Wenn man jemanden ins Herz geschlossen hat, ist das auch daran zu merken, dass man empfindlich auf Kritik an ihm oder ihr reagiert. Ich war schon rund achtzehn Monate mit Miss Smyth unterwegs, oder Ethel – Dame Ethel wurde sie ja erst, nachdem sie sich das Rauchen abgewöhnt hatte –, da las ich ein paar süffisante Zeilen von Vita Sackville-West über sie, im Nachwort zu einer Biographie: etwas Mokantes über ihre Hunde und dass sie ja recht anstrengend gewesen sei. Und ich dachte: Ach, du verwöhnte Vita, du Aristokratin, du weißt doch überhaupt nicht, was Ethel so alles mitgemacht und durchgemacht hat! Als wenn ich das selbst besser wüsste… Und die kreischende Empörung, mit der Alban Berg Stücke geißelte, die sie in Wien dirigierte, »das dümmste was man sich vorstellen kann«, hat bei mir Skepsis ihm, nicht ihr gegenüber ausgelöst.
Ich mochte sie bald sehr, wie auf ganz andere Weise den anderen, den dunkleren, verschwiegeneren, berühmteren, mit viel größeren Geldsorgen: Claude de France, Achille-Claude Debussy, von dem ich mir nie vorstellen könnte, ihn mit Claude anzureden, eher mit cher maître, je länger, desto mehr. Wie ist es, mit beiden zwei Jahre lang zu leben, während ein Buch entsteht? Gehört »leben« da in Anführungszeichen oder nicht? Ändert sich das Hören, und wenn ja, wie? Debussy, von dem ich schon viele Werke kannte, trat mir als erster von beiden entgegen, als 32-jähriger. »Debussy sah sehr gut aus, ganz in Schwarz, in einem weich fallenden Hemd und mit wehender Krawatte. Unser Fürst der Finsternis.« So erinnert sich ein Freund ans Frühjahr 1895, im Jahr nach der Uraufführung von L’après-midi d’un faune. »Stumm, verschlossen« sei er gewesen.
Das war eins der ersten Bilder, die sich einprägten beim Lesen der Briefe und Kommentare, die in Claude Debussy – Briefe an seine Verleger versammelt sind, eine Großtat des Pianisten und Übersetzers Bernd Goetzke. Vor vier Jahren las ich das und entdeckte einen faszinierenden Menschen hinter der Musik, und die Musik gleich neu. Außerdem kam ich dauernd an dem außergewöhnlichen Foto vorbei, das ihn und seine Tochter im Jahr 1916 beim Picknick zeigt, ich blätterte den Arche Musik Kalender im Korridor nicht mehr weiter.

Ein Jahr danach wagte ich, Claude Debussy zum Protagonisten von Flammen zu machen, einem Sachbuch, das als Erzählung durch das Europa der Jahre 1900 bis 1918 führen sollte, aus Sicht von Musikern, vor allem Komponisten.
Aber Debussy reiste nicht gern, und ein Hauptprotagonist allein würde nicht genügen für ein so weites Feld. Ethel Smyth kannte ich flüchtig aus den späteren Tagebüchern von Virginia Woolf, öfters kam da eine ältere, vor Energie platzende und, ja doch, nicht ganz unanstrengende Dame vorbei, offenbar in die weitaus jüngere Autorin verliebt, und auch da gab es ein Foto: 1930, beide auf einer Bank im Garten der Woolfs, Virginia wendet sich Ethel zu, schwer zu sagen, ob auf ihren Lippen ein Kuss oder ein Spottwort wartet, und die 72-jährige blickt mit zusammengezogenen Brauen wie ein wildes Kind nach vorn, das wuchtige Hörrohr mit der Linken in Mundnähe haltend wie eine Mischung aus Mikrofon und Schnuller.

