Im Jahr 1841 schaffte man in Schweden die Stock-Bestrafung ab, bei der die Füße von Gefangenen mittels eines Holzblocks fixiert werden, so dass der jeweils Bestrafte beispielsweise der Öffentlichkeit zwecks Demütigung »präsentiert« werden kann. Im selben Jahr wurden die beiden Stockholmer Bordelle »London« und »Stadt Hamburg« geschlossen. Ebenfalls 1841 gründete sich in der Stadt Borlänge die Schwedische Regierungsagentur für Straßenverkehr (Vägverket), die über 170 Jahre bestand und erst 2010 mit der Schwedischen Bahngesellschaft (Banverket) fusioniert wurde. Gleichzeitig gelten die 1840er Jahre in Schweden als erste feministische Emanzipationsepoche, wie man in einem hervorragenden und ausführlichen Artikel von Katrin Losleben erfährt.
Ebenfalls im Jahre 1841, am 19. Februar, wurde Elfrida Andrée in Visby auf der südschwedischen Insel Gotland geboren. Ihr Vater – ein musikkundiger Propst und Priester – gab ihr Unterricht in Harmonielehre, Klavier und Gesang. Mit acht Jahren wurde Andrée dem Domorganisten von Visby vorgeführt, der vermutlich bald ihr Orgellehrer wurde. Früh sammelte sie Auftrittserfahrungen, übte sich täglich in Sachen Blattspiel und musizierte mit ihrer Schwester im Elternhaus. Ihr Vater sorgte derweil in Stockholm vorbereitend für eine durchstrukturierte Netzwerkarbeit; man traf sich mit allen einflussreichen Musiker:innen der Region und erteilte Elfrida Andrée daraus resultierend zunächst Unterricht in Englisch, Deutsch und Französisch.
Ab 1855 studierte Andrée Gesang bei dem bedeutenden Opernsänger Julius Günther (1818–1904), Klavier bei dem Moscheles- und Hummel-Schüler Jan van Boom (1807–1872) und Orgel bei dem renommierten Organisten und Komponisten Gustav Adolf Mankell (1812–1880). 1857 legte Andrée als erste Frau Schwedens ihr Orgelexamen ab. Möglicherweise von Mankell besonders zum Verfertigen eigener Werke angeregt studierte sie ab 1859 Komposition bei Ludvig Norman (1831–1885), der einst in Leipzig Kontakt zu Robert Schumann gepflegt hatte. (Normans grüblerische Symphonien gehören in Schweden bis heute durchaus zum aufführungspraktischen Musikgeschichtsinventar.)
Andrées Fähigkeiten am Klavier führten zu einer Korrepetitionsstelle an der Stockholmer Oper. Warum Andrée im Frühling des Jahres 1860 nun eine Ausbildung zur Telegrafistin begann, darüber lässt sich nur spekulieren. Katrin Losleben betont, dass zu der besagten Zeit schwedischen Frauen der Zugang zu einer Telegrafistinnen-Ausbildung per Gesetz verwehrt war. Andrées große Sprachkompetenzen machten es der jungen Frau jedoch leicht, die nötigen Prüfungen in Englisch, Deutsch und Französisch zu bestehen. Zugleich kämpfte sie mit ihrem Vater zusammen um die offizielle Erlaubnis, als Frau in diesem Beruf arbeiten zu dürfen. Auch der hauptamtliche kirchliche Orgeldienst durfte damals nicht von Frauen verrichtet werden. Gegen diese Regelung setzte sich Andrée ebenfalls zu Wehr. Beide Anstrengungen verliefen erfolgreich: Am 8. März 1861 – Bestrebungen, aus dem 8. März den Internationalen Weltfrauentag zu machen, gab es erst in den 1910er Jahren – gestattete König Karl XV. den Frauen des Landes, hauptberufliche Organistinnen zu werden. Und ab 1863 durften Frauen schließlich als Telegrafistinnen ihren Lebensunterhalt bestreiten.
