Die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik, kurz Darmstädter Ferienkurse, gelten als wichtiges, wenn nicht sogar das Treffen der Neue Musik Szene. Viele talentierte Komponist:innen erlebten hier die erste Aufführung eigener Stücke vor internationalem Publikum. Im Rahmen eines Projektes bei den Ferienkursen 2016 machte die Komponistin Ashley Fure die prozentualen Anteile der aufgeführten Komponistinnen von Anbeginn der Ferienkurse an sichtbar. Was die meisten vermuteten, hatte man Schwarz auf Weiß: Nur sehr wenige Komponierende der frühen Jahre waren weiblich und ihre Anzahl nahm im Lauf der Zeit nur mäßig zu. Dieses Projekt veranlasste das Internationale Musikinstitut Darmstadt, den Veranstalter der Ferienkurse, eine Anmeldequote einzuführen. Die Hälfte der Teilnahme-Plätze wurde 2018 für Frauen reserviert, denn diese melden sich zögerlicher an als ihre männlichen Mitstreiter, die Anmeldezahlen bestätigten es. Dazu kam eine gendersensible Auswahl der Dozent:innen und Vergabe der Kompositionsaufträge. Mit einer viertägigen Konferenz unter dem Thema Kuratieren von Neuer Musik mit Schwerpunkt auf Gender, Diversität, Dekolonisierung und technologischem Wandel wurde das Thema oben auf die Tagesordnung gesetzt.

Soviel zur Gegenwart. Und die Darmstadt-Geschichte? Die wird nach wie vor entlang einiger Komponistennamen, alles männliche, erzählt. Umso weiter entfernt eine Zeitspanne liegt, umso dicker werden die Gläser der subjektiven Brille, durch die wir auf sie schauen. Dass dabei in Darmstadt fast nur Männer in den Blick geraten, ist dem gängigen Fokus auf die Kompositionen geschuldet. Dabei geht es bei den Ferienkursen um mehr. Das Internationale Musikinstitut Darmstadt schreibt auf seiner Homepage: »Die Darmstädter Ferienkurse [sind] ein internationaler ›Hot Spot‹ für zeitgenössische und experimentelle Musikformen und Komposition: Sie sind Sommerakademie, Festival und Diskursplattform in einem und ein Treffpunkt von über 400 Komponist:innen, Interpret:innen, Performer:innen, Klangkünstler:innen und Forscher:innen.«

Da stellt sich die Frage, warum denn trotzdem nur von Komponisten wie Luigi Nono, Karlheinz Stockhausen, John Cage und Pierre Boulez gesprochen wird, wenn man über die frühen Jahre der Ferienkurse berichtet. Selbst das Lexikon Musik und Gender muss sich hier einreihen. Christa Brüstle schreibt dort: »[…] Bei den internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt […] beherrschte nach wie vor die ältere und junge Generation von Komponisten die Reihen der Werkpräsentationen. Darüber hinaus wurde der gesamte musikästhetische Diskurs der 1950er und 1960er Jahre […] von Komponisten und Musikschriftstellern geführt.«

Olivier Messiaen, Yvonne Loriod und Pierre Boulez mit Partitur (1952) • Foto © IMD-Archiv / Pit Ludwig
Olivier Messiaen, Yvonne Loriod und Pierre Boulez mit Partitur (1952) • Foto © IMD-Archiv / Pit Ludwig

Geht wirklich der gesamte musikästhetische Diskurs auf das Konto von explizit männlichen Komponisten und Musikschriftstellern? Wenn man sich durch die alten Fotos, Briefe, Teilnehmenden-Listen, Zeitungen und Zeitschriften gräbt, entdeckt man Frauen wie Margot Hinnenberg-Lefèbre, Annelies Kupper, Carla Henius, Yvonne Loriod, Ilona Steingruber, Brigitte Schiffer, Gladys Nordenstrom, Elisabeth Delseit, Dika Newlin, Else Stock-Hug, Elisabeth Lutyens, Mary Bauermeister, um nur einige der über 400 Akteurinnen zu nennen, die zwischen 1946 und 1961 die Ferienkurse in Darmstadt mitprägten. Es handelt sich bei ihnen nicht um irgendwelche Musikstudentinnen, sondern um international gefragte Sängerinnen, Pianistinnen, Komponistinnen, Autorinnen, Künstlerinnen, Lehrerinnen und Professorinnen. Ihr Mitwirken ist heute so gut wie vergessen. So findet beispielsweise das Schaffen der Dozentinnen Margot Hinnenberg-Lefèbre und Yvonne Loriod im Darmstadt der 1940er und 50er Jahre in der großen Neue-Musik-Erzählung keinen Platz. Wer waren diese beiden Musikerinnen, die Darmstadt auf vielfältige Weise mitprägten?

Margot Hinnenberg-Lefèbre (1901–1981) wuchs in Köln in einer Familie auf, in der Musik eine große Rolle spielte. Der Vater sang leidenschaftlich gerne und begleitete sich dazu selbst am Klavier. Die jüngste Tochter bekam ab dem 8. Lebensjahr Klavierstunden und mit 16 Jahren Gesangsunterricht. Ab 1917 studierte sie am Konservatorium in Köln Gesang. Während des Ersten Weltkriegs bestritt sie einige Soldatenkonzerte. Ihr letztes Studienjahr, 1920–21 verbrachte sie in München. Nach dem Studium wurde die Sängerin schnell erfolgreich und trat europaweit auf. Der Geiger Gustav Havemann machte sie im Jahre 1926 bekannt mit Arnold Schönbergs Streichquartett in fis-Moll. Zur Einführungsfeier Schönbergs in die Preußische Akademie der Künste führte sie, gemeinsam mit dem Havemann-Quartett, eben dieses Streichquartett auf. Schönberg war begeistert und schrieb in ihre Partitur: »Es war ein Vergnügen die Töne nicht nur mit Ausdruck, sondern auch mit Intonation und Intention zu hören. Herzlichst Arnold Schönberg.« Sie wurde seine favorisierte Sopranistin. 1931 sang sie die Londoner Erstaufführung von Schönbergs Erwartung, die einzige von Schönberg selbst dirigierte Aufführung.