Das Bild kannte ich aus Quentin Bells Biografie über seine Tante Virginia. Ethels Musik kannte ich nicht. Ich wusste nur, dass Smyth eine der wenigen Frauen war, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Komponistinnen auffällig wurden, und dachte: So wie sie schon dasitzt, kann sie kein laues Lüftchen komponiert haben. Nach Querlektüre von ein, zwei Bänden Sekundärliteratur war klar, dass Ethel Smyth der ideale Widerpart von Debussy sein würde, vier Jahre älter als er. Sie reiste wie eine Besessene durch Europa, sprach Englisch, Deutsch, Französisch, Italienisch, war anders als er offen und kontaktfreudig und politisch aktiv, sie kämpfte fürs Frauenwahlrecht. Außer dem Metier des Komponierens hatten beide gemeinsam, dass sie heftig für Frauen entflammten. Und beide schrieben brillant, präzise, witzig und viel. Von ihm sind gut 2.000 Briefe publiziert, von ihr zehn autobiografische Bücher, während die Korrespondenz in Archiven liegt.
Mit Smyths Musik ging es mir mitunter wie einem Freund, dem die Komponistin ab und zu erzählt, was sie vorhat, ehe er es dann erstmals hört, manchmal auch wie dem skeptischen Kritiker einer Uraufführung (von The Boatswain’s Mate hätte ich nicht viel übriggelassen), es war mir ja alles neu. Zugleich begann ich ihre Werke zu vergleichen, ihr Potential zu ermessen. Unter dem Druck einer Situation wie der, als »Fräulein Smyth« zuerst Bruno Walter und dann seinem Chef Gustav Mahler in Wien den Beginn ihrer Wreckers am Klavier vorspielte und -sang, die Noten vor mir, das tobende Orchester (aus den Boxen) hinter mir, hat sie mich mitgerissen. Mit Debussy (und anderen) war es anders: Ich hörte vermeintlich vertraute Werke wie Pelléas und La Mer in den Geburtsschmerzen des Neuen. Wenn man erlebt, welchem Spott ein paar Worte von Mélisande in der Generalprobe standhalten mussten, mit dazu noch politisch polarisiertem Publikum, dann folgt man den Tönen so gespannt wie noch nie und vergisst, befreit, die 120 Jahre Rezeptionsgeschichte danach. Dann ist nichts mehr »selbstverständlich» und am allerwenigsten Debussy ein »Impressionist«.

Vorsichtshalber machte ich mir anfangs nicht klar, was es heißt, sich für zwei Jahre und mehr an zwei Menschen zu binden, die man kaum kennt, um ihnen durch zwei Jahrzehnte zu folgen. Dass ich über ihre Zukunft mehr wusste als sie selbst, wurde schnell unerheblich neben ihrer Gegenwart, in die ich geriet, mit all ihren Unberechenbarkeiten, Aromen, Fahrplänen und Hoffnungen. Als erstes wurde klar, dass C.D. zwar auch dunkel und verschlossen war, aber mindestens genauso hell und witzig. Seiner neuen Flamme Lilly schrieb er vor dem ersten Treffen in seiner Wohnung: »Es gibt keinen Aufzug«, so, als gehöre ein Aufzug im Paris von 1899 zur Grundausstattung. Das ist so charmant, wie der nächste Brief offenherzig ist: »Impatient de ta bouche, de ton corps et de t’aimer.«
