Die Fortschrittsdoktrin der musikalischen Avantgarde ließ in der Nachkriegszeit ein ganzes Repertoire in den Schatten geraten und nötigte jeden Komponisten, sich zu ihr zu verhalten – und zu ihren einflussreichsten Exponenten Adorno, Stockhausen und Boulez. Seit etwa 30 Jahren ist das Geschichte, doch immer noch so nah, dass es am Überblick fehlt. Wie entstanden die Postulate und Lager der Kunstmusik, was bewirkten sie? Ein Anlass, das zu erkunden, ist der 100. Geburtstag von György Ligeti –  einem Komponisten, der alle Seiten verband.

Kurze graue Haare unter der Basecap, das Gesicht voller Lachfältchen, rauh, leise und rasant das Amerikanisch seiner Geburtsstadt New York sprechend, so saß mir Steve Reich kurz vor seinem Achtzigsten gegenüber, und irgendwann kamen wir auch auf die frühen 1960er. »Als ich Musik studierte, gab es zwei Möglichkeiten, Musik zu schreiben. So wie Boulez und Stockhausen, oder wie Cage. Oder du wurdest ausgelacht, ins Gesicht oder hinter deinem Rücken. Es war wie eine Wand.« Reich hat diese Wand dann einfach ignoriert und, grob gesagt, die Minimal Music erfunden, zusammen mit anderen, »meine Generation hat das Fenster zur Straße wieder aufgestoßen, das Schönberg geschlossen hatte.« Inzwischen könne ja jede:r schreiben, was und wie er und sie wolle. 

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Was Reich schuf, war auch für Jérémie Rhorer eine Befreiung, und das noch in den 1990ern. Der Komponist und Dirigent, 1973 geboren, studierte in Paris Komposition am Conservatoire. »Was nicht zur Ideologie des Modernismus passte, wurde beiseite geschoben. Die kommt aus der deutschen Philosophie, nicht nur von Adorno, das beginnt mit Hegel. Dieses Konfiszieren musikalischer Priorität fand ich unakzeptabel. Dann hat mir Reichs Musik eine Welt geöffnet. Aus irgendeinem Grund war er trotz seiner Neotonalität am Konservatorium akzeptiert, ich durfte mich in der Analyse mit ihm beschäftigen.« Den großen Schatten warf der Übervater der französischen Avantgarde: Pierre Boulez. Und das dreißig Jahre, nachdem Steve Reich als Student auf ihn gestoßen war!

Wand? Schatten? Hegel, Adorno, Ideologie? Wer sich mit der Welt der Kunstmusik nach 1945 höchstens mal am Rande befasst (an dem sie sich statistisch gesehen schon lange befindet), wird sich fragen, wovon hier die Rede ist. Die Beatles waren jedenfalls Anfang der 1960er nicht gerade vor die Wahl zwischen Boulez, Stockhausen und Cage gestellt. Sie mussten nur mit dem Markt klarkommen, mit der Konkurrenz von 300 weiteren Formationen in Liverpool, aber nicht mit den Akademien, in denen man sich mit dem Komponieren befasst, seiner Geschichte, seinen Techniken. Nicht mit potentiellen Auftraggebern, der Frage, wo und von wem etwas aufgeführt und gesendet werden kann und dem Diskurs darüber, wohin sich die Musik bewegt – der lange auch einer darüber war, wohin sie sich bewegen müsse.

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Dieser Diskurs war nicht neu, er führte seit Monteverdi etwa zwei Mal pro Jahrhundert zur Kontroverse. Aber die war nie war so heftig wie nach der »Stunde Null«, nach den 50 Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs, dem Mord an sechs Millionen Juden, flankiert von Verfemung und Verbot einer »entarteten Musik« wie der von Arnold Schönberg. Für eine radikale Neuausrichtung stand der 26-jährige Pierre Boulez, der 1951 schrieb, dass »nach den Entdeckungen der Wiener Schule jeder Komponist unnütz ist, der sich außerhalb der seriellen Bestrebungen stellt«. Womit er meinte, dass Schönberg nur den Anfang gemacht habe, als er die Tonfolgen für Stücke durch »Reihen« festlegte, zwölftönige, in denen alle Töne gleichberechtigt waren – systematische Befreiung der Musik von der Gravitation der Tonika. Das ging Boulez – »Schönberg ist tot« hieß sein Aufsatz – nicht weit genug. Auch Tondauern, Spielarten, Klangfarben sollten equalitymäßig vorsortiert werden, im Grunde sollte mit der Hierarchie der Mittel und mit aller Konvention auch das Subjekt aus der Musik verschwinden. 

