Clara Schumann ist schon lange keine Unbekannte mehr (wenn sie es denn je war). Trotzdem werden ihre Werke erstaunlich selten gespielt. Lange habe ich das nicht in Frage gestellt, ich hatte verinnerlicht, was viele Entscheider:innen mich glauben lassen wollten: dass Clara Schumanns Werke einfach nicht so gut seien. Als ich aber anfing, ihre Stücke unvoreingenommen zu hören und zu studieren, wurde mir schnell klar, dass sie von erstaunlichen und innovativen tonalen Beziehungen, zusammenhangstiftenden Themen, ausgefuchsten motivischen Entwicklungen und zukunftsweisenden Strukturen wimmeln. Je mehr ich mich mit ihrer Musik beschäftige, desto peinlicher und ignoranter finde ich es, wie ihre Kompositionen pauschal als zweitklassig abgetan werden – und das in einer Kunstsparte, die sich gerne selbst als gleichermaßen intellektuell wie geschmackvoll darstellt. 


Doch es gibt Interpret:innen, die sich von dieser von Geschlechterklischees durchtränkten Abwertung nicht abschrecken lassen und sich in Auftritten und Einspielungen den Werken dieser großen Komponistin (im Folgenden der Übersichtlichkeit halber mit ihrem Mädchennamen Wieck bezeichnet) widmen. Für diesen Text habe ich mit einigen von ihnen gesprochen. Pianistin Alexandra Dariescu fallen im Klavierkonzert in a-Moll besonders die raffinierte Harmonik und Polyphonie sowie hohe technische Anforderungen auf. Pianistin Sharon Su lobt Wiecks subtilen Einsatz von rhythmischen Verschiebungen, die das Publikum in der g-Moll-Klaviersonate bei der Stange halten. Mezzosopranistin Helen Charlston findet, Wiecks Lotusblüte sei »eines der großartigsten Lieder, die je geschrieben wurden«. Auch die übrigen Lieder in der Op. 13-Reihe beschreibt sie als wunderschön direkt und sehr privat: »Ihre musikalische Sprache kann auf erstaunliche Weise die Natur nahtlos einfügen in unsere Gefühle, unser Menschsein.« Die Pianistin Ning Hui See sagt über das Klaviertrio in g-Moll: »Diese Art von Werk verlangt Aufmerksamkeit. Man muss ihm mit den gleichen Respekt begegnen, den man auch vor einem Stück von Beethoven hätte.«

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Fragt man, wer schuld ist, dass Wieck trotzdem auf so vielen Spielplänen fehlt, fallen auf den ersten Blick die üblichen Verdächtigen ins Auge: die Spitzenorchester, die ihr Klavierkonzert gekonnt ignorieren; die großen Plattenfirmen, die die Hälfte ihres Werkkatalogs links liegenlassen; die gesamte Musikverlagsbranche, die es bisher versäumt hat, eine vollständige Sammlung ihrer Klavierwerke zu veröffentlichen. Aber der Vorwurf an die offensichtlichen Stellen verschleiert den tieferliegenden Kern des Problems: die schlecht verheilten Narben einer abgerissenen Aufführungstradition. 

Auf die Frage, ob die Wieck-Sonate in ihrem Studium Thema gewesen sei, antwortet Su mit Nachdruck: »Auf keinen Fall.« Ihr Lehrer sei mit ihrem Wunsch, die Sonate zu spielen, unter der Voraussetzung einverstanden gewesen, dass sie sich auch weiter mit dem beschäftige, was er ihr vorlege. Wenn sie die Sonate mit in den Unterricht brachte, waren seine Ratschläge sehr allgemein, manchmal reagierte er auch mit einem: »Ich weiß nicht, was ich damit machen soll.« Su begann 2017 an der Sonate zu arbeiten und nahm sie 2019 auf. »Ich habe noch nie bei jemandem studiert, die oder der gesagt hätte: ›Ich kenne diese Musik, ich kenne den Stil.‹«

