VAN: Können Sie sich an Ihre erste Begegnung mit Philip Glass erinnern?
Dennis Russell Davies: Ja, natürlich! Das war 1978. Philip kam mit einer Partitur zu mir. Es war seine Oper Satyagraha, die in Holland uraufgeführt werden sollte. Das Opernhaus in Amsterdam kannte ich zu diesem Zeitpunkt schon – ich hatte meinen Lehrer Bruno Maderna nach Europa begleitet und dann auch vertreten. Leider musste ich Philip erst einmal absagen, denn zu diesem Zeitpunkt begann gerade meine Tätigkeit in Stuttgart (als Generalmusikdirektor am Württembergischen Staatstheater, heute Staatstheater Stuttgart). Aber ich weiß noch: als ich die Partitur das erste Mal gesehen habe – mich hat das vom ersten Moment an fasziniert und ich habe gesagt: ›Philip, ich schau‘, was ich tun kann!‹
Kam das Projekt später noch zu Stande?
Zwei Jahre später, also 1980, konnten wir das gemeinsam realisieren. Das war dann auch der Anfang unserer Zusammenarbeit. Seitdem sind wir musikalisch sehr zusammengewachsen. Ich habe viele seiner Werke uraufgeführt. Aber nicht nur das. Wir haben uns auch persönlich richtig kennengelernt – wir sind gut befreundet. Aber ganz ehrlich, auch wenn es nur die musikalische Ebene zwischen uns gegeben hätte – diese Musik wäre mir auch ohne die persönliche Freundschaft immer wichtig gewesen.
Wie würden Sie Philip Glass beschreiben?
Er ist ziemlich geradeaus. Er arbeitet sehr viel. Er komponiert jeden Tag mehrere Stunden, egal, wo er ist. Es ist eine sehr ehrliche Art, Musik zu kreieren. Es ist nicht immer alles gut – das weiß er auch selber. Aber eins ist ihm gelungen: Er hat seine Finger irgendwie an einem Puls, der mit unserer Zeit zu tun hat. Das liegt zwischen ›ernster‹ Musik und Musik, die eher für die jüngeren Leute funktioniert – mit einem Hauch von Folk und Pop. Aber durch Philips Verbindung mit der Lebenseinstellung , gepaart mit seiner Beeinflussung durch asiatische Philosophieströmungen, enthält seine Musik bestimmte Elemente, die für uns in Europa und Nord- wie Südamerika sehr frisch und auch besonders sind.
Er engagiert sich ja auch politisch und sozial in verschiedenen Regionen …
Das ist ganz faszinierend, wie sehr ihn das beschäftigt. Und er ›lebt‹ das auch. Zum Beispiel: Er geht jedes Jahr in Mexiko mit einem Guide wandern, der ihm freundschaftlich sehr verbunden ist. Sie laufen dann durch die Gebirge, wo es sehr abgeschottete Indianerstämme gibt. Wenn man bei ihnen ist, liegt die nächste Stadt sieben Tage Fußmarsch entfernt. Das ist also wirklich sehr, sehr weit weg. Und neulich hat Philip dort ein Konzert gegeben! Sie haben irgendwo ein Klavier aufgetrieben, sogar einen Stimmer für das Instrument. Und mit Musikern aus den Stämmen, die dort übliche Schlagwerke gespielt haben, haben sie gemeinsam ein Konzert gespielt. Das sind Erlebnisse, die Philip interessieren, die ihn auszeichnen als Mensch. Und auch als Musiker.