Hinter solchen und vielen weiteren Zeilen – und immer mehr Tönen! – öffnete sich das Leben, während es um mich herum immer stiller wurde. Als der erste Lockdown verhängt war, sah ich Debussy vor knapp 3.000 Leuten in der Londoner Queen’s Hall dirigieren, und während mir im Mai 2020 der Weg nach London verwehrt war wie der nach Paris, konnte ich 1908 die Reise über den Kanal buchen und genoss sie selbst, das Dampfschiff kam auf meinen Sperrbildschirm. Aber meist fand ich Debussy zu Hause, zuerst Rue Cardinet, dann Square du Bois de Boulogne, mit seiner zweiten Ehefrau und beider Tochter. Auf dem imaginären Warnschild vor ihm steht »Lassen Sie mich nicht leiden«, habe ich von Georgette Leblanc gelernt. Ein empfindlicher Mann. Man muss wahnsinnig vorsichtig mit ihm sein, ja, aber wer das beherzigt, kommt in den Genuss einer enormen Ruhe, Weite und Helligkeit um ihn herum. Außerdem raucht er, nicht zu knapp…
Das tut Ethel auch. Moment, warum eigentlich nur »Ethel«? Immer wieder werden Frauen in der Musikgeschichtsschreibung durch Verzicht auf den Nachnamen klein und nahbar gemacht. Clara, Fanny, Pauline… Im Vereinigten Königreich bedeutet das »you« auch »Sie«, ich duze Frau Smyth also nicht, und würde mich geehrt fühlen, wenn sie es mit mir ähnlich hielte, aber ein Zwiespalt bleibt. Smyth ist durch praktisch nichts aus der Bahn zu werfen, diese Offizierstochter, die per Hungerstreik ihrem Vater die Erlaubnis zum Musikstudium in Leipzig abgenötigt hat, und man trifft sie eher in der Bahn als zu Hause, ab 1910 ihrem Anwesen in Woking, wohin sie offenbar nur zum Kofferumpacken und Ausführen ihres großen Hundes kommt, grob gesagt. Eisenbahnen, Hotels, Salons und Yachten einflussreicher Freundinnen überall, Pflege eines Netzwerks von Dirigenten bis Diplomaten, nicht, um es sich einfach zu machen, im Gegenteil: Sie macht es sich und allen unbequem, egal, ob sie für ihre Musik kämpft oder für das Frauenwahlrecht, und beides schiebt sie an die Seite, um 1917 in Frankreich verletzten und verstümmelten Soldaten zu helfen.

Mit der Zeit entdeckte ich auch ihre Schwächen. Sie kann privat ein echtes Trampel sein. Aus einem komfortablen Kolonialhotel in Ägypten schreibt sie im Januar 1914 ihrer Freundin Emmeline Pankhurst, die als Anführerin der Wahlrechtsbewegung mal wieder im Gefängnis ist: »Ah, meine Liebe, wie froh bin ich, dass die Bildtelefone, die Du erwähnst, noch nicht erfunden sind. Wie käme ich mit meiner Arbeit weiter, sähe ich Dich in einer schlechtgeheizten Zelle auf dem Zementboden liegen?« Aber sie schreibt auch Briefe ergreifenden Trosts an eine Freundin, die zu Beginn des Kriegs kurz nacheinander ihre Söhne verloren hat. Beim Entziffern ihrer Handschrift lernte ich, dass die kleinen Querstriche über Buchstaben, die keine Querstriche brauchen, jeweils zu den »t«s kurz davor gehören, sie sind denen gleichsam vorausgeflogen, ungeduldig.
Sie ist selbst ungeduldig. Wenn ihr etwas klar ist, hält sie alle für Idioten, die es nicht auch gleich kapieren; ich wäre ihr viel zu langsam gewesen. Und Debussy? Er ist sehr schnell im Kopf, aber ein grandioser Verdränger. Konfliktlösungen werden prokrastiniert, bis es kracht, ob es nun um Ehe, Finanzen oder Rollenbesetzungen geht. Im Gegensatz zu Ethel, die aus vermögenden Kreisen kommt, trägt er, der Sohn eines Geschirrhändlers aus der Vorstadt, gern edles Tuch, auf Pump gekauft. Woher die knapp 2.000 Francs nehmen, in Euro mehr als das Vierfache, die das Modegeschäft im Juli 1914 einfordert? Er verweist am 1. August einfach auf die »Mißhelligkeiten, die Sie kennen«, womit die französische Generalmobilmachung gemeint ist.
