»Der Künstler tut nichts, was andere für schön halten, sondern nur, was ihm notwendig ist.« Der Urheber dieses Zitats ist der auch mit erstaunlich vielen anderen Bonmots im Sprachgebrauch von Musikerinnen und Musikern vertretene Arnold Schönberg, zum Beispiel dem – ungleich bekannteren – »Kunst kommt nicht von können, sondern vom Müssen«. Gerne unterstellt man ihm, Schönberg, dieses »Drängen«, dieses »Müssen« im kompositorischen Schaffensprozess – mitsamt all seiner ästhetischen Umschwünge im Verlaufe der 76 Jahre seines Lebens. Da »musste« jemand »hässliche« Musik schreiben.
Arnold Schönberg kam am 13. September 1874 in Wien zur Welt, begann mit neun Jahren das Geigespielen und brachte sich das Komponieren, laut Selbstauskunft, autodidaktisch bei. 1901 siedelte Schönberg nach Berlin über. Schon 1903 ging es zurück nach Wien. Hier wurden Anton Webern (1883–1945) und Alban Berg (1885–1935) Schönbergs Schüler. Die legendäre »Zweite Wiener Schule« war geboren. Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte Schönberg die Zwölftontechnik, die die vielfältigen »Auswüchse« der spätromantischen (postwagnerschen) Chromatik zu systematisieren gedachte.
1925 zog Schönberg erneut nach Berlin. Hier war er als Nachfolger von Ferruccio Busoni zum Kompositionsprofessor an der Preußischen Akademie der Künste berufen worden. 1933 ging Schönberg (er stammte aus einer jüdischen Familie) ins Exil und wurde bald in den USA heimisch. Hier entstand unter anderem das Melodram Ein Überlebender aus Warschau (1947). Am 13. Juli 1951 starb Schönberg in Los Angeles.
Allgemeinplätze und Voreingenommenheiten begleiten bis heute das Sprechen, den Diskurs über die Musik Schönbergs. Zeit, um sich darüber mit einem Experten zu unterhalten: Ulrich Krämer, dem Leiter der Forschungsstelle der Arnold Schönberg Gesamtausgabe in Berlin.
VAN: Wenn Sie einem Laien kurz erklären müssten, was man über Arnold Schönberg wissen muss: Was wäre das?
Zunächst einmal würde ich betonen, dass Schönberg ein Komponist war, der ganz wunderbare Musik komponiert hat! Das ist mir ganz wichtig, weil es ja diese Schlagwörter gibt, mit denen er immer wieder und fast ausschließlich assoziiert wird: ›Zwölftonmusik›, ›Atonalität‹. ›Atonalität‹: Das klingt ja so, als würde etwas fehlen! Zu Unrecht. Natürlich stimmt es: Schönberg hat ab einem bestimmten Zeitpunkt atonale Musik komponiert. Wenn man sich aber klarmacht, wo er ästhetisch herkommt, nämlich aus der Spätromantik, in deren Stil er ja einige bedeutende Werke komponiert hat, beispielsweise das häufig aufgeführte Streichsextett Verklärte Nacht op. 4 [1899], die sinfonische Dichtung Pelleas und Melisande op. 5 [1902–1903] und natürlich die Gurre-Lieder [1900–1911], dann wird klar, was für ein genialer Komponist er war. Das bündelt sich dann in den Nullerjahren des 20. Jahrhunderts, in denen er diese unglaubliche Entwicklung vollzogen hat; wo dann Schlag auf Schlag Werke aufeinanderfolgen, die den Übergang zur Atonalität markieren; und da wird’s eigentlich noch fantastischer – ich denke da vor allem an die Kammersymphonie op. 9 [1906]. Es gibt wohl kaum eine Komposition, die bei so kurzer Dauer so viele Melodien enthält! Und es ist fast schon ›ärgerlich‹, dass diese Melodien jedes Mal bereits als Variationen wiederkehren! Schönberg war ja ein begeisterter Variierer, er hat kaum je etwas unverändert wiederholt. Und bei manchen Werken ist es so, dass man sich denkt: ›Ach, wie wäre das schön, wenn man dieses Thema noch einmal in der Urgestalt hören könnte!‹ Das gilt natürlich auch für das Streichquartett Nr. 2 op. 10 [1907–1908] mit dem wunderbaren Sopransolo in den letzten beiden Sätzen und auch für die 15 Gedichte aus »Das Buch der hängenden Gärten« von Stefan George op. 15 [1908–1909]. Das ist alles so packende, mitreißende Musik. Und wenn man da ohne Scheuklappen herangeht, dann kann man das natürlich auch ganz unmittelbar hören! Aber im Grunde braucht man heute gar kein Plädoyer für Schönberg mehr zu halten. Seine Musik ist in den Konzertsälen der Welt ja längst angekommen.