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Andere Pianist:innen machten ähnliche Erfahrungen. Keine:r bekam Wiecks Werke von Lehrenden vorgeschlagen oder kannte gar eine:n Klavierprofessor:in, die oder der ihre Werke aufgeführt hatte. »Das Problem sind gar nicht unbedingt die Vorurteile dieser Professor:innen«, erklärt Ning Hui See. »Sie sind einfach nur verantwortungsbewusst… Sie versuchen sicherzugehen, dass man ernst genommen wird. Nicht dass irgendwer denkt, man könnte seinen Chopin nicht richtig spielen.« In den Mühlen des Klassikbussiness kann es zum Karriererisiko werden, wenn man ein Stück aufführt, das nicht den Standards entspricht.

Dariescu hatte ausgezeichnete Lehrer:innen, aber auch die haben Wiecks Werke nie für den Unterricht vorgeschlagen oder gar aufgeführt. Sie wird das Klavierkonzert in dieser Saison öfter spielen als Wieck selbst es tat, musste es aber komplett alleine einstudieren. »Bisher war es für alle Dirigent:innen, mit denen ich es gespielt habe, das erste Mal.« Die Dirigentin Talia Ilan, die das Wieck-Konzert mit der Pianistin Nadia Weintraub auf die Bühne brachte, erzählt: »Wir mussten uns alles selbst beibringen.« Der Bariton Thomas Oliemans erinnert sich vage daran, dass ein Lehrer Wiecks Lieder erwähnte, »aber als ›Mädchenlieder‹, im Sinne von: von einem Mädchen geschrieben, also am besten auch von einem Mädchen gesungen.«


Wiecks Status als Außenseiterin im Konzert- und Ausbildungskanon bezeichnet Su als »zweischneidiges Schwert«. Man hat bei ihren Werken eine große künstlerische Freiheit, handelt sich im Gegenzug aber auch ständige Selbstzweifel ein – denn woher weiß man, ob man Wieck nun (historisch) korrekt spielt oder nicht? See nennt das eine Herausforderung, die auch Chancen bereithält: »Ich habe mich etwas erdrückt gefühlt von der Last der Aufnahme. Ich konnte mich da ja in keine Tradition einreihen, aber dem Werk dann auch wieder meinen ganz eigenen Stempel aufdrücken.« Auch Dariescu weiß diese Freiheit von Erwartungen zu schätzen: »Ihren Stil zu lesen und zu verstehen, ohne irgendwie beeinflusst zu werden – das liebe ich.«

Der Druck, dabei alles »richtig« zu machen, ist nicht nur groß, weil die Musiker:innen ihm ohne Hilfe ausgesetzt sind. Hinzu kommt, dass es für viele im Publikum wahrscheinlich das einzige Stück von Wieck ist, dass sie je hören, meint Su. »Ich mache mir Sorgen, dass meine Schwächen als Interpretin ihr als Komponistin angelastet werden. Das hat echt was vom Imposter-Syndrom… Es hat sich für mich wie ein ziemliches Risiko angefühlt, dieses Stück einzuspielen.« »Du musst nicht nur ihre Arbeit verteidigen«, erklärt See, »sondern auch deine eigenen Fähigkeiten, dein gesamtes künstlerisches Image.«

Dass Wieck als Person des Musiklebens so bekannt ist, ist ebenfalls nicht immer und unbedingt von Vorteil. Ihre bewegte Geschichte und ihre engen Beziehungen zu anderen Komponisten können von ihrem Werk ablenken. Wieck, die Johannes Brahms und seinen langjährigen Verleger Fritz Simrock miteinander bekannt machte, war, so Su, nicht nur eine Muse, sondern die »mächtigste Maklerin der Romantik«. Auch über Strukturen im Musikleben und ihre Traditionen verrät ihre Biographie viel. »Clara ist die Antwort auf die Frage, warum wir uns in unserer Branche was Musizieren, Pädagogik und die Etikette angeht, so verhalten, wie wir es eben tun«, meint Su. Bevor sie begann, Wiecks Sonate zu studieren, war sie von ihrer Geschichte fasziniert: von der legendären Komponistin, Virtuosin und Priesterin der Kunst, die auf die eigene Kompositionskarriere verzichtete und ihren Einfluss und ihre 60-jährigen Tourneekarriere dafür einsetzte, Schumann und Brahms im Kanon zu verankern und nicht sich selbst.