Ab 1861 wirkte Andrée als Orgel-Interpretin und Gesangslehrerin in Stockholm. Von 1867 an bis zu ihrem Tod war sie festangestellte Organistin an der Kathedrale von Göteborg. 1870 nahm Andrée in Kopenhagen bei Niels W. Gade (1817–1890) ein Studium in Instrumentation auf und reiste in den Folgejahrzehnten mehrere Male nach Deutschland, wo ihre Werke immer wieder aufgeführt wurden. Die Musik Andrées traf dabei vor allem in ihrem Heimatland auf viel Interesse und Zuspruch und wurde vielfach ausgezeichnet.
In Stockholm engagierte sich Andrée für »Volkskonzerte«, die für wenig Geld besucht werden konnten. Häufig wurden diese Konzerte moderiert und mit Erläuterungen versehen – Vorläufer institutionalisierter Musikvermittlung. Die »Folkskonserter« führten außerdem 1905 zur Gründung der bis heute bestehenden Göteborger Symphoniker. Die sonst brillante kompositorische Laufbahn Andrées wurde allerdings von einem Ereignis getrübt, das Autorin Katrin Losleben wie folgt schildert: »Im Januar 1894 reagierte Elfrida Andrée auf eine Ausschreibung der Königlichen Oper Stockholms für eine Oper mit patriotischer Textgrundlage zur Einweihung des neu entstehenden Opernhauses. Sie schrieb Selma Lagerlöf an, die nur drei Jahre zuvor mit der Gösta Berlings Saga ihren Durchbruch hatte, und drückte ihren Wunsch nach einem Libretto aus. Damit begann eine dreijährige äußerst schwierige Zusammenarbeit, an deren Ende die Oper Fritjofs Saga stand, die als wenig geglückt bezeichnet werden kann. Sämtliche Anstrengungen, die Oper an einem Opernhaus unterzubringen, scheiterten. Letztlich wurde Fritjofs Saga in Stockholm im privaten Rahmen aufgeführt und war ein Desaster. Eine weitere Aufführung organisierte Elfrida Andrées Nichte Elsa Stenhammar. Elfrida Andrée selbst schrieb die Oper zu einer Suite um.«
Sogar ungeachtet ihrer mannigfaltigen musikalischen Kompetenzen gilt Elfrida Andrée, die aus freien Stücken unverheiratet blieb, heute als Gallionsfigur der Frauenbewegung in Schweden. Sie starb am 11. Januar 1929 im Alter von 87 Jahren in Göteborg.
Elfrida Andrée (1841–1929)
Quintett für Klavier, zwei Violinen, Viola und Violoncello e-Moll (1865)
Neben der besagten Oper Fritjofs Saga komponierte Elfrida Andrée Werke fast aller damals geläufigen Gattungen, vor allem Lieder und Chorwerke. Lediglich Stücke für Solo-Instrument und Orchester »fehlen« in ihrem reichhaltigen Schaffenskatalog.
Eines von zehn Kammermusikwerken – das Klavierquintett e-Moll – entstand 1865. Schon die ersten zwei Takte des ersten Satzes (Allegro molto vivace) zeigen den Anspruch der Komponistin Andrée: In der zweiten Violine sowie in der Oberstimme des Klaviers wird in der Melodie umgehend auf die erniedrigte zweite Stufe ausgewichen. Verwegene, ambitionierte, hochromantische Harmonik. Die Streicher erscheinen zunächst im Eindruck ihrer Vereinzelung, das Klavier übernimmt die Rolle des »Redners«. Die modulative Charakteristik dieser gemäßigt dramatischen – an die gebildete und dennoch emotional zugängliche Ernsthaftigkeit von Johannes Brahms erinnernden – Musik bleibt auch im darauffolgenden Verlauf des Kopfsatzes präsent. Die quasi kanonische Streicher-Vereinzelung des Beginns wird klug später wieder aufgenommen – und als Modul einer entsprechenden Verdichtung der Partitur eingespannt. Gelernte Engführungen, doch mehr als nur ein »Abarbeiten aus dem Lehrbuch«. Der stetige Ausbruch der Musik als Möglichkeit – und gleichsam die dynamische Zurücknahme im Sinne eines »Weiter, nur immer weiter!«
Was für eine kluge, sinnliche und dramaturgisch astrein gesponnene Musik: harmonisch, motivisch und instrumentaltechnisch mehr als nur »auf der Höhe ihrer Zeit«! Ein Werk für das Standardrepertoire. ¶