Ich bin kein Komponist. Ich bin noch nicht mal ein besonders guter Musiker. Aber ich habe – zu meiner eigenen Verwunderung – die letzten Jahre davon leben können, mich unter der Woche täglich vor einen leeren Bildschirm zu setzen und ihn mit Worten zu füllen. In dieser Hinsicht – und nur in dieser Hinsicht – möchte ich der klassischen Musik den Bärendienst erweisen, mich in einem Atemzug mit Dvořák, Satie, Grieg, Strawinsky oder Beethoven zu nennen. Sie haben vielleicht nicht wie ich auf einem Ikea-Bürostuhl gehangen und in einen Laptop gestarrt, aber auch sie haben sich (fast) täglich in den Arsch getreten und etwas aufs Papier gebracht. 

Auch in Zeiten vor Life Hacking Podcasts und Motivations-TED Talks arbeitete der geniale Geist nicht von alleine. Alle oben genannten Komponisten hatten ihre ganz eigenen Wege, ihre Kreativität in Schwung zu bringen. Die Spanne reicht dabei von etwas schrulligen Angewohnheiten bis hin zu geradezu bizarren Regulierungen des Alltags. Im Interesse der Wissenschaft und unter Einhaltung strenger VAN-Recherchestandards habe ich die Arbeitsroutinen dieser Komponisten eine Woche lang getestet und etwaige Leistungsveränderungen genau beobachtet. 

Griegs Glückstierchen

Für den einfachen Einstieg wähle ich Griegs Glücksbringer-Spielzeugtrio, bestehend aus einem Troll, einem Schwein und einem Frosch. Grieg soll sie beim Komponieren auf den Schreibtisch und abends neben sein Bett gesetzt haben, wo er ihnen nacheinander den Kopf streichelte und gute Nacht sagte. Den Kuscheltierfrosch trug er sogar in der Hosentasche, als Glücksbringer, den er vor Konzerten zu reiben pflegte.

Dank COVID zieht sich mein Umzug von Berlin nach London mittlerweile fast ein Jahr hin. So verbringe ich mehrere Pandemiewellen in meinem Elternhaus, wo ich eben mal so die Kisten mit einem Sammelsurium an Kindheitserinnerungen aus dem feuchten Keller holen und sie nach Trollen, Schweinen und Fröschen durchforsten kann. Tatsächlich werde ich fündig: gleich drei Trolle, eine fratzenschneidende Schweinefigur und ein grüner Frosch, besetzt mit Strasssteinchen. Jeder Troll hat verfilzte, wilde Hare – einer rosa, einer blau, einer grün – und ist bis auf einen Fußball, eine Gitarre und ein Paar Inlineskater völlig unbekleidet. Auf ihren Hinterköpfen ist der Name »Weetos« zu lesen, was auf ihre Herkunft aus jeweils einer Packung Schoko-Frühstücksflocken aus den frühen 2000er Jahren verweist. Seit ich Berlin verlassen habe, habe ich nicht mehr so viele nackte Ärsche auf einmal gesehen, und ich bekomme ein wenig Heimweh.

»So weit ist es also gekommen mit Griegs norwegischem Troll in den 2000ern«, denke ich, während ich jeden einzelnen begutachte. Aber irgendwie ist es auch passend, dass diese kleinen Wesen sich im Zeitalter des spätkapitalistischen Konsums lieber in zuckerhaltigen Snacks verstecken als in den einsamen Weiten der skandinavischen Tundra, und uns nun nackt die Banalität unserer kulturellen Betätigungen spiegeln: Fußball, Rock und Rollerblading. Trotzdem mache ich es wie Grieg und tätschel nacheinander jeden einzelnen auf seinen Trommelbauch und seinen nackten Hintern. Ich fühle mich irgendwie sicher. Der Frosch schaut etwas schief, seine grüne Haut hat die Farbe der Eifersucht. Ich streichle ihn auch, aber seine glitzernden Strass-Schuppen lassen mich erschaudern. Dem Schwein ist alles egal.