Wenn eine Musikerin oder ein Musiker Wiecks Werke entdeckt und entschieden hat, sie auch zu spielen, folgt meist die Frage nach der Einbettung ins Programm: mit Robert oder ohne? »Wiecks Werk ist großartig und kann gut für sich stehen«, meint Charlston. »Aber der ganze Hintergrund und die Geschichte sind so wichtig, dass es auch wieder schade wäre, sie dem Publikum nicht zu erzählen.« Für die Sopranistin Carolyn Sampson und den Pianisten Joseph Middleton war die Geschichte die Grundlage für ihre CD Album für die Frau (Scenes from the Schumanns‘ Songs). »Am Anfang war die Story«, sagt sie. »Joseph hat sich hingesetzt und Texte gelesen.« Er wählte aus, welche von Wiecks Liedern sie für ihre Erzählung mit Roberts Frauenliebe und -leben kombinieren wollten. Auch die Korrektur einiger »Altlasten« spielte dabei eine Rolle. »Für mich ist es ganz wichtig, dass die Frau nach dem Tod ihres Mannes weiterlebt«, meint Sampson – im Unterschied zur Protagonistin in Roberts Zyklus –, »denn genau das hat Clara getan.«

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Das Odysseus Piano Trio spielt Wiecks Klaviertrio in einem Programm über die Ehe. »Diese Krücke, also die Unterstützung durch ihren Ehemann, braucht Clara sicherlich nicht«, meint Cellist Rosie Biss. »Aber es hat für das Publikum immer eine gewisse Faszination, die beiden zusammenzubringen.« Dirigentin Ilan orchestrierte zwei von Wiecks Liedern, weil sie es der Komponistin gegenüber unfair fand, nur Robert und Johannes Brahms im Konzert zu spielen. 

Niemand, die oder den ich zu Wieck befragt habe, ist ihren Werken einfach so an der Musikschule oder im Studium begegnet. Die meisten sind durch die Musik ihres Mannes auf sie aufmerksam geworden. (Mit zwei Ausnahmen: Dariescu erlebte eine Aufführung des Wieck-Konzerts im Jubiläumsjahr 2019, See hat Wiecks Trio live gehört.) Die meisten programmieren Wieck neben Schumann. Der Ruhm von Robert könne ein Sprungbrett für die Werke von Clara sein, schreibt Musikwissenschaftlerin Susanne Wosnitzka vom Archiv Frau & Musik.

Charlston und Pianistin Natalie Burch kombinierten Wiecks Sechs Lieder Op. 13 anfangs mit Schumanns Frauenliebe, aber mittlerweile setzen sie eher auf Programme ohne ihn. Andere sind diese offensichtliche Verbindung von Anfang an umgangen. Su wollte Wiecks Klaviersonate erst mit der von Schumann spielen. »Aber dann dachte ich: Was bringt das denn?« Stattdessen hat sie eine Beethovensonate gewählt. Dariescu hat viele Anfragen, das Schumannkonzert zu spielen, abgelehnt. »Das bin einfach nicht ich.« Ihr Repertoire umfasst 60 Konzerte – aber nicht dieses. »Ich habe es nie gespielt und ich weiß auch nicht, ob ich das je will.« Stattdessen spielt sie im Konzert Wieck mit George Enescu.

Was all diese Berichte gemeinsam haben: Alle Musiker:innen wurden angefragt, Robert Schumann zu spielen. Nach Wieck fragte niemand. 


Wer Wieck spielt, erscheint außerdem häufig als Sonderling. »Die eigene Nische zu haben ist gut«, meint Su. Viele würden darüber aber vergessen, dass sie auch gerne und viel Standardrepertoire spielt.  Dariescu glaubt, dass sie nur Möglichkeiten bekommt, das Wieck-Konzert zu spielen, weil sie vorher schon mit anderem Repertoire ihre Fähigkeiten unter Beweis gestellt hat.

