Darmstadt, Sommer 1951. Bei den »Internationalen Ferienkursen für Neue Musik« herrscht Aufbruchsstimmung. Tagsüber besuchen die jungen Komponisten aus der ganzen Welt Seminare mit Titeln wie »La musique concrète« oder eine Einführung in die Zwölftonmusik, die Theodor W. Adorno anstelle des erkrankten Arnold Schönbergs hält. Abends diskutiert man auf den idyllischen Wiesen der Marienhöhe mit Blick über die Stadt, die noch in Trümmern liegt. Aus Frankreich hat der Musikkritiker Antoine Goléa eine eben erschienene Schallplatte mit dem neuesten Klavierzyklus Olivier Messiaens mitgebracht, Quatre Études de rythme. Ein 22jähriger Musikstudent aus Köln, zum ersten Mal in Darmstadt dabei, ist derart fasziniert von der Platte, dass Goléa sie ihm wieder und wieder vorspielen muss. Besonders das knapp vierminütige Werk Mode de valeurs et d‘intensités hat es ihm angetan. Für den Studenten, der Karlheinz Stockhausen heißt, zeigt es eine neue Art des Komponierens auf. Er gibt dem Stück einen eigenen, poetischen und für ihn selbst typischen Titel: Sternenmusik.

Ob sich diese Szene tatsächlich so abgespielt hat oder ob es sich um eine Legende handelt, ist wie so oft nicht mehr nachprüfbar. Auch sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass in Darmstadt nicht nur musikalischer Idealismus, sondern auch mal mehr, mal weniger offen zur Schau gestelltes (männliches) Machtkalkül regierte, das schließlich zum Bruch zwischen ehemals engen Freunden wie Stockhausen und Nono führte. Und trotzdem hat mich die Vorstellung immer berührt, wie hier eine Generation junger Komponisten buchstäblich im Schatten der Apokalypse, die zu diesem Zeitpunkt nur sechs Jahre zurück und ein paar hundert Meter Luftlinie entfernt liegt, mit einem Eifer an der Neuerfindung der eigenen Mittel und Methoden arbeitet, der in der Musikgeschichte einzigartig ist. Dieser Eifer war nicht nur auf die so genannte Neue Musik beschränkt. Denn auch wenn es, gesellschaftlich betrachtet, einen kompletten Bruch mit den Strukturen des Dritten Reichs nie gegeben hat, so beflügelte die ominöse »Stunde Null« doch zumindest als Idee Künstler_innen in allen Sparten, radikal Neues zu denken. Ausgerechnet die im Nachhinein oft als hoffnungslos verstaubt geltenden und angeblich von »Adenauer-Mief« eingehüllten 1950er Jahre legten in den Künsten eine Experimentierfreudigkeit an den Tag, die uns heute zuweilen ziemlich alt aussehen lässt.  

In der Literatur widmeten sich die Autoren der »Gruppe 47« der Aufarbeitung der Vergangenheit und übten sich in beißender Gegenwartsanalyse. Ähnlich der »Trümmerfilm«, der allerdings auch aufgrund des kommerziellen Drucks schnell wieder mit der Hinwendung zum Heimatfilm-Genre reaktionäre Reflexe zeigte. In der Bildenden Kunst wiederum gingen Maler wie K. O. Götz mit dem Informel über das bloß Abstrakte hinaus. Interessanterweise gab sich in diesem Konzert der Künste die Neue Musik am explizitesten utopisch. Gerade vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Diktatur und der Sinnlosigkeit des erfahrenen Leids gewinnt das Konzept der seriellen Musik, das in Messiaens Mode de valeurs et d‘intinsités die Darmstädter Komponisten so beeindruckte, ideologische Dimensionen: Es geht um die vollkommene Gleichheit aller Parameter und nicht nur, wie in der Zwölftonmusik, der Tonhöhen, die Gleichberechtigung aller Elemente, die vollkommene Sinnhaftigkeit selbst des kleinsten und scheinbar unwichtigsten Details. Bei Luigi Nono führt diese Vision in den 1950ern zu einer Verbindung von Kommunismus und Serialität. Stockhausens Musik hingegen zielt ins unüberhörbar Religiöse (damals noch Katholische): Sehr schnell hat er nach seinen beiden elektronischen Studien das rein Abstrakte verlassen und schreibt mit Gesang der Jünglinge 1956 auf einen Text des Alten Testaments ein modernes und ernst gemeintes Gotteslob.