Künstler, die dezidiert progressiv waren, hatten nach 1945 besonders in Deutschland – wo Boulez bald Furore machte – hohen Kredit. Besonders schwer wog das Wort eines deutschen Intellektuellen, der vor der Verfolgung der Juden in die USA geflohen und zurückgekommen war mit einer Philosophie der Neuen Musik, in der 1948 die »Wiener Schule« des ebenfalls exilierten Arnold Schönberg zu der erklärt wurde, »welche allein den gegenwärtigen objektiven Möglichkeiten des musikalischen Materials gerecht wird«. 

Pierre Boulez (ca 1961, vermutlich in Darmstadt) • Foto © Seppo Heikinheimo (die Rechtenachfolger konnten bis Redaktionsschluss nicht ermittelt werden)

Der Essay von Theodor W. Adorno (1903–1969) gilt als einer der Grundlagentexte der musikalischen Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg. Er ist aber auch ein Dokument maßloser Arroganz, in dem nahezu alle Komponisten, die nicht konsequent die Tonalität hinter sich lassen und am »Fortschritt« arbeiten, abgekanzelt werden, Elgar und Sibelius als Dilettanten, Schostakowitsch und Britten wegen »Simplizität aus Unbildung«, allen voran aber Igor Strawinsky, den Adorno zum hohlen Widerpart Schönbergs erklärt. Selbst der Sacre du Printemps ist da nur noch ein »Virtuosenstück der Regression«. »Artistenklugheit«, Partituren, mit denen der Komponist »aufwartet« – György Ligeti nannte den Essay »Revolverjournalismus«. 

»Das ist der Habitus des Wahnsystems. Er erlaubt es zugleich, allem, was nicht vom System eingefangen ist, autoritär zu begegnen.« Was Adorno da Strawinsky unterstellt, beschreibt eher sein eigenes Vorgehen, selbst Arnold Schönberg war davon abgestoßen. »Ekelhaft« nannte er diesen Umgang mit Strawinsky 1949 in einem Brief an Hans Heinz Stuckenschmidt. Es gibt aber auch weitaus Differenzierteres in der Philosophie der Neuen Musik – etwa die Kritik an einem gleichsam automatisierten Einsatz der Zwölftontechnik, einer Lähmung der »Spontaneität«, die zustandekomme, wenn eher »richtig« als »sinnvoll« komponiert werden müsse. Später dehnte Adorno diese Kritik auf den Serialismus aus, aus dem er das Subjekt und seine Freiheit vertrieben sah.

Einig mit den »Serialisten« war Adorno sich aber im Imperativ der Innovation und dessen Durchsetzung bei den für aufstrebende Komponisten maßgeblichen Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik. Eine Sinfonie des an Traditionen anknüpfenden 24-jährigen Hans Werner Henze wurde dort 1950 ausgepfiffen. 1957 wurden in Donaueschingen Henzes Lieder nach Gedichten von Ingeborg Bachmann uraufgeführt, woran sich Henze so erinnert: »Nach den ersten Takten schon haben sich Pierre, Gigi und Karlheinz  gemeinsam erhoben und sind rausgegangen.« Die kleine Demo des Triumvirats Boulez, Nono, Stockhausen konnte den energischen gleichaltrigen Newcomer nicht aus der Bahn werfen. 

Pierre Boulez, Bruno Maderna, Luigi Nono und Yaeko Yamané (von links nach rechts), 1955 in Darmstadt • Foto © IMD-Archiv/Hella Steinecke.

Aber für viele ältere Komponisten, für ein ganzes Repertoire hatte die Fortschrittsdoktrin verheerende Folgen, darunter viele von den Nazis Verfemte. Berthold Goldschmidt etwa – 1903 geboren, 1932 mit Der gewaltige Hahnrei als große Opernhoffnung gefeiert, später nach England geflohen – fasste als Komponist nie wieder Fuß, und noch 1994 warf er besonders Karlheinz Stockhausen »fast diktatorischen Einfluss« vor. Goldschmidts Lehrer Franz Schreker, als einer der erfolgreichsten Opernkomponisten der 1920er von den Nazis zutiefst gedemütigt und 1934 einem Herzanfall erlegen, blieb für Jahrzehnte ungespielt. Francis Poulenc und Paul Hindemith, noch in den 1950ern echte Stars, verschwanden aus der breiteren Wahrnehmung. 