Und wie ist er als Freund?
Ich sage immer: Ein Freund ist jemand, der auch deine Kinder annimmt. Und wenn ich weiß, dass eins meiner Kinder in New York ist und bei Philip landet, dann weiß ich: Sie oder er ist betreut. Darauf kann ich mich verlassen. Philip ist ein echter Familienmensch, er hat zwei mal zwei Kinder gehabt, in zwei Epochen sozusagen – jetzt hat er bereits zwei Teenager –, und er ist damit sehr beschäftigt.
Wie funktioniert Ihre musikalische Zusammenarbeit?
Das ist sehr intensiv. Gerade stecken wir in den letzten Vorbereitungen zu seiner 11. Sinfonie, die ich an seinem 80. Geburtstag uraufführen werde. (Am 31. Januar in New York in der Carnegie Hall mit dem Bruckner Orchester Linz.)
Er hat über die Jahre einen wunderbaren Orchesterklang entwickelt, und er weiß eigentlich genau, wie er es hören will. Ich erhalte seine handschriftlichen Entwürfe sehr früh. Philip ist einer, der zügig arbeitet, immer vorwärts denkend. Wenn er etwas geschrieben hat, dann geht er weiter. Er ist kein Komponist, der ständig zurück geht, noch einmal eine Fassung und noch eine Fassung erstellt, so wie wir es zum Beispiel von Bruckner kennen mit seinen vielfach überarbeiteten Sinfonien. Nein, wenn es bei Philip fertig ist, ist es fertig. Dafür bin ich eher wie Bruckner. Manchmal mach‘ ich ihn damit ganz fertig (er lacht), und dann sage ich auch: ›Philip, das geht so nicht! Weil das und das und das…!‹. Er bekommt also viele Fragen von mir zurück. ›Warum ist das so – wäre das nicht besser in dieser Form? Oh, ist da ein Fehler?‹ Manchmal hinterfrage ich auch Struktur-Elemente in der Musik und schlage vor, bestimmte musikalische Momente einige Takte zu verlängern oder zu verkürzen. Mittlerweile ist er das gewohnt, diese Art von Austausch mit mir zu ertragen. Ich bin sozusagen eine Art Beobachter, oder sagen wir ein ›Redakteur‹ für ihn.

Wie geht Philip Glass damit um, dass seine Musik so sehr polarisiert, auf große Begeisterung oder auf sehr schroffe Ablehnung stößt?
Ja, das ist eine merkwürdige Situation. Er hat auf der einen Seite so viele Menschen, die seine Musik mögen und hören wollen – und andere, auch Dirigenten-Kollegen, die das absolut ablehnen. Da existiert eine Mauer, und durch diese kommt er nicht durch.
Jeder muss eben die Musik machen, an die er glaubt. Und für mich steht diese Musik neben der von Pierre Boulez, John Cage oder Karl-Heinz Stockhausen, mit denen ich auch oft zusammen gearbeitet habe. Und ich lass‘ mir das auch nicht verbieten. Es ist meine Einstellung. Und die Tatsache, dass diese Musik so ein großes Publikum hat – dann möchte ich das den Hörern und Besuchern nicht abschlagen. Ich möchte mit dieser Musik auch Menschen gewinnen für das Konzert oder für die Oper. Wie oft habe ich das beobachtet: Wenn eine Glass-Oper läuft, dann laufen sie einem die Bude voll (lacht). Dem stehen Häuser gegenüber, wo Glass nicht ›durch die Tür‹ kommt.
Ärgert ihn das?
Nein! Nein, nein! Er hat so viel zu tun. Er hat ja doch so viele Möglichkeiten. Jetzt ist er öfter an der Met. Auch das neue Opernhaus in Linz haben wir mit einer Glass-Oper eröffnet, mit großem Erfolg.
Was ist für Sie das Radikalste in der Musik von Philip Glass?
Ich glaube, es ist die Beharrlichkeit, auf den richtigen Moment warten zu können, bis eine Harmonie gewechselt wird. Das ist ein großes Verständnis für musikalische Proportionen. Es ist auch das Verständnis einer speziellen Einfachheit. Hinter einer geraden Linie oder einer perfekt intonierten Tonleiter kann ein unglaubliches, musikalisches Abenteuer stecken! Es gab einen schönen Spruch zu Mozart, der besagt, dass Mozart zu einfach ist für die Amateure und zu schwer für die Profimusiker. Und das trifft auch auf Philips Musik zu. Wenn man die Noten anschaut, könnt man schnell sagen: Das kann doch jeder! Und dann setzt man sich hin und versucht, das wirklich perfekt zu spielen und dann merkt man, oh, das ist schwerer, als gedacht. Als Profimusiker versteckt man sich lieber hinter einer gewissen Virtuosität – aber dieser Einfachheit Leben einzuhauchen, dazu gehört sehr viel mehr als bloße Beherrschung der Technik eines Instrumentes!

Welches Stück ist eigentlich Ihre Lieblingskomposition von Philip Glass? Die 5. Sinfonie vielleicht, die Ihnen gewidmet ist?
Bei Mozart weiß ich das sofort: die Jupiter-Sinfonie. Aber bei Glass?
(Pause) Da kann ich mich nicht entscheiden … Vielleicht nenne ich das Lieblingsstück meiner Frau, die auch Pianistin ist. Sie liebt Opening für Klavier solo. ¶