Der achtzehnte Thomaskantor nach J.S. Bach kommt aus der Schweiz. Falls er kommt. In Leipzig streitet man heftig um Mitbestimmung, seit einige Thomaner mit fünf Monaten Verspätung gegen das Auswahlverfahren protestierten. Volker Hagedorn erkundet hörbare und weniger hörbare Motive im Stimmengewirr.
Der Mann war dritte Wahl. Lieber hätte die Stadt einen echten Promi gehabt; es ging um die musikalische Leitung einer Kirche und ihres Knabenchores, den es seit gut 500 Jahren gab. Der renommierte T., in Leipzig wohlbekannt, sagte ab; er hatte nur um eine bessere Bezahlung seines Jobs in Hamburg gepokert. Den von ihm empfohlenen G. hätte man gern genommen, er war selbst Thomaner gewesen; er kam aber von seiner aktuellen Stelle in Darmstadt nicht weg. Blieb der jüngste Bewerber, ein 38jähriger Thüringer ohne Leipziger Vorgeschichte. Am 29. Mai 1723 meldete eine Zeitung, die sechs Kutschen des »nach Leipzig vocirten Cantori Figurali« seien samt Familie und Hausrat eingetroffen.
Knapp dreihundert Jahre nach Johann Sebastian Bachs Amtsantritt als Thomaskantor liest man andere Neuigkeiten aus Leipzig. Wieder ist ein Thomaskantor designiert, wieder – das gab es lange nicht – einer von auswärts. Anders als Bach hat er Probedirigate absolviert, anders als 1723 wurde nicht an der Kirche vorbei entschieden. Zur Auswahlkommission gehören sechzehn Frauen und Männer, darunter der langjährige Stimmbildner der Thomaner, der Vorstand des Gewandhausorchesters, die Leiterin der Thomasschule, die Thomas-Pfarrerin, der Direktor des Bach-Archivs, die Kulturbürgermeisterin, eine Professorin für Chorleitung, der Leiter des Knabenchors Hannover.
Trotzdem scheint Leipzig kurz vor einem Bürgerkrieg zu stehen, wenn es um die Frage geht, ob Andreas Reize – 45 Jahre alt, mit bester Expertise in der Leitung von Knabenchören, dem Orgelspiel, der Orchesterleitung, mit sieben Studienabschlüssen und zehn Preisen – sein Amt antreten soll. Wie alle Kandidaten hatte er im Sommer zwei Tage Zeit, mit dem Chor zu arbeiten. Dass er nie Thomaner war, dafür aber ein Schweizer Katholik ist, spielt explizit keine Rolle in einem »Hilferuf« an einige Redaktionen, in dem vor zwölf Tagen Elft- und Zwölftklässler der Thomasschule den designierten Thomaskantor für ebenso ungeeignet erklärten wie das Auswahlverfahren. Das geschah fünf Monate nach der Entscheidung für Reize und ist in Leipzig mittlerweile ein größeres Thema als Corona.
Warum so spät? Schon früh, so die Choristen, hätten sie sich an die Stadt gewandt mit den Vorwurf, »manipuliert« worden zu sein im Auswahlverfahren. Ex-Thomaskantor Georg Christoph Biller dagegen mutmaßt, »dass jemand den Jungs diesen Floh ins Ohr gesetzt hat.« Inzwischen haben sich dem Brief der »Obernschaft«, so heißt der aus den ältesten Choristen gebildete Vorstand, 90 ehemalige Thomaner angeschlossen. In Leserbriefen und social networks wird heftig polarisiert, Medien berichten, die Leipziger Volkszeitung fast täglich.
Sachlicher Kern des »Hilferufs« ist: Der Kandidat aus der Schweiz habe beim Proben manche Fehler nicht korrigiert, und die Thomaner selbst hätten keine Stimme gehabt, um den von ihnen bevorzugten Bewerber David Timm zu unterstützen, der Universitätsmusikdirektor und selbst Ex-Thomaner ist wie die vorigen Kantoren Gotthold Schwarz und Georg Christoph Biller. Und wie Martin Petzold, ein renommierter Tenor, Pfarrerssohn und Leipziger Urgestein, der als Stimmbildner des Chores diesen in der Kommission vertrat und, nach eigenem Bekunden in der LVZ, von Reizes Probenstil »umgehauen« war.
Wie auch der Rest der Kommission, die ihre Entscheidung öffentlich verteidigte und darauf hinwies, dass die jungen Chorsänger keineswegs ausgeschlossen waren. Sie wurden um ihre Eindrücke und um ein Votum gebeten, waren an den Beratungen beteiligt, zwei von ihnen nahmen an allen Gesprächen mit den Kandidaten teil. Im finalen Votum durften sie nicht mitstimmen. Mächtig sind die Wortführer des Chores mitsamt ihrem Resonanzraum in der Leipziger Bevölkerung dennoch. Das erwies sich schon 1992, als ebenfalls ein Auswärtiger zum designierten Thomaskantor wurde, ein profilierter Vertreter historischer Aufführungspraxis, die es in Leipzig sehr schwer hatte. Hermann Max erlebte so viel Widerstand, dass er seine Berufung nicht annahm.
Auf einen Rückzug des Schweizers hoffen nun wohl auch jene Choristen, die »schon während der Vorstellungsphase massiv Stimmung« machten »gegen die auswärtigen Kandidaten«, so der Sänger und Stimmbildner Petzold, dem schon das Wort »Verräter« nachgerufen wurde, weil er für Reize stimmte. Inzwischen wird rund um die Thomaskirche nur noch schmutzige Wäsche gewaschen: Wer was und wen warum verhindert und befördert haben könnte… Unterm Strich sich häufender Stellungnahmen steht indessen ein großer Elefant im Raum pandemischer Konzertstille, nämlich die unausgesprochene Überzeugung vieler, nur ein gelernter Thomaner dürfe den Chor leiten.
Die freilich hat mit Kunst so viel zu tun wie im Bereich der Literatur der Protest gegen die niederländische Übersetzerin, der Amanda Gorman ihr Gedicht The Hill We Climb anvertraut hatte. Als Weiße könne sie sich nicht in eine Schwarze Autorin hineinversetzen, lautete eine Ansage, die zur Polarisierung führte. Mareike Rijneveld zog sich zurück. Vielleicht berühren sich alte Motive im Protest gegen Andreas Reize mit neuen identitätspolitischen Tendenzen, nur verschwiegener. Es wäre ja bei einem Chor, der sich auf dem internationalen Level seines berühmtesten Chefs JSB bewegen will, auch misslich, wenn die Welt den Eindruck gewänne, dass man in Leipzig den Stallgeruch bevorzugt.
Das fortissimo der Querelen hat indessen wohl auch einiges mit dem langen Schweigen auf den Podien, Bühnen, Emporen zu tun – es ist das ganz große Ersatzkonzert, das hier gespielt wird. Und im Ruf nach mehr Mitbestimmung für die Jungs und jungen Männer schwingt vielleicht eine aktuelle Erfahrung mit, die ebensowenig auf Leipzig beschränkt ist – die nämlich, im Lockdown tun und lassen zu müssen, was eine Runde von Experten und Politikern für richtig hält.
P.S. Die früheste Querele um das hehre Amt gab es übrigens schon lange vor Bach. Im Frühjahr 1655 vertrieb man den designierten Thomaskantor Johann Rosenmüller aus der Stadt, wegen unbewiesener Gerüchte über sein Sexleben. Der geniale Mann, Ex-Thomaner und Protestant, etablierte sich im toleranten Venedig und hat dort wunderbare katholische Kirchenmusik geschrieben. ¶