Diese Zielrichtung unterscheidet sich grundlegend von einem Künstler wie Heinrich Böll, mit dem Stockhausen auf den ersten Blick einiges verbindet. Böll ist Kölner und damals noch katholisch. Die Tatsache, dass er schwer verwundet den Zweiten Weltkrieg überlebte, begreift er als »Auftrag«, ja, Mission, in seinen Werken Zeugnis abzulegen und eine historische Wiederholung durch aktive Einmischung in die Gesellschaftspolitik zu verhindern. Stockhausen und Böll trennen zwar mehr als zehn Jahre, doch die Kriegserlebnisse sind für beide ähnlich prägend. Ich glaube, um Stockhausen, sein Werk und nicht zuletzt seinen geradezu manischen Blick nach vorne zu verstehen, muss man sich stets seine Kindheit und Jugend vor Augen halten: Mit 16 Jahren ist Stockhausen Vollwaise. Was er bis dahin erlebt hat, übersteigt eigentlich das, was ein Mensch verkraften kann. Er ist vier Jahre alt, da wird seine Mutter Gertrud in eine Nervenheilanstalt eingewiesen und 1941 vergast. Erst kürzlich stellte sich heraus, dass sein Vater Simon, ein bekennender Nazi, diese Einweisung nicht zuletzt auch deshalb betrieb, um sich von ihr scheiden zu lassen und seine Haushälterin heiraten zu können, mit der er dann zwei weitere Kinder hat. In den letzten Kriegswochen wird Stockhausen, den sein Vater in eine nationalsozialistische Lehrerbildungsanstalt abschob, wo er körperlich misshandelt wurde, als Lazaretthelfer an die Front geschickt. Er erlebt Gefangenenerschießungen und muss durch Phosphorbomben Entstellte verarzten. Als er desertiert, sieht er auf seiner Flucht im Wald aufgehängte »Fahnenflüchtige«. Zu Hause meldet sich sein Vater, obwohl aus dem Ersten Weltkrieg kriegsversehrt, freiwillig an die ungarische Front. »Mach’s gut«, verabschiedet er sich trocken von seinem Sohn. Kurz darauf erhält der den Bescheid, sein Vater sei gefallen. Stockhausen muss nun allein seine drei Geschwister und Stiefmutter über Wasser halten, unter anderem als Knecht bei Bauern. Wer Stockhausen privat erlebte, wusste, wie ungern er über seine Jugend sprach – und wenn, brach er, auch noch als alter Mann, nicht selten in Tränen aus.

Stockhausen begreift sein Überleben wie Böll als Mission. Aber nicht, um Zeugnis abzulegen oder politisch aktiv zu werden, sondern einzig und allein um durch seine Musik eine »bessere« und das heißt zwar auch ethisch hochstehende, aber vor allem geistig-religiöse Welt herbeizuführen. Der Blick geht bei ihm in das scheinbar Unerreichbare, in die Weite. Räumlich in die Sterne und zeitlich in die Zukunft, niemals zurück. »Furchtlos weiter« lautete denn auch Stockhausens Credo. Und es handelt sich bei Gesang der Jünglinge von Anfang an um ein in meinen Augen stark autobiografisches Projekt – was bei derart idealistischen, überpersönlichen Zielen auf den ersten Blick paradox anmutet. Ursprünglich freilich wollte Stockhausen seinem Gesang der Jünglinge noch einen zweiten Teil anfügen, was nur durch den Zeitdruck, das Stück bis zur Uraufführung fertigzustellen, verhindert wurde. Darin wären nach Gott und seinen Werken auch Stockhausens Familie und Bekanntenkreis gepriesen worden.