Ein Erinnerungsfoto, das Grieg von seinem Troll und seinem Schwein machte und aufbewahrte. • Mit freundlicher • Mit freundlicher Genehmigung des Edvard Grieg Museums

Beethovens Spezialkaffee 

Weiter geht es mit Beethovens persönlicher Kaffeespezialität. Genau 60 Bohnen soll er abgezählt und gemahlen haben, ich tue es ihm gleich. Nun ist ja bekannt, das Beethoven kein Riese war, aber das kleine dunkle Häuflein am Boden meiner Kaffeemühle lässt mich nichts Gutes ahnen. Ich schütte es in eine Mokkakanne (Beethoven nutzte eine Vorrichtung aus einem Glasballon, die auf ähnliche Weise funktionierte) und stelle diese auf den Herd. Schlecht ist der Kaffee nicht, aber ausgesprochen kraftlos. Der Koffein-Kick bleibt völlig aus, und ich schleppe mich mit der Tasse in der Hand halb betäubt zurück zu meinen Trollen, dem Schwein und dem Frosch. Mit der Arbeit komme ich langsamer voran als sonst.
Am nächsten Tag starte ich wieder mit so einem schlaffen Beethoven-Gebräu. Dieses ergänzte der Komponist um eine allmorgendliche Waschroutine: Vor dem Spiegel schüttete er sich nur halb bekleidet aus einer großen Kanne Unmengen von Wasser über die Hände, wozu er laut sang und den Badezimmerboden flutete. Ich frage mich, ob hier der Ursprung des Beethovenschen Elans liegt (und nicht in seiner mauen Kaffeeration), entscheide mich aber stattdessen für die Dusche.

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Saties minimalistische Diät 

Kulinarisch von Beethovens Kaffee etwas unerfüllt zurückgelassen wende ich mich Saties Ernährungsgewohnheiten zu. Satie war ein echter kulinarischer Exzentriker, der seinen Unwillen, etwas Anderes als weiße Lebensmittel zu essen, bis ins kleinste Detail dokumentierte: 

Sein Abendessen begann stets um 19:16 und endete um 19:20. Er aß dabei lediglich weiße Speisen, nach eigenen Aufzeichnungen Ei, Zucker, gemahlene Knochen, das Fett toter Tiere, Kalbsfleisch, Salz, Kokosnüsse, in weißem Wasser gekochtes Huhn, verschimmeltes Obst, Reis, Rüben, Würste in Kampfer, Gebäck, Käse (weiße Sorten) und bestimmte Salat- und Fischsorten (ohne Haut). Sein Appetit sei gut gewesen, er habe aber nie beim Essen gesprochen aus Angst, sich zu verschlucken und zu ersticken.

Ich habe den Verdacht, dass ich einem Lieferservice mit einer Bestellung von gemahlenen Knochen und verschimmeltem Obst nicht kommen kann, darum wähle ich Ei auf Weißbrot. Mit meinem schwachen Kaffee fühlt sich das Ganze ein bisschen wie eine Mahlzeit im Großbritannien der 1950er Jahre an. Ähnliche Speisen füllten auch Jahrzehnte später noch die Küchenschränke meiner Großeltern. Ich denke an Saties Angst vor dem Ersticken und kaue vorsichtig, auch um zu verhindern, dass mein Magen komplett verstopft. 

Ich spüre die gleiche Art unbehaglicher Gelassenheit, die auch die Trois Gymnopédies bei mir hervorrufen: als ob man es sich in der eigenen Verrücktheit so richtig schön gemütlich gemacht hat. In meinem koffeinfreien Morgenrausch beginne ich mich zu fragen, ob hier größere Dinge im Gange sind. Was, wenn diese Ernährungsvorschriften und magischen Figürchen mich wie Ibsens Peer Gynt an den Rand des Wahnsinns gebracht haben und ich mich dort erst jetzt beim Hinunterschauen selbst ertappe? Ich nehme noch einen Schluck Kaffee, vertilge den letzten Bissen Ei und streichele das Schwein.

Der Fortschritt des Jahrhunderts – Die Blitzdampfpresse. Der elektrische Telegraf. Die Lokomotive. Das Dampfschiff. • Mit freundlicher Genehmigung des Metropolitan Museum of Art

Strawinskys Umkehr

Als ich mich endlich an den Schreibtisch setze, starre ich nur Löcher in die Luft. Vielleicht hilft Strawinskys tägliches Workout: Der Komponist begann jeden Tag mit körperlicher Ertüchtigung, und wenn er eine Schreibblockade hatte, machte er einen kurzen Kopfstand, um das Hirn frei zu bekommen. Im Laufe des letzten Jahres habe ich beim Heimtraining die ein oder andere Umkehrhaltung kennengelernt. Ich schmeiße also die Füße in die Luft, falle zurück und beginne tatsächlich zu schreiben. 

Ich beschließe, mit den Kopfständen weiterzumachen, wann immer mir die Worte fehlen oder ich einen kreativen Boost brauche. Ich werfe mich im wahrsten Sinne des Wortes Hals über Kopf in die Arbeit. Wann immer der dünne Kaffee mich schwächeln lässt oder das weiße Essen mir nicht schmeckt, genügt ein schneller Perspektivwechsel. Ich erfinde meine eigenen weißen Rezepte: Die gemahlenen Knochen, tierischen Fette und schimmeligen Früchten überlasse ich Satie und gönne mir stattdessen Eier, Brot, Fisch und Käse. Sogar meinen Glauben an Beethoven finde ich wieder, als ich feststelle, dass sein Leibgericht (Makkaroni mit Parmesan) einerseits sehr schmackhaft ist und andererseits auch bei Satie hätte auf dem Teller landen können.  