Wenn Sie von der Kammersymphonie op. 9 und der dortigen Melodienseligkeit sprechen: Es gibt doch diesen Passus von Schönberg, nach dem er sich erhoffte, dass irgendwann gewissermaßen einmal die Spatzen seine Melodien von den Dächern trällern würden. Hat er das ernst gemeint, dachte er wirklich, dass wir irgendwann zwölftönige Melodien auf dem Weg zur Arbeit pfeifen – oder war das überspitzt formuliert?
Schönberg hat viele Dinge zugespitzt formuliert! Das muss man immer bedenken. Er war ein genialer Polemiker. Aus allem, was er so gesagt und geschrieben hat, lugt eine gewisse Spitzfindigkeit heraus. Zugleich hat er aber auch tatsächlich darunter gelitten, dass die Leute seine Melodien eben nicht nachgepfiffen haben, vor allem dann in der späteren Zeit. Er hat auch mal den Wunsch geäußert, als ›eine Art Tschaikowsky‹ in Erinnerung zu bleiben, aber mit dem Zusatz er sei ›natürlich besser als Tschaikowsky‹. Um aber auf Ihre Frage zurückzukommen: Man könnte tatsächlich zwölftönige Melodien komponieren, die man auch nachpfeifen kann. Das wäre das nicht das Problem. Die Melodien, die Schönberg komponiert hat, sind allerdings – und zwar auch schon in seinen tonalen Werken – immer ziemlich komplex. Das hat nicht nur mit den Intervallen zu tun, sondern auch mit der inneren Struktur, die nicht immer die klassische Symmetrie aufweist. Er hat vielmehr mit der Asymmetrie von Melodien und Themen gespielt – und da war Johannes Brahms ein ganz wichtiges Vorbild. Bei Brahms findet man davon zum Beispiel etwas im letzten Satz, dem Variationssatz, seines Klarinettenquintetts h-Moll op. 115 [1891]. Bass und Melodie des Themas verlaufen ganz unabhängig voneinander, in unterschiedlichen Taktgruppen: 3 plus 5 gegen 4 plus 4, und das wird dann in den folgenden Variationen ›thematisiert‹.
Arnold Schönberg hatte ja in seiner Zeit als Kompositionsprofessor an der Preußischen Akademie der Künste [1926–1933] einige interessante Schülerinnen und Schüler. Welche Komponistin oder welcher Komponist ist für Sie aus dieser Reihe die oder der am wenigsten bisher ›entdeckte‹?
Da kann man sicher noch einige Schätze heben. Einer der Berliner Schönberg-Schüler war Winfried Zillig [1905–1963]. Bekannt wurde Zillig dadurch, dass er Schönbergs Oratorium Die Jakobsleiter [1915–1922], das nur als fragmentarisches Particell überliefert ist, orchestrierte. Und Zillig hat sich auch sehr für Schönbergs – ebenfalls fragmentarisch hinterlassene – Oper Moses und Aron [1926–1937] eingesetzt, deren konzertante Uraufführung in Hamburg 1954 er initiierte. Als Komponist ist Zillig dagegen heute fast vollkommen unbekannt, obwohl er ein großes musikalisches Oeuvre hinterlassen hat. Einem breiteren Publikum dürfte allenfalls seine Filmmusik zu dem Dokumentarfilm über die Panamericana in Erinnerung geblieben sein. Aber Zillig hat auch Opern, Lieder und symphonische Werke komponiert, deren Wiederentdeckung sich lohnen würde.
An welchem ›heißen‹ Thema in Sachen Schönberg arbeiten Sie gerade?
Die Schönberg-Ausgabe ist im Grunde abgeschlossen. Wir haben derzeit noch zwei Projekte in Arbeit, die kurz vor der Fertigstellung stehen. Bei mir selbst ist das der zweite Kommentarband zu Schönbergs Jakobsleiter mit den Skizzen, der Entstehungs- und Werkgeschichte und als Anhang die Fragmente der Symphonie, aus denen die Jakobsleiter hervorgegangen ist. Meine Kolleginnen und Kollegen sind unter der Federführung von Hella Melkert mit den Abschlussarbeiten zum Schönberg-Werkverzeichnis beschäftigt. Da gab es schon frühere Bemühungen, die aber nicht den modernen Anforderungen an ein wissenschaftliches Werkverzeichnis genügen. Das liegt vor allem daran, dass der Schönberg-Nachlass in den vergangenen 20 Jahren so vorbildlich durch das Arnold Schönberg Center in Wien, wo alles versammelt ist, erschlossen wurde. Fast alles ist inzwischen auch online zugänglich. Man kann also im Detail schauen, was es für musikalische Quellen, aber auch Schriften, Briefe und so weiter von Schönberg gibt. Er war ja auch ein begnadeter Musikschriftsteller, hat sich aber auch zu aktuellen Fragen geäußert, zu Politik, Kultur und natürlich zu jüdischen Themen.
Besteht die Möglichkeit, dass noch unbekannte Werke von Schönberg auftauchen? Oder sind Sie bezüglich der Überlieferung ›übervorsorgt‹?