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Auch der 1901 in Warschau geborene Simon Laks, der im Paris der 1930er begonnen hatte, sich als Komponist zu profilieren, stieß kaum noch auf Resonanz, nachdem er als Deportierter Auschwitz überlebt hatte – obwohl er bis 1967 eines der bedeutendsten Lied-Oeuvres des Jahrhunderts schuf. Sein Wiederentdecker Frank Harders-Wuthenow sagte im VAN-Interview: »Er merkte, dass es keinen Sinn mehr hat, Musik zu schreiben, die letzten Endes nicht mehr in die Musikgeschichte passte. Ich bin neulich erst wieder konfrontiert worden mit der Behauptung, das sei ja anachronistische Musik. Poulenc und die ganze Generation der um 1900 Geborenen – das ist dann einfach alles anachronistische Musik, weil die nach 1950 eben nicht dodekaphon komponiert haben!« Die Musikgeschichte in Frankreich sei nach 1945 »von Boulez dominiert, der den Franzosen erklärt hat, was wichtig ist und was nicht«.

Das erlebte auch die Geigerin Isabelle Faust so, die lange in Paris lebte und 2006 das Violinkonzert von André Jolivet einspielte, 1905 geborener Meister spirituell leuchtender Farben und Linien. »Er ist extrem schwer an den Mann zu bringen«, sagte sie 2012. »Er war in Frankreich verpönt, auch durch den Einfluss der Clique um Pierre Boulez. Heute würde Boulez keinem mehr den Garaus machen, er ist ein extrem sympathischer Mensch. Aber er hatte eine Macht, die in Deutschland schwer denkbar ist. In Frankreich geht alles von Paris aus. Es gibt die oberen Köpfe, und der Rest des Landes muss kuschen.« Nach Boulez’ Plänen wurde in den 1970ern das IRCAM ins Herz von Paris gegraben, Zentrum für musikalisch-akustische Forschung, zugleich dirigierte er in Bayreuth den Ring, souverän auf jeglichem Parkett, unanfechtbar und omnipräsent.

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»Seinem Einfluss war so schwer zu entkommen, dass Grisey und seine Freunde eine feste Übereinkunft hatten, nach der jeder, der Boulez’ Namen beim Essen erwähnte, losgehen und für die anderen eine Flasche Wein kaufen musste«, so zitiert VAN-Redakteur Jeffrey Arlo Brown in seinem neuen Buch über Gérard Grisey (1946–1998) einen Freund des Komponisten. »Ich will nicht, dass die ganze Welt unter meinen Vorlieben und Abneigungen leidet«, sagte mir Pierre Boulez 2013 in seiner Villa in Baden-Baden, 87 Jahre alt. Aber er stand zu seiner frühen Radikalität und lachte, als ich ihn an seinen Spitznamen »Robespierre« erinnerte. »Wir waren zuerst eine kleine Gruppe gegen das Musikleben einer großen Stadt, Paris. Wir waren Kreuzritter, wir wollten ein neues Evangelium bringen. Das ist gut für eine Periode. Aber hinterher muss man die Fenster öffnen, unbedingt…« 

Die Fenster im Diskurs klemmten allerdings nachhaltig, auch in Deutschland. Mit welchem »Material« etwa ein Stück konzipiert wird, welcher Tonvorrat, Klangvorrat, welche Konstellationen vor dem Komponieren festgelegt werden, errechnet oder erwürfelt, das war, als Spätfolge der »Reihen«, noch lange eine wesentliche Kategorie, auch wenn schon in den 1970ern das »Ich« wieder Luft bekam. Noch 2015, in einer Diskussion mit Komponistenkollegen, zu der die ZEIT eingeladen hatte, war Johannes Maria Staud, 1974 geboren, genervt vom »Materialbegriff« als Qualitätsindikator: »Man hat uns doch einen Minderwertigkeitskomplex aufgeschwatzt: ›Ja, ich bin ein kleiner Schmarotzer und verbrauche Steuergelder, und meine Musik will keiner hören, aber mit meinem Material hab ich sehr sauber gearbeitet.‹« Es gab viel Gelächter.

