Zum Gespräch treffe ich Jörg Widmann in dessen Berliner Lieblingsrestaurant, während der Unterhaltung schiebt man uns immer wieder frisch zubereitete asiatische Speisen zwischen die ausgebreiteten Notenblätter. Der Komponist und Klarinettist, der in Freiburg lehrt und lebt, hält sich gerade in Berlin auf, weil das Deutsche Symphonie-Orchester (DSO) an diesem Tag mit Kent Nagano die Suite aus Widmanns Oper Babylon aufführen wird. Ein (unvollständiger) Überblick über die vorangegangenen und folgenden Auftritte Widmanns allein in Berlin: Im letzten Dezember brachten Yefim Bronfman, die Berliner Philharmoniker und Simon Rattle sein erstes Klavierkonzert zur Uraufführung (»Ein neuer Klassiker ist diese Komposition«, meinte der Kritiker des Kulturradio), bei der MaerzMusik stellte sich Widmann der kräftezehrenden Herausforderung, ein gesamtes Konzert nur mit zeitgenössischen Solowerken für die Klarinette zu bestreiten, Anfang Juni wird Daniel Barenboim, wieder bei den Philharmonikern, den symphonischen Hymnus Teufel Amor dirigieren. Im November schließlich spielt Widmann beim Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin (RSB) ein eigenes Werk, eines von Weber und gibt bei diesem Konzert außerdem sein Debüt als Dirigent des Orchesters. Bis weit ins 19. Jahrhundert waren Komponisten selbstverständlich auch als konzertierende Instrumentalisten tätig, seit der Romantik zunehmend auch als Dirigenten. Heute, da sich die Arbeitsteilung längst im Musikbetrieb durchgesetzt hat, ist Widmann auch in dieser Hinsicht eine absolute Ausnahmeerscheinung. Da er in Zukunft noch mehr dirigieren möchte, wird er seine Freiburger Professuren für Klarinette und Komposition eine Weile ruhen lassen.Bei einem Meisterkurs habe ich gehört, wie Widmann ungeheur inspiriert über Schumann, einen meiner Lieblingskomponisten, gesprochen und ihn als einen seiner »Hausgötter« bezeichnet hat. Die Zuneigung zu Schumann verbindet, vielleicht auch, weil er immer eher zu einer verstreuten Gemeinde der Einzelnen als zum Publikum als Kollektiv gesprochen hat.
VAN: Wie hast Du Schumann kennengelernt, was waren Deine ersten Eindrücke?
Widmann: Schon als Kind hörte und studierte ich die Fantasiestücke für Klarinette und Klavier. Das ist ein Stück, das mich seitdem aufs Schönste begleitet, das ich immer wieder aufführe. Meine musikalische Jugendliebe war trotzdem eigentlich Brahms, zu dem ich gerade auf wundersame Weise zurückfinde. Aber im Studium ist dann meine Begeisterung für Schumann neu entflammt.
Als Instrumentalist ist Dir die körperliche Dimension der Musik sehr präsent. Gibt es einen spezifischen Tonfall, eine bestimmte Sprachlichkeit und »Körperlichkeit« in der Musik Schumanns?
Clara berichtet einmal, Schumann sei ohne erkennbaren Grund auf Zehenspitzen durchs Zimmer gelaufen. Tatsächlich gibt es diesen elfenhaften Auf-Zehenspitzen-Gestus, einen Ausdruck des Schwebenden, so eigentlich nur bei ihm.
Aber auch seine Beziehung zur Sprache fasziniert mich. Ich finde, für die Musikkritik ist er die wichtigste Figur durch alle Zeiten hindurch, da ist er unerreicht geblieben. Überhaupt sind die deutsche Sprache und die Musik nie eine so glückliche Verbindung eingegangen wie bei Schumann, besonders natürlich auch in seinen Vertonungen von Heine- und Eichendorff-Gedichten.
Wo kommt Schumann in Deinen Kompositionen vor?
Ich würde behaupten, dass es eigentlich in jedem meiner Stücke eine Stelle gibt, die eine Schumann-Hommage ist. Mein Cellokonzert Dunkle Saiten ist ein 50-minütiges, exzessives Stück über Schumanns Persönlichkeit und sein Cellokonzert. Es geht um Schizophrenie, und an den entscheidenden Stellen taucht immer wieder das von Schumann so geliebte a-Moll auf.

Fieberkurven: Trauer und Überschwang
A-Moll ist auch die Tonart von Gustav Mahlers 6. Sinfonie, die wie Dunkle Saiten von einem »gefällten Helden« erzählt. Es gibt bei Widmann nicht nur viele verdeckte Referenzen, sondern auch ausdrückliche Schumann-Hommagen wie die Fieberphantasie mit ihrer »Fieberkurvenmelodik« und elf Klavierstücke, die wie Schumanns op. 20, »Humoresken« heißen.
Widmann: Bei Schumann spürt man immer: Es gibt da eine unendliche Trauer und einen ebenso unendlichen Überschwang. Schumanns Stücke im Volkston für Cello und Klavier stehen unter dem Motto »Vanitas vanitatum«, das vom Prediger Salomon stammt und in den Umkreis von fatalistischen Texten gehört, die später auch Bernd Alois Zimmermann inspiriert haben. Die Vortragsbezeichnung des ersten Stücks lautet dann aber: ›Mit Humor‹. Wie soll man das zusammenkriegen?