Stockhausen ist zugleich der konsequenteste unter den Darmstädter Komponisten jener Zeit. Aus der Idee heraus, neben sämtlichen Parametern auch die Klangfarbe perfekt bestimmen zu können, wendet er sich der elektronischen Musik zu. Die Diskrepanz zwischen dem in umfangreichen Schriften formulierten Anspruch und den tatsächlichen musikalischen Ergebnissen, die am Ende mit ihren Sinusklängen sehr beschränkt klingen, ist heute zwar größtenteils ernüchternd, manchmal grotesk. Auch kündigt sich hier ein merkwürdiger Widerspruch an, der bald schon zum Ende des seriellen Projekts führen sollte: die totale Bestimmung aller Parameter schafft bei strikter Befolgung genau das, wogegen sich ihre Idee eigentlich ursprünglich wandte: totale Kontrolle und eine Diktatur des Konzepts. Utopie wird Dystopie. Und dennoch beeindruckt auch hier wieder Stockhausens unbedingter Wille zum Neuen: Das Stück, das er parallel zum Gesang der Jünglinge konzipiert, Gruppen, soll zunächst Orchesterklänge mit elektronischer Musik und auf Band aufgenommenen Orchestern kombinieren, bis er sich aus technischen Gründen dazu entschließt, drei Orchester und insgesamt 109 Musiker auf Podien im Raum zu verteilen. Auch dieser Partitur, die sich dieses Mal anders als in Gesang der Jünglinge jeder konkreten Aussage verweigert, gibt er zumindest im Autograf eine religiöse Note. An ihr Ende schreibt er: »Deo gratias«.

So wenig Stockhausen mit den jeweils aktuellen Moden und Strömungen zu tun haben möchte und stolz auf den Anspruch der eigenen Überzeitlichkeit war, so offensichtlich ist doch, wie sehr er am Ende Kind seiner Zeit blieb. Ich glaube, kein anderer seiner Kollegen machte einerseits so viele radikale Wandlungen durch und war Experimenten gegenüber derart offen wie er: von der seriellen Musik der 1950er über ihr völliges Gegenteil, die intuitive Musik, in den späten 1960ern bis hin zur melodiösen Formel-Musik der 1970er. Andererseits schlägt weder bei Luigi Nono, Pierre Boulez noch György Ligeti derart der Zeitgeist durch wie bei Stockhausen – am eklatantesten und einleuchtendsten in den 1960ern, dem Jahrzehnt der Utopien. Sein »Freibrief an die Jugend« vibriert von der agitierenden Begeisterung des Jahres 1968: 

Nehmen wir also an der großen Revolution der Menschheit teil, denn wir wissen, was wir wollen. Es lohnt sich, das Leben einzusetzen, wenn es ums Ganze geht. Ja! Es lohnt sich nicht mehr, wenn es um Teilwahrheiten, um ein privates, gruppenhaftes, völkisches, einseitig politisches Problem geht. Lassen wir uns nicht mehr darauf ein, es handle sich um eine französische, vietnamesische, tschechische, russische, afrikanische … Revolution: es ist die Revolution der Jugend der Welt FÜR den höheren Menschen. Der höhere Mensch wird nicht durch Zerstörung, durch Atomspaltung, durch das Schließen der Grenzen geboren, sondern im wachsenden Bewusstsein, dass die Menschheit ein einziger Körper ist, und dass der ganze Körper krank und unfähig ist, solange auch nur eines seiner Glieder geschlagen, getreten, unterdrückt, vergewaltigt wird.

Stets geht es Stockhausen um das Einreißen von Grenzen, nationalen, politischen, künstlerischen, religiösen und vor allem geistigen: 

Homo und poly und homo und hetero und homo und mono und homo und. Und und entweder und oder und und. UND.