[Lacht] Witzig, dass Sie das so formulieren. Tatsächlich kann man sagen, dass wir hinsichtlich der Überlieferung in Sachen Schönberg fast ›überversorgt‹ sind. Schönberg ist der vielleicht am besten erforschte Komponist des 20. Jahrhunderts. Er hat fast nichts weggeschmissen, sondern alles aufbewahrt. Alle Skizzen, alle Briefe, sogar Durchschläge von Briefen! Man kann sich eigentlich nicht vorstellen, dass da noch irgendein völlig unbekanntes Werk auftauchen könnte. Trotzdem stößt man natürlich bei der Beschäftigung mit ihm auf Dinge, die vorher nicht bekannt waren. Als ich die Entstehungsgeschichte zu Schönbergs Serenade op. 24 [1920–1923] – gleichzeitig entstanden mit den Fünf Klavierstücken op. 23 und der Suite für Klavier op. 25 – aufgearbeitet habe, ist mir ein Brief in die Hände gefallen, aus dem hervorgeht, dass Schönberg das erste seiner Klavierstücke op. 23 dem Andenken von Claude Debussy gewidmet hat. Der französische Musikwissenschaftler Henry Prunières [1886–1942] hatte 1920 die Zeitschrift Revue musicale gegründet. Und das erste Heft sollte eine Musikbeilage enthalten, die als ›Tombeau‹ für Claude Debussy, der 1918 gestorben war, gedacht war. Prunières hatte sich an diverse bekannte Komponisten in Europa gewandt, damit diese im Gedenken an Debussy etwas schreiben, auch als ein Zeichen der Völkerversöhnung nach dem Ersten Weltkrieg. Kleine Klavierstücke sollten es sein, die Debussy gewidmet werden sollten. Man hat sich eigentlich immer gewundert, warum denn kein deutscher Komponist beteiligt war. Und dann stellte sich eben heraus, dass Schönberg dieser Aufforderung zuerst nachkommen wollte, sich dann aber aus schwer nachzuvollziehenden Gründen am Ende geweigert hat, das Stück Prunières zur Verfügung zu stellen. Schönberg hatte sich nämlich über einen Aufsatz von Alfredo Casella [1883–1947] geärgert, der die Verdienste Mussorgskys und Debussys für die Weiterentwicklung der Musik betont hatte, aber über Schönberg und seiner Schüler kein einziges Wort verlor. Schönberg war ja nicht unbedingt immer ein ganz einfacher Zeitgenosse. Jedenfalls tut sich durch die Entdeckung dieser Debussy-Widmung eine ganz neue Sichtweise auf das entsprechende Stück auf. Ich glaube, dass man es vor diesem Hintergrund anders hört: nämlich als Teil der langen Tradition von ›Tombeau‹-Kompositionen.
Wie steht es überhaupt um Ihre Sympathien für den Menschen Arnold Schönberg?
Es gibt schon ein paar Dinge, die einem etwas sauer aufstoßen. Ich komme ja eigentlich von Alban Berg, über dessen Unterricht bei Schönberg ich promoviert habe. Wenn man sich die Briefe zwischen Schönberg und Berg aus den 1910er Jahren durchliest, dann erfährt man, wie Schönberg seine Schüler – beispielsweise eben Berg und Webern – teilweise ausgenutzt hat: Die beiden mussten beispielsweise Klavierauszüge für ihn anfertigen und sind dadurch zeitweise gar nicht zum Komponieren eigener Werke gekommen. Aber er hatte halt dieses unglaubliche Charisma. Alle Menschen, die mit ihm zu tun hatten, berichten davon, wie gebannt sie von der Persönlichkeit Schönbergs waren. Das darf man nicht außer Acht lassen. Man muss da aber Mensch und Künstler auseinanderhalten. Das fällt bei einem Künstler, der so Großes geleistet hat, manchmal nicht leicht. Bei Wagner ist es ja ungleich schwerer, Künstler und Mensch zu trennen. Aber auch da muss diese Trennung vollzogen werden, da man sich die Wagnerschen Musikdramen ja sonst eigentlich gar nicht mehr anhören könnte. Mit Wagner kann man Schönberg in dieser Hinsicht aber nun gar nicht vergleichen, aus bekannten Gründen. Am Anfang meiner Beschäftigung mit Schönberg war ich tatsächlich reservierter, habe das aber dann immer mehr ablegen können.
Er muss ja auch ein sehr humorvoller Mensch gewesen sein. Ich denke da an die Drei Satiren op. 28, da stellt sich ein Chor in dem Stück Am Scheideweg ja gewissermaßen die Frage: ›Tonal oder atonal?‹ – und irgendwie nimmt sich Schönberg da doch auch selbst aufs Korn.
Richtig. Das gehörte bei ihm unbedingt dazu. Wie vielen genialen Persönlichkeiten war ihm Humor auch sehr wichtig. Den spürte man bei Schönberg aber vielleicht auch mehr im persönlichen Umgang, als dass er aus jeder Briefzeile zu einem sprechen würde. ¶