Verrückungen: Vom Beschaulichen zum Unheimlichen
Wie versteht man einen Humor, der sich vor der absoluten Vergeblichkeit zu bewähren hat? Es sind gerade solche Paradoxien, in denen sich die Modernität Schumanns zeigt. Seine innere Gespaltenheit hat Schumann früh in den erfundenen Gestalten von Florestan und Eusebius personalisiert. Den Konflikt zwischen stürmischem Jüngling und bedächtigem Grübler hat man Schumann zeitweise als biedermeierlichen Rückzug ins Beschauliche ausgelegt. Aber bei Schumann fällt, ganz im Sinne Sigmund Freuds, das »Heimliche« oft genug mit seinem Gegensatz, dem »Unheimlichen« zusammen.
Widmann: Der Anfang von Schumanns Dichterliebe hat mich immer an Anton Weberns Musik erinnert. Das erste Lied, Im wunderschönen Monat Mai, beginnt mit einem cis im Auftakt, im Bass des Klaviers erklingt direkt im Anschluss ein d.
Cis-d, eine krasse Dissonanz, die auch nachdem sich die Harmonik besänftigt hat weiter im Untergrund des Stücks rumort. Widmann sagt, der »Wahnsinn« des Komponisten komme in seiner Musik als »Verrücktheit«, im wörtlichen Sinne als syntaktische »Ver-Rückung« zum Ausdruck. In der Musik sorgen ja gerade die kleinen Abstände, in der Rhythmik die Synkope, in der Harmonik die Dissonanz, für die größte Irritation. Bei Schumann finden sich viele Stellen, in denen die Dissonanz nicht in ihrer traditionellen, damals »regulären« Funktion als Durchgangsstadium zur Konsonanz aufgeht.
Märchen, Geister und Dämonen
Unter den letzten Werken Schumanns findet man die Märchenerzählungen op. 132 für Klarinette, Bratsche und Klavier, neben den früheren Fantasiestücken das einzige Kammermusik-Werk, das der Komponist für Widmanns Instrument geschrieben hat.
Widmann: Der langsame Satz gehört zum Unglaublichsten. Er klingt, als würde er schon seit 1.000 Jahren gespielt und wir bekämen nur einen Ausschnitt zu hören. Der letzte Satz wird dann mit einem Aufwand beendet, als käme nicht ein 18-minütiges Kammermusikwerk, sondern eine große Sinfonie zum Abschluss.
Dass in Schumanns Spätwerk etwas nicht an seinem Platz ist, dass die Proportionen nicht mehr stimmen, hat man oft behauptet. Der letzte Satz des viele Jahrzehnte unter Verschluss gehaltenen und erst 1937 uraufgeführten Violinkonzerts zum Beispiel, diese Polonaise, die im geforderten langsamen Tempo auf der Stelle zu treten scheint. Eine ähnlich gehemmte Bewegung, die sich regelrecht »festfrisst«, findet Widmann auch in Schumanns allerletztem Werk, den sogenannten Geistervariationen für Klavier, die im unmittelbaren zeitlichen Umfeld von Schumanns Selbstmordversuch, dem »Sprung in den Rhein«, und seiner Einlieferung in die Heilanstalt in Endenich bei Bonn entstanden sind. Schumann soll erzählt haben, dass ihm das Thema im Zustand der größten Verzweiflung von den Engeln Schuberts und Mendelssohns vorgesungen worden sei. Dabei klingt es, so Widmann, unverkennbar nach Schumann, der den Anfang des Themas zudem bereits im langsamen Satz seines Violinkonzerts verwendet hatte. Choralhaft, eigentümlich hymnisch und still beginnen die Geistervariationen:
Widmann: Das Thema ist auf ein ununterbrochenes Fließen angelegt. Ich stelle mir immer vor, dass es eigentlich von vier Hörnern gespielt werden müsste. Aber schon im zweiten Teil fließt etwas hier überhaupt nicht mehr, es ist, als ob der Taktstrich buchstäblich im Weg stehen würde. Zudem stehen die Variationen in Es-Dur: Schumann soll einen Tinnitus auf dem Ton a gehabt haben. Kann es etwas Schlimmeres geben, als ein Thema in Es-Dur zu schreiben, während man immer den Ton a im Ohr hat?
Die Töne es und a bilden zusammen einen »Tritonus«, das Intervall, das als »Diabolus in musica« bezeichnet wird und in der Musikgeschichte lange Zeit regelrecht „verboten“ war. Und es ist dieser Ton a, der in der letzten Variation (die Schumann möglicherweise erst nach dem gescheiterten Selbstmordversuch geschrieben hat) als schockierende Dissonanz immer wieder auftritt. Widmann erkennt hier in der linken Hand das Thema der Geistervariationen in einer zweiten Tonart, die zur Grundtonart Es-Dur einen verstörenden Kontrast bildet.

Widmann: Nimmt man diese Gegenstimme ernst, dann ist das echte Bitonalität. Solche Stücke sollte man eigentlich bei den Donaueschinger Musiktagen aufführen.
Auf Schumanns Geistervariationen hat sich Jörg Widmann in seinen 11 Humoresken bezogen. Im vorletzten, Lied im Traume betitelten Stück, in dem der Ton a mit fünffachem Sforzato in die Musik einbricht. Das letzte Stück der Humoreske heißt dann, ganz im Geiste Schumanns: »Mit Humor und Feinsinn«. ¶