Das noch einigermaßen traditionell Katholische der 1950er Jahre hat sich jetzt zu einer allgemeineren, universellen Spiritualität und Humanität gewandelt. So offen gegenüber bereits vorhandenen Klängen, Stücken und Geräuschen wie in dem opus magnum jener Zeit, den Collage-artigen Hymnen (1966–1969), war Stockhausen nie wieder. Auch nie wieder so offen politisch, als er darin, als Anspielung auf die deutsche Teilung, die deutsche Hymne sukzessive »zerteilt« und in einer Pause das Horst-Wessel-Lied als Erinnerung an die braune Vergangenheit erklingen lässt. Hymnen ist aber auch ganz konkret eine Reise ins Utopische: Nachdem in drei Regionen über 40 Länder musikalisch zitiert werden, führt die IV. Region in die sogenannte Hymunion, die alle Nationen vereint. Das Stück klingt schließlich im Menschen selbst aus, mit ruhigem Atmen. 

Spätestens jetzt, Ende der 1960er, ist Stockhausen zur Ikone der Utopisten geworden: Künstlerisch pflegt er einen Innovationsanspruch, der kaum zu überbieten ist, vor allem mit seinem Nimbus als Erfinder der elektronischen Musik; und wenn er nun seine Entdeckungen im Bereich der Philosophie und Spiritualität in Interviews und eigenen Texten formuliert, ist er auch eine Gestalt geistiger Orientierung. Das macht ihn, anders als seine Kolleg_innen, höchst attraktiv für die Popkultur der damaligen Zeit, die sich bei aller Rebellion auch nach neuen Leitfiguren sehnt. Die CAN-Gründer Holger Czukay und Irmin Schmidt werden Mitte der 1960er Jahre seine Student_innen, Mitglieder der Bands »The Grateful Dead« und »Jefferson Airplane« besuchen in San Francisco seine Seminare; Frank Zappa setzt ihn in seinem Debütalbum Freak out 1966 auf die Dankesliste; Herbie Hancock trifft sich mit ihm nach einem Konzert und will bei den Hymnen mitspielen; Miles Davis schreibt sein Album On the Corner 1972 unter dem Eindruck von Stockhausens Live-Elektronik-Werk Mixtur, Thomas Pynchon und Philip K. Dick lassen ihn in ihren Romanen auftreten, und – sicherlich am bekanntesten – die »Beatles« bilden ihn 1967 auf ihrem Album Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band ab. Ein gemeinsames Konzert wird geplant, kommt aber nicht zustande.

Es fällt auf, dass in den späten 1970ern viele jener tonangebenden Komponist_innen Neuer Musik eine wenn nicht persönliche, so doch künstlerische Krise durchlebten, die zu einer musikalischen Neuorientierung führte. Spätestens hier scheinen Gedankengebäude und Methoden, die sie bis dahin aus der unmittelbaren Nachkriegszeit weiterentwickelten, zu einem Ende gekommen zu sein. Gleichzeitig markiert die Zeit auch einen radikalen Neuanfang, bei dem sich der jeweilige Individualstil, befreit von jedem »-ismus«, so stark wie nie zuvor ausprägt. Pierre Boulez schafft 1981 sein großes Live-Elektronik-Werk Répons, György Ligeti vollzieht im Jahr darauf mit seinem Horn-Trio seine »postmoderne Wende«, Luigi Nono ist spürbar vom Scheitern des Kommunismus betroffen und propagiert in seinem Hörtheater Prometeo 1981 den reinen suchenden Klang, ein Projekt, das auch den Titel eines seiner letzten Stücke tragen könnte: La lontananza nostalgica utopica futura. Stockhausen wiederum beschließt 1977 mit 49 Jahren, für das nächste Vierteljahrhundert einen Zyklus aus sieben Opern zu schreiben, deren erste, der Donnerstag, ebenfalls 1981 uraufgeführt wird. Die Entscheidung für ein Genre, das wie kein anderes Sinnbild der elitären Kunst ist, ist hier durchaus bemerkenswert für einen Komponisten, der sich bislang stets allen traditionellen Formen vehement verweigert hat. 