Das Hotel an der französischen Atlantikküste, das Ethel im selben Juli bezogen hat, musste ich zuerst erraten. Ich wusste nur, dass sie sich mit Emmeline in St. Briac traf, und schaute im alten Baedeker nach möglichen Adressen. Für sie als Golfspielerin kam das Hôtel des Panoramas et du golf in Frage, da quartierte ich sie ein. Erst danach las ich, dank der Smyth-Kennerin Marleen Hoffmann, ihre Korrespondenz mit dem Verleger, der in Wien den Druck ihrer Oper The Wreckers vorbereitete. Aus dem Hôtel des Panoramas et du golf schreibt sie ihm am 29. Juli 1914: »…die politischen Verhältnisse können, wie Sie sagen, manche Verzögerung mit sich bringen.« Meine Freude, Ethels Hotel richtig erraten zu haben, geriet schnell in den Schatten dessen, was die Verhältnisse wirklich mit sich brachten. Da erleichterte mich aber noch die Gewissheit, dass die Europäer ihre Kriege längst hinter sich haben. Inzwischen halte ich mich daran fest, wie Ethel und Claude nach 1914 für Leben und Schönheit kämpften.
Von Anfang an hatte ich natürlich gehofft, beide würden einander begegnen. So sehr, dass ich Romanautoren beneidete, die ihre Figuren nach Belieben zusammenbringen können. Einander verfehlen ist auch ein Thema, so tröstete ich mich vorsorglich, ehe ich in What Happened Next von 1940, dem letzten Buch von Ethel Smyth, auf Seite 302 im O-Ton fand, wie der Pariser Kollege ihr höchstpersönlich ein Kompliment machte. Debussy hatte ihre Four Songs in London gehört. Davon erwähnt er nichts in seiner Korrespondenz, mit der sich aber der Termin ermitteln lässt: Donnerstag, 30. Januar 1908, 46 Grosvenor Street. Ich hätte beiden in die Arme fallen mögen… oh nein. So etwas ließ er sich, außer von Frauen, höchstens von einem wie Strawinsky gefallen, und selbst das machte ihn verlegen. Und sie? I know my place.
Was Debussy an dem Abend hörte, gehört zu Smyths Bestem, Avanciertestem. Es gibt im Lied Odelette ein paar Takte, in denen Flöte, Viola und Harfe einander umspielen, die Instrumente, für die Debussy 1915 seine wunderbare Sonate schreibt. Das erste Stück, das ich, mit sechzehn oder so, von ihm liebte, ohne mich im Geringsten nach den Umständen der Entstehung zu fragen. Er war unheilbar krank, die Deutschen hatten mit Chlorgasangriffen begonnen, und er war entschlossen, auf die »verübten Schrecken« mit dem »Wiederherstellen von Schönheit« zu reagieren. Unfassbar, wie ihm das gelang. Nicht als Verdränger, sondern mit Blick auf die Welt, wie sie auch sein könnte. Das zu erkunden hat übrigens mein Hören von früher nicht diskreditiert. Vielleicht hat er sich so ein Hören gewünscht, so unmittelbar. Es vertieft aber das Wunder, zu wissen, welche Mühen hinter solchem Leuchten stecken. Der verschlossene »Fürst der Finsternis« ist für mich immer heller geworden, sein Tod mit 55 traf mich.
Und von Ethel träumte ich, aber sehr seltsam. Ausgerechnet Ferruccio Busoni, der sie nicht kannte, erklärte in diesem Traum, Smyth trage auf ihrem Rücken ihre Musik wie ein paar Trümmer von Troja, und dann hatte ich E.S. wie eine Art großes, halbmenschliches, weises Drachentier vor mir, dem an Stelle der Zacken auf dem Rücken tatsächlich Trojatrümmer herauswuchsen. Nicht gerade zum Kuscheln, aber stark. ¶