Anne Claude Philippe-de Tubières Kaffeeverkäufer • Mit freundlicher Genehmigung des Metropolitan Museum of Art

Dvořáks Trainspotting 

Was mir jetzt noch fehlt, ist Dvořáks Begeisterung für das Beobachten von Zügen. An einem Nachmittag, an dem ich nichts Besseres zu tun habe, ziehe ich mir also einen viel zu großen Regenmantel an, schnappe mir ein Notizbuch, eine Thermoskanne 60-Bohnen-Kaffee und checke die Fahrpläne.

Dvořák Eisenbahnbessenheit ist seit seiner Kindheit in Nelahozeves nördlich von Prag, wo der Bau und anschließende Betrieb einer neuen Eisenbahnlinie Menschen aus ganz Europa vor seine Haustür brachte, gut dokumentiert. Aber während bei ihm leviathanische Dampflokomotiven auf Schienen die Kulturen des Kontinents wie durch ein riesiges stählernes Nervennetz miteinander verbanden, muss ich mit den Nahverkehrszügen zwischen meiner halb-ländlichen Heimatstadt und Leeds vorlieb nehmen. Wenn ich Glück habe, erwische ich den nordwärts fahrenden 17:07er nach Carlisle. Das wäre normalerweise ein Pacer-Zug – eine spezielle Art von kreischendem Foltergerät, das von British Rail in den 1980er Jahren aus der Karosserie eines Busses gebaut und auf vier Räder (statt der üblichen acht) gestellt wurde. Ein Güterzug fährt vorbei, und ich beeile mich, irgendwas aufzuschreiben, denn das gehört sich für Trainspotter so. Ich merke aber, dass ich gar nicht weiß, was ich schreiben soll, also notiere ich »Güterzug« und schließe das Notizbuch.

Wie würden die Rhythmen der Slawischen Tänze wohl klingen, wenn Dvořák damit aufgewachsen wäre, Züge zu beobachten, die von einer tristen nordenglischen Stadt zur nächsten tuckern, anstatt durch die Verkehrsadern des ganzen Kontinents zu pulsieren? Statt der tunnelbauenden Italiener, die frischen Wind nach Mitteltschechien brachten, sehe ich nur Bahnhofspersonal, das mich von einem kleinen Fahrkartenschalter aus misstrauisch beäugt. Ich fühle mich ausgesprochen uninspiriert und nippe an meinem Kaffee. Der schmeckt jetzt noch schlechter. Im Bewusstsein beobachtet zu werden, verlasse ich unruhig die Gleise. Ich fühle mich wie ein Ausgestoßener, greife in meine Tasche, um den Troll, das Schwein oder den Froschzu reiben, was auch immer ich zuerst in die Finger bekomme, und mache mich auf den Heimweg.

In dieser Nacht habe ich Visionen von Trollen und Zügen. Ich werde von Fieberträumen geplagt, für die ich farbloses Essen, schwachen Komponistenkaffee und masochistische Yogastellungen, die das gesamte nährstoffarme Blut meines Körpers in meinen aufgewühlten Kopf gepumpt haben, verantwortlich mache. Ich erwache in einem Anfall von Wut und Verwirrung, stürze mich auf meinen Nachttisch und werfe die Figuren zu Boden. Dort liegen sie, nackt, verloren, starr vor sich hin stierend, genau wie ich. Ich verfluche Grieg für seinen norwegischen Aberglauben, Beethoven für seinen miserablen Kaffee und Satie dafür, dass er Knochen isst. Ich ärgere mich über Strawinskys Athletik und den Reiz, den die Eisenbahnen in ihrer eisernen Unnachgiebigkeit auf Dvořák ausübten. 

Morgen werde ich mir den stärksten Kaffee kochen, den diese kleine Stadt je gesehen hat, mir bunteste Mandalas aus Gemüse und Früchten zubereiten und diese kindischen Spielzeuge zurück in den Keller verbannen. Ich werde in der Gewissheit ruhen, dass solch exzentrisches Verhalten Symptom und nicht Katalysator besonders großer Kreativität ist. Ich werde nie wieder einen langen Regenmantel tragen, und ich werde niemandem erzählen, dass ich für eine kurze Zeit ein Trainspotter war. ¶

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