Lena Kutzner kommt aus Hannover. An der dortigen Musikhochschule studierte sie Gesang bei einer begehrten Pädagogin: Carol Richardson-Smith. Vor zehn Jahren wurde Kutzner Ensemblemitglied am Theater Neustrelitz. Dort habe ich sie 2016 gehört, damals noch als Nicklausse in Hoffmanns Erzählungen – eine Mezzo-Rolle. Inzwischen singt Kutzner die wichtigsten jugendlich-dramatischen Hauptrollen am Staatstheater Meiningen, zuletzt Elisabeth in Wagners Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg (auf der Original-Wartburg!) und Wagners Erstling Die Feen. Lena Kutzner ist eine angenehme, unprätentiöse Gesprächspartnerin. Erlebt man sie im Opernhaus, hat man fast Angst um sie – so authentisch und »in der Rolle« agiert Kutzner auf der Bühne. Bald debütiert sie als Salome in der gleichnamigen Strauss-Oper.
VAN: Du hast teilweise innerhalb von drei Tagen zwei verschiedene Wagner-Hauptrollen gesungen. Gibt es viele Kolleginnen, die sich solche Belastungen zutrauen?
Lena Kutzner: Es war sogar viermal Wagner innerhalb von sechs Tagen! Zweimal Die Feen und zweimal Tannhäuser. Wenn ich daran denke, muss ich immer noch lachen – und bin auch ein bisschen stolz, dass ich das geschafft habe. Ich denke, es kommt häufiger, als man glaubt, zu solchen Marathon-Phasen, gerade an ›mittelgroßen‹ Opernhäusern. Man bekommt es vielleicht von außen nur nicht so mit. Ein Bass-Kollege von mir hatte mal ein ähnliches Wagner-Hochfest, eine Sopran-Kollegin auch. Oder man denke an Birgit Nilsson, die laut ihrer Autobiographie in 21 Tagen zehnmal Verdis Lady Macbeth gesungen haben soll. Eine Rolle, die bestimmt eine schlimmere Stimm-Killerin ist als die Wagner-Sachen bei mir. Das ist das berühmteste Beispiel – und ich bin mir sicher, dass man noch mehr finden würde …

Was muss sich nach einem solchen Sing-Marathon am meisten erholen – Stimme, Körper oder Geist?
Körper und Geist hauptsächlich. Ich hätte danach gefühlt eine Woche schlafen können. Mit der Stimme ging es zum Glück super, was ich meiner fantastischen Lehrerin Romana Noack zu verdanken habe. Aber man möchte jeder Figur, die man auf die Bühne bringt, ja gänzlich gerecht werden und dazu gibt man jedes Mal viel von sich selbst – und da das ja immer die großen Extreme menschlicher Gefühle sind, braucht man hinterher wieder die Ruhe und Ausgeglichenheit, also die liebsten Menschen um sich und viel, sehr viel Schlaf! [lacht]
Man versteht bei dir jedes Wort, das du singst. Das ist selten in deinem Stimmfach.
Danke für das Kompliment. Die Arbeit an der Textverständlichkeit fing quasi schon im Mädchenchor Hannover an, bei meiner ersten Gesangslehrerin Gudrun Schröfel – und ich hatte das große Glück, dass meine Lehrerinnen und Lehrer immer viel Wert darauf gelegt haben. Und gerade bei Wagner und Strauss, deren Werke mich gerade hauptsächlich begleiten, ist der Text so wichtig! Und es macht auch viel Spaß, sich mit dem Text so zu beschäftigen und durch ihn den Ausdruck der Musik noch zu verstärken.
In Wagners Debüt-Oper Die Feen singst du die Partie der Fee Ada. Der Text stammt, wie bei späteren Werken auch, von Wagner selbst – und tut ziemlich weh. Da heißt es im Libretto zum Beispiel zu Adas Kindern: ›O seht die holden Kleinen, wie lieblich anzuschaun! Das sind die hübschen Dinger, die ihm von ihr geschenkt!‹
Ja, der Text bei Die Feen ist schon … speziell. [lacht] Und die ›hübschen Dinger‹ ist bis heute unsere Lieblingsstelle. Ich muss zugeben: Beim ersten Singen musste ich an vielen Stellen auch den Kopf über den Text schütteln und sehr lachen. Aber im Laufe der Zeit ist mir auch diese Partie ans Herz gewachsen – und sie hat es ja auch verdient, im ganz buchstäblichen Sinne, verstanden zu werden. Die Partie der Ada ist toll, weil sie von allem ein bisschen was hat. Die erste Arie: traurig, lyrisch, mit schönen Bögen – die zweite Arie: von wahnsinnig bis verträumt. Das zweite große Finale ist dann auch ein bisschen Rachegöttin. Diese Vielfalt macht einfach Spaß.
Aber war das nicht total undankbar, diese Partie einzustudieren? Denn die Feen-Oper wird ja fast nie gemacht. Die Chance, damit zum Beispiel als Einspringerin an einem anderen Haus zu singen, ist nicht gerade groß.
Das stimmt schon: Die Wahrscheinlichkeit, dass mir die Ada nochmal begegnet, ist verschwindend gering, aber das gehört nun einmal auch zum Festengagement. Und die Ada-Partie passt zu meinem sonstigen Repertoire. Ich habe auch vieles gelernt dabei. Undankbar ist es nur, wenn man etwas singen muss, was einen so gar nicht weiter bringt. Und dafür stehen auf der anderen Seite eben die Wagner-Rollen: Elsa, Elisabeth, Senta sowie Marietta in Korngolds Die tote Stadt und die Titelpartie in Salome.