Vielleicht passt diese Neuerfindung und insbesondere Stockhausens Monumentalprojekt ja auch besser in die Epoche der späten 1970er als man auf den ersten Blick meinen sollte. Denn insbesondere die zweite Hälfte des Jahrzehnts ist nach der Aufbruchstimmung der 1960er geprägt von der »neuen Unübersichtlichkeit«, politischen Enttäuschungen und Krisen, regressiven Bewegungen in der Gesellschaft und – nach diesem Ende der Utopien – dem viel beschworenen »Rückzug ins Private«. Stockhausen ist sich und seinem Ruf als Visionär zwar treu geblieben; mit der »Formel-Komposition« hat er sich 1970 noch einmal neu erfunden; doch nach den rasanten Stilwechseln der vergangenen beiden Jahrzehnte ist es bis zu KLANG, seinem bei seinem Tod 2007 unvollendeten Zyklus, seine letzte Verwandlung als Komponist. Von jetzt an sind seine wichtigsten Erneuerungen eher geistiger Art. Das beginnt damit, dass er Anfang der 1970er wesentliche Inspirationen aus dem esoterischen »Urantia«-Buch zieht, das 1955 in Chicago erschien. Wahrscheinlich ist ein Aspekt, der Stockhausen an diesem, gelinde gesagt, kruden, über 2000seitigen Buch faszinierte, die Synthese von Geschichte, Naturwissenschaften und (christlicher) Religion und damit jenes große »UND«, von dem er in den 1960ern träumte. Diese Entwicklung mündet in der viel zitierten Behauptung Stockhausens, er stamme vom Sirius und wolle dorthin auch wieder nach seinem (irdischen) Tod zurückkehren. Wenn man Stockhausen fragte, was genau er damit meine, schließlich sei ja Leben auf dem Sirius nachweislich nicht möglich, antwortete er ausweichend, wir alle kämen ja irgendwoher, es sei schon witzig, was alle immer für Gesichter machten, wenn er das behaupte etc. Stockhausens überlieferte Selbstauskünfte zum Sirius sind ebenfalls vage. Doch der Satz, auf dem Sirius sei Musik die höchste Form aller Schwingungen, legt die Vermutung des persönlichen Utopia eines Menschen nahe, für den die Musik alles war und zum Mittel überhöht wurde, um Hörer_innen (vor allem von Stockhausens Werken) zu bewussteren und damit »besseren« Menschen zu machen. Damit gab er sich als typischer deutscher Romantiker zu erkennen, der sich von seinem Glauben an die Verwirklichung des Unmöglichen in der Kunst durch nichts abbringen ließ. Am eindrücklichsten in LICHT.

