücklich gewesen zu sein: Er arbeitete als Barpianist im legendären Chat Noir, einem Kabarett im Pariser Künstlerviertel Montmartre. Dort improvisierte er gemeinsam mit Claude Debussy am Klavier, trank mit dem englischen Kronprinz Albert Absinth und war überhaupt mit der gesamten Pariser Bohème auf Du und Du. Hin und wieder soll er sogar selbst hinter der Bar gestanden haben. Dieser Lebensstil gab ihm die Freiheit, seine ganz eigene musikalische Sprache zu entwickeln, die er Musique d’ameublement nannte: Schlichte Hintergrundmusiken mit dadaistisch anmutenden Spielanweisungen. »840 Mal wiederholen« heißt es etwa unter seinen Vexations und unter einem anderen Klavierstück: »wie eine Nachtigall mit Zahnschmerzen«.

Der Arbeitsalltag in der Demi-Monde barg aber auch Gefahren. So kam es nicht selten vor, dass die Löhne im Chat Noir in Form von alkoholischen Getränken ausgegeben wurden. 1925 starb Erik Satie an einer Leberzirrhose. ¶


… lebt in Berlin und arbeitet als freischaffende Sängerin und Musikjournalistin (u.a. für Opernwelt, Crescendo, TAZ).