»Was in den letzten 20, 30 Jahren einen Riesenunterschied macht«, sagte beim selben Treffen die Komponistin Isabel Mundry, Jahrgang 1963, »ist die Auflösung des Kanonischen. Meine Generation ist noch in den letzten Zipfel davon hineingewachsen, da gab es noch den Ehrgeiz, auf dieser Linie seit Schönberg weiterzumachen. Für meine Studenten ist es ein großes Thema, dass sie in einer Zeit leben, die man als indifferent bezeichnen könnte.« Der alte Boulez sagte es bei unserem Gespräch 2013 so: »Die jungen Musiker haben es nicht leichter als wir. Jetzt sind sie frei und machen, was sie wollen. Das ist vielleicht sogar schwieriger, als gegen Leute zu agieren, die befehlen. ›Bin ich wirklich frei?‹, sagt Alberich. Sie sind nicht wirklich frei, denn es gibt die Geschichte eines Jahrhunderts, und man muss damit leben.«

Auch der Serialismus, Adorno und die Folgen sind schon länger Geschichte. Als 2016 in Donaueschingen der konservative britische Intellektuelle Roger Scruton in einem Vortrag mit all dem »abrechnete«, bekam er höflichen, fast mitleidigen Applaus – er kam 20 bis 30 Jahre zu spät damit, und nur ein paar Altideologen konnten sich noch aufregen. Dennoch funktioniert das Projekt einer auf den beständigen Fortschritt ihrer Mittel verpflichteten Avantgarde im Rückblick immer noch als Definitionszentrum: Es gab sie, wie zerstritten auch immer, und es gab die anderen, Arvo Pärt, Hans Werner Henze, Steve Reich, Aribert Reimann und Sofia Gubaidulina. Und dann gab es die Schüler von allen …

Seminar unter der Leitung von Bruno Maderna (Dritter von links), Pierre Boulez (Mitte, mit Sonnenbrille) und Hans Werner Henze (Dritter von rechts), 1955 bei den Darmstädter Ferienkursen • Quelle: IMD-Archiv Darmstadt

Die jetzt lebenden Komponist:innen bieten eine Diversität von Musik, in der die alten Lagergräben nur noch Schatten sind, und zu deren Schutzpatron man Györgi Ligeti ausrufen könnte, der in seinem Œuvre unfassbar viele Einflüsse vereinte, von Renaissanceharmonik bis Stockhausen, von Obertonmusik aus Neu Guinea bis zu chemischen Strukturen. Der jegliches System ablehnte, keinen »Stil« hatte und doch immer zu erkennen war. Der mit 80 Jahren erklärte, die Avantgarde sei als Projekt gescheitert, und dem »Fortschritt« mindestens einen Zahn zog: »Dann müsste ein späterer Künstler wertvoller sein. Aber das stimmt nicht. Hat man je bessere Musik geschrieben als Dufay? Andere Musik!«

Es tut gut, auf die ganze Chose mal von ganz woanders zu schauen: Eine Bar außerhalb von Los Angeles, Mitte der Sechziger, sehr cool, alle tragen Sonnenbrillen am frühen Abend. Da bricht aus einer Art Jukebox ein wildes Pfeifen und Keuchen los. Sofort sind alle still. »Was ist los?«, flüstert eine, die zum ersten Mal hier ist. »Das ist von Stockhausen«, erklärt der Barkeeper. »Die Leute, die früh hier sind, stehen mehr auf den Radio-Köln-Sound …« Thomas Pynchon wusste vermutlich nicht, was genau er in seinem 1966er Romanerstling Die Versteigerung von Nr. 49 in der (fiktiven) Elektronikbar Scope erklingen ließ. Es könnte Stockhausens Mikrophonie I sein, im Juni 1965 vom WDR ausgestrahlt. Noch heute krass, und es macht Spaß, sich das so diskursfrei anzuhören wie diese kalifornischen Hipster. Wenn man es schafft. ¶

…lebt als Buchautor, Journalist und Musiker in Norddeutschland. Er studierte Viola in Hannover, war Feuilletonredakteur in Hannover und Leipzig und ist seit 1996 selbstständig als Autor u.a. für ZEIT und Deutschlandfunk. Im Rowohlt Verlag erschienen von ihm »Bachs Welt« (2016) und »Der Klang von Paris« (2019). Sein neues Buch »Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918« erscheint im April 2022.

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