Du bist ein jugendlich-dramatischer Sopran, hast also eine große Stimme, die Durchschlagskraft, aber als Stimmfarbe die Schönheit und Klarheit eines lyrischen Soprans. War das früh klar, dass du dich in diese Richtung entwickeln wirst?
Nicht so ganz früh. Ich habe als Sopran begonnen, zu studieren – und gesungen, was man halt so singt am Anfang: Zerlina, Despina – und mein Operndebüt dann als Ännchen in Webers Freischütz. Aber das es mehr wird, war da schon klar, ich war nur einfach zu jung für die großen lyrischen Partien, also Agathe – ebenfalls im Freischütz – und Co. An Größeres habe ich da noch gar nicht gedacht! [lacht] Also habe ich gemeinsam mit meiner Professorin Richardson-Smith ein bisschen herumprobiert – und dann erstmal im lyrischen Mezzo-Fach weitergemacht. Auch meinen Studienabschluss habe ich noch als Mezzo absolviert und auch mein erstes Engagement, sozusagen zum ›überwintern‹. Irgendwann war mir dann aber klar: Jetzt geht es woanders hin! Dann habe ich 2017 als Margarethe in Gounods Faust debütiert – und bin damit zurück zum Sopran gegangen. Während der Corona-Pandemie konnte ich die Zeit mit meiner Lehrerin Romana Noack nutzen, mir das große Fach zu erarbeiten – und dann hat das Staatstheater Meiningen eine Elsa, eine Senta gesucht – und so weiter. Und mit diesem Engagement konnte ich mir bis jetzt schon viele Partien des jugendlich-dramatischen Repertoires aneignen.
Ich kenne mehrere Sängerinnen, die während der Pandemie einen Fachwechsel durchgemacht haben. Warst du mit solchen Kolleginnen zu dieser Zeit in Kontakt?
Ja, einige haben die Zeit der Pandemie genutzt. Eine liebe Freundin von mir hat da angefangen, den Wechsel ins Hochdramatische vorzubereiten. Sie ist noch mittendrin, weil sie noch sehr jung ist – und, ja, wir tauschen uns regelmäßig aus. Mit vielen befreundeten Sängerinnen und Sängern habe ich mich zu dem Thema unterhalten, egal, in welches Fach sie gewechselt sind. Man schickt sich gegenseitig Aufnahmen. Das ist sehr spannend, gerade, wenn man die jeweilige Stimme schon länger kennt und dann hört, welche Entwicklung sie macht und auch, dass der Fachwechsel die richtige Entscheidung war. Ich selbst habe mich dadurch wahnsinnig unterstützt und bestätigt gefühlt. Einfach ein gutes Gefühl, dieses Feedback zu bekommen, bevor man sich damit zum ersten Mal ›öffentlich‹ präsentiert.
Wie darf man sich das genau vorstellen – so einen ›Fachwechsel‹ im Alltag? Übt man einfach die Partien des neuen Fachs ein? Macht man spezielle Singübungen?
Ein Fachwechsel bedeutet einfach neues Repertoire. Auch neues Vorsing-Repertoire. Also fängt man mit Arien an, die man braucht, um sich im neuen Fach vorzustellen. An denen arbeitet man. Und wenn man dann dafür engagiert wird, erarbeitet man sich die ganze Partie – und so wächst man in das neue Fach hinein. Das ist einfach ein Prozess.

Wenn du sagst, du hast mit Rollen wie Despina in Mozarts Così fan tutte angefangen, ist dann so ein Fachwechsel eigentlich auch ein sehr emotionaler Abschied? Vielleicht hast du im früheren Fach die Partie schon mit 19 Jahren studiert, mit 22 in einer Hochschul-, mit 25 in einer freien Produktion und schließlich vielleicht mit Ende zwanzig an einem ›richtigen‹ Haus gesungen – und dann machst du dir klar: ›Nie wieder Una donna a quindici anni!‹?
Ein wenig, ja. Aber ich freue mich über die Rollen, die ich gesungen habe, wie Hänsel, Angelina in La Cenerentola und Dorabella, ebenfalls in Così fan tutte, sogar in drei verschiedenen Produktionen. Aber immer, wenn eine Produktion abgespielt ist, ist das ein kleiner Abschied. Man weiß ja nicht, ob sie einem nochmal begegnet. Und ich muss sagen, ich fühle mich in meinem Fach so sehr zu Hause, dass es absolut okay ist, dass einige Partien nun Vergangenheit für mich sind. Und ich liebe meine aktuellen Rollen, die begleiten mich hoffentlich noch eine Weile.
Als ich dich jetzt in Meiningen in den beiden Wagner-Rollen hörte, da dachte ich: ›Die werde ich in fünf bis acht Jahren in Bayreuth als Isolde oder Brünnhilde hören!‹ Bist du abergläubisch – oder lässt du diese Wette gelten?
Abergläubisch bin ich nicht. [lacht] Schauen wir einfach, was die Zukunft bringt. Falls du die Wette gewinnst, würde ich mich nicht beschweren … ¶