Wieck zu programmieren verlangt kuratorische Extraarbeit. »Es geht gar nicht so sehr darum, was man spielt, sondern wie man das präsentiert«, so Su. »Ich mache ziemlich viel Storytelling.« Die meisten Musiker:innen reden vor und nach Wiecks Musik: manche über ihre Geschichte, manche über ihre Komposition, manche über beides. »Ich denke, es ist gerade hier sehr sehr wichtig, wie das Publikum reagiert«, sagt Dariescu nach ihrer ersten Aufführung des Wieckkonzerts beim George Enescu Festival mit Ádám Fischer und dem Basel Chamber Orchestra. »Alle haben das Stück geliebt.«

Um Veranstalter zu überzeugen, braucht man sowohl eine kreative Strategie als auch Hartnäckigkeit. Dariescu bietet bei Anfragen immer als erstes das Konzert von Wieck an. Sampson betont ständig, wie »Feuer und Flamme« er für dieses Programm ist. See schlägt gleich vier oder fünf mögliche Programme vor, in denen Wiecks Sonate funktioniert.

Gabriella Di Laccio, Gründerin und CEO der Donne Foundation, hat für die Saison 2022/21 weltweit Konzertprogramme studiert und nur von fünf Aufführungen von Wiecks Klavierkonzert gefunden. Isata Kanneh-Mason musste ein Wieck-Konzert mit dem Los Angeles Philharmonic absagen, die Einspringerin spielte stattdessen Beethoven – weil sich niemand anderes fand, die oder das Konzert hätte spielen können, vermutet Su. »Es gibt schon Musiker:innen, die dieses Konzert spielen«, meint Dariescu dazu. »Man muss sie nur etwas suchen.« 

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Helfen kann bei der Verbreitung der Werke Wiecks auch intensivere musikwissenschaftliche Forschung wie die von Nicole Grimes von der University of California, Irvine. Sie erzählt, dass zwei Klavierprofessorinnen an ihrer Schule, Nina Scolnik und Lorna Griffit, Wiecks Trio seit Jahren unterrichten und aufführen und außerdem jeweils mit zwei Studierenden Wiecks Klaviersonate einstudiert haben. Scolnik lobt Grimes‘ Forschung, durch die die Studierenden der Klavierfakultät »wirklich Wieck-Feuer gefangen« hätten. »Um eine echte Chance zu haben«, schreibt Wosnitzka, »brauchen wir keine Vorzeigeprojekte, sondern eine solide Basis.« Es gebe immer noch einen Mangel an »ausgewogenen« Musikgeschichtsdarstellungen, kritisieren sie und Grimes. Und die Forschung, die bereits zu Wieck existiert, müsse anerkannt und, wie auch die Musik, einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden. 

Wird Wieck also doch langsam immer populärer? Oder ist das, was 2021 von ihr hörbar ist, nur ein letztes Überbleibsel aus dem Jubiläumsjahr 2019? Dariescu ist sich da nicht sicher: »Das werden wir sehen. Ich gebe Bescheid, wenn ich von einem der Dirigenten wieder mit Wiecks Klavierkonzert eingeladen werde.« Komponistinnen, die keinen berühmten Ehemann oder nicht gerade 200. Geburtstag hatten, sind außerdem noch schwerer in den Konzertkanon zu integrieren als Clara Wieck. »Wir können nicht mehr tun als wieder und wieder Partei für sie zu ergreifen«, meint Dariescu. »Ich glaube, dass wir daran leider immer werden arbeiten müssen.« Müde wird sie dabei allerdings nicht. »Das gibt dir ein Lebensziel, einen wirklich guten Grund, morgens aufzustehen und aktiv zu werden.« ¶

Sarah Fritz ist freischaffende Autorin und Musikerin. Als solche lehrt sie am Westminster Conservatory of Music. Aktuell schreibt Fritz einen Roman über Clara Schumann und twittert täglich @sarahfritzwritr.

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