Margot Hinnenberg (1947) • Foto © IMD-Archiv / Dr. Wolff, Tritschler OHG
Margot Hinnenberg (1947) • Foto © IMD-Archiv / Dr. Wolff, Tritschler OHG

Die Sängerin kam 1947 und 1949 als Dozentin zu den Darmstädter Ferienkursen. Unter den Lehrenden der frühen Jahre war sie eine der renommiertesten. In einem Brief an den Ferienkursleiter Wolfgang Steinecke besteht Günther Baum, der 1947 ebenso als Dozent für Gesang engagiert war, sogar darauf, dass er an ihren Seminaren teilnehmen kann: »Die Seminare von Frau Hinnenberg-Lefèbre liegen hoffentlich zeitlich so, dass ich sie miterleben kann, wornan [sic] mir viel liegt.«

Hinnenberg-Lefèbre hatte einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Ferienkurse. Letztlich waren sie und ihr Mann, der Musikjournalist Hans Heinz Stuckenschmidt, es, die Schönberg und die Musik der 2. Wiener Schule nach Darmstadt brachten: »Margot und ich kamen als erste Angehörige des Schönberg-Kreises und der Wiener Schule in einer Gesellschaft, die überwiegend an Hindemith und Strawinsky orientiert war. Darum wirkten vor allem ihre Konzerte als eine Art Offenbarung«, schrieb Stuckenschmidt in seinem Buch »Margot – Bildnis einer Sängerin«.

Yvonne Loriod (1924–2010) war Pianistin, Klavierpädagogin, Komponistin, Herausgeberin und Nachlassverwalterin ihres Ehemanns Olivier Messiaen. Sie brachte, bis auf Quatre Ètudes, alle Klavierstücke zur Uraufführung, die Messiaen nach ihrem Kennenlernen schrieb und war bis zur Emeritierung 1989 Professorin für Klavier am Pariser Conservatoire.

Loriod wurde in Paris geboren, wuchs dort auf und blieb bis zu ihrem Tod der Stadt treu. Schon früh bekamen sie und ihre Schwester Jeanne Klavierunterricht. Im privaten Umfeld ihrer Patentante Nelly Eminger-Sivades bewegten sich Künstler:innen wie Arthur Honegger und Francis Poulenc, denen Loriod im kleinen Rahmen vorspielte. Später studierte sie Klavier und Komposition am Pariser Konservatorium. Dort lernte sie Olivier Messiaen als ihren Dozenten für Harmonielehre am Konservatorium kennen. Nach dem Studium stellte Loriod ihre Kompositionsaktivitäten dem Klavierspiel nach.

Loriods Repertoire umfasste Werke von Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven, Fréderic Chopin, Claude Debussy, Béla Bartók, Arnold Schönberg, Pierre Boulez, Gibert Amy und viele andere Komponist:innen des 17. bis 20. Jahrhunderts. Nach dem Tod Messiaens widmete sie viel Zeit und Kraft der Verwaltung seines Nachlasses.

Seminar Loriod (vermutl. 1961) • Foto © IMD-Archiv / Hans-Kenner
Seminar Loriod (vermutl. 1961) • Foto © IMD-Archiv / Hans-Kenner

Bei den Darmstädter Ferienkursen war Yvonne Loriod in den Jahren 1952, 1954, 1955 und 1961 als Dozentin für Klavier tätig. Über einen Auftritt Loriods bei den Ferienkursen 1952 schreibt der Musikkritiker Wolf-Eberhard Lewinski (»Yvonne Loriod, Phänomen am Klavier«, Darmstädter Tagblatt, 24.07.1952): »Yvonne Loriod ist die leichte Verwunderung gewöhnt, mit der man sie bestaunt: wie denn soll es möglich sein, daß dieser so sehr zarte, grazile Mensch die schwierigsten und auch physisch schwersten Klavierwerke spielt, ohne selbst bei einem zweistündigen Werke in der Konzentration des auswendig wiedergegebenen Stückes und der Intensität wie der Kraft des Anschlages nachzulassen. Wie ist es möglich, daß diese feingliedrigen Finger pausenlose schwerste dissonante Akkorde in ungewohntesten Lagen des Instrumentes erklingen lassen, wie schließlich kann diese aparte wie scharmante [sic] Frau die brutalsten Klänge, die ein Messiaen sich aus Neuguinea ›abgehört‹ hat, aus ihrem Instrument herausholen?« Weil sie es sich erarbeitet hat, und sowieso: warum auch nicht?

Frauen waren in der frühen Darmstadt-Zeit entscheidender Teil des Geschehens, als Interpretinnen, Rezipientinnen, Lehrerinnen, Organisatorinnen und Mäzeninnen. In der Geschichtsschreibung und Dokumentation bleiben sie aber eine Randerscheinung. Von Hinnenberg-Lefèbre sind außerhalb von Archiven keine Tonaufnahmen zugänglich, von Loriod hingegen gibt es zahlreiche Aufnahmen, sie kommt als Person in den Darmstadt-Erzählungen jedoch so gut wie nie vor. Warum nehmen wir uns lieber die Zeit, uns von Komponisten einen vom Pferd erzählen zu lassen (über Sterne, Hochhäuser und dergleichen), statt für Künstlerinnen? Ohne sie wäre Darmstadt ein ganz anderes gewesen. ¶