Wie so oft bei Stockhausen gibt es zur Genese seines opus magnum eine geradezu filmreife Szene. Stockhausen hörte 1977 beim Besuch eines Tempels in Kyoto zufällig die Gesänge der buddhistischen Priester und entdeckte dabei mehr und mehr Ähnlichkeiten zu europäischer, aber auch indischer und arabischer Musik. »Mir ist schlagartig bewusst geworden, dass alle Unterscheidungen von Kulturen und Sprachen und von Kompositionen einzelner Komponisten Dialekte sind, dass die Grundmaße für alle die gleichen sind, die Intervalle.« Stockhausens Traum einer Weltmusik seit Hymnen klingt hier noch einmal an. So wie das Urantia-Buch für Stockhausen so etwas wie eine Universalsynthese darstellte, entwickelt er bald nach diesem Erlebnis wie aus einem Samenkorn aus einer kurzen komplexen Formel einen ganzen Kosmos, ein Werk von sieben Opern aus Musik, Texten, Gesten, Bildern und sogar Düften. Idealerweise ist alles, was man in diesen 29 Stunden erlebt, auf eben diese eine »Super-Formel« zurückzuführen – bei der sich Stockhausen im Lauf der Jahrzehnte verständlicherweise einige Freiheiten erlaubt hat. Und auch wenn er auf die regelmäßig bemühten Wagner-Vergleiche stets sofort entrüstet entgegnete, dieser habe ja zurück in die Vergangenheit, in die germanischen Sagen geschaut, er hingegen blicke in die Zukunft, so handelt es sich doch um die Verwirklichung eines Gesamtkunstwerks, wie es in dieser Form historisch einzigartig ist. Im Donnerstag, der ersten Oper, realisierte Stockhausen sein ursprüngliches Konzept am ausgeprägtesten, von dem er dann nach und nach immer mehr abwich: Alle drei Hauptdarsteller werden hier zum einzigen Mal im Zyklus tatsächlich dreifach, sowohl von Sängern, Instrumentalisten und Tänzern, dargestellt. Und auch wenn LICHT meist an ein kosmisches Ritual erinnert, bei dem sich alles in Spiel auflöst, so wenn im Dienstag aus LICHT, dem Tag des Krieges, nach einem heftigen Kampf, der die Musiker quer durch den Zuschauerraum jagen lässt, die Bühne aufgesprengt und dahinter eine jenseitige Welt sichtbar wird, in der engelsartige Chöre wie beim Roulette mit Soldaten und Panzern hantieren – der Opernzyklus ist doch in meinen Augen auch ein Projekt der eigenen, sehr persönlichen Katharsis. Wieder am deutlichsten im Donnerstag. Stockhausen hat hier so offen wie nirgendwo sonst seine eigene Autobiografie verarbeitet und der ultimativen Überhöhung unterzogen, indem er sie mit der christlichen Heilsgeschichte kombinierte. Die Hauptfigur, Michael, durchlebt bis auf wenige Details Stockhausens traumatische Kindheit und Jugend, bevor er, wie Stockhausen in den 1960ern, musikalisch um die Welt tourt und schließlich, heimgeführt vom »Sternenmädchen« Eva, im Himmel ein »Festival« feiert, das von seinem ewigen Widersacher Luzifer gesprengt wird. Mit dessen Rufen, Michael sei ein »Naivling« und »Narr«, endet die Szene. 

Wenn es zutrifft, dass Stockhausen ab dem Moment aufhörte, ein Kind seiner Zeit zu sein, da er sich im Lauf der 1980er ganz in sich selbst und seinen eigenen Kosmos zurückzog und kaum noch Anteil an aktuellen Ereignissen und den Werken anderer nahm, was verraten dann umgekehrt die medialen Reaktionen auf Stockhausens ambitionierteste Utopie LICHT über die damalige Gesellschaft? Wurde Stockhausen bis dahin von der Presse mitnichten mit Samthandschuhen angefasst, markiert insbesondere LICHT jenen Punkt, an dem die Kritik an Stockhausen ins Despektierliche umschlug und er für die (deutsche) Presse bis zu seinem Tod zu genau jenem »Naivling« und »Narren« wurde, als den Luzifer Michael am Ende vom Donnerstag verlacht. So sprach nach der Mailänder Uraufführung des Donnerstag aus LICHT 1981 die Frankfurter Rundschau von einem »Globaltheater verwackelt«, die Süddeutsche Zeitung spürte »Stockhausens kosmisches Theaterdefizit« auf und die Frankfurter Allgemeine Zeitung mokierte sich über die »Welterlösung«, von der der Komponist hier schwadroniere. Stockhausen selbst reagierte damals spürbar verletzt mit einem offenen Brief: 

NIE seit 1952 bin ich in der deutschen Presse so eindeutig in so unflätiger und niederträchtiger Weise persönlich angegriffen worden. Der Angriff richtet sich 1.) gegen den transzendentalen Geist in meinen Werken; 2.) gegen die musikalische Mitarbeit meiner Kinder. – Alle musikalischen Kriterien werden nirgendwo erwähnt. Niemand hat ein Argument gegen die künstlerische Qualität der genannten Musiker unserer Familie.

Stockhausens LICHT fällt genau in jene Epoche, in der, besonders in Deutschland, die Ironie zur vorherrschenden Gesinnung, »anything goes« zum Lebensmotto erhoben und im Gegenzug jede gesetzhafte Methodik, wie sie die Formel-Komposition Stockhausens suggeriert, vehement abgelehnt wurde – und, vor allem in den 1990ern, nach dem Jubel über die deutsche Wiedervereinigung, hedonistischer Materialismus über jede ernst gemeinte Spiritualität triumphierte. Diese Mentalität hat sich zu Beginn des neuen Jahrtausends, spätestens mit der Finanzkrise 2008 und dem Kampf gegen den islamistischen Terrorismus, der auf den 11. September folgte, ohne Zweifel geändert. Aus Ironikern sind Zyniker geworden; die sozialen Netzwerke stellen theoretisch die Verwirklichung der medialen Utopie eines »global village« dar – und befördern doch in Wahrheit stattdessen oft nur eine Gesellschaft der Unverbindlichkeit und Paranoia, die der Erregungskultur den Vorzug über die der dauerhaften Vertiefung gibt. Die Gegenströmung der »new sincerity« schlägt sich indes in einer neuen Politisierung nieder, die einerseits künstlerische und soziale Einmischung propagiert, andererseits aber auch Radikale auf den Plan ruft, die sich als Hüter vermeintlich konservativer Werte verstehen. Wo ist da Platz für jemanden wie Stockhausen, der lange quasi instinktiv in der Zeit war, nun aber ganz aus ihr gefallen scheint? Dessen Werke zudem enorme finanzielle, technische und musikalische Anforderungen stellen in einem Moment, in dem immer lauter über leere Kulturkassen geklagt wird und das Klassik-Publikum unaufhaltsam veraltet? Was kann Stockhausen, der selbst ernannte Messias der Neuen Musik, heute noch bewirken?

Lassen wir für einmal die (zu) oft gehörten Klagen darüber außer Acht, dass Stockhausen in seiner Selbst-Darstellung unerträglich egozentrisch gewesen und seine »Privatmythologie« ungenießbar sei. Was an Stockhausen immer noch imponiert, ist sein unbedingter Wille zur Innovation. Man wird in der Musikgeschichte keinen zweiten Komponisten finden, der so unterschiedliche Werke wie Gesang der Jünglinge, Gruppen, Hymnen, Goldstaub, Stimmung, Inori, Licht und Klang geschrieben hat. In all diesen Stücken ist zudem eine handwerkliche Meisterschaft zu spüren, der nichts Experimentelles, Ausprobierendes anhaftet; stattdessen suggeriert sie eine völlige Beherrschung des jeweiligen Metiers. Stockhausens Anspruch, mit jedem Stück Neuland zu betreten, mag zuweilen zwanghaft, ja, gezwungen wirken; und doch wünscht man sich dringend mehr von diesem künstlerischen Pionier-Geist in den gegenwärtigen Romanen, Konzerten, Spielfilmen, Serien und Gemälden. Innovation kann aber nur dort entstehen, wo man tatsächlich auch ernsthaft an die Möglichkeit einer Verbesserung der Welt und damit an eine positive Zukunft glaubt – selbst wenn man weiß, dass es die eigenen Kräfte übersteigt und am Ende nur ein Traum davon übrig bleiben wird. 

Was bei Stockhausen zusätzlich bewegt und zwar umso mehr aus der zeitlichen Entfernung, ist die Meisterung der eigenen Biografie. Stockhausen wurde bereits als Kind nahezu alles genommen; inmitten dieser Trümmer entschied er sich für eine nicht nur völlig voraussetzungslose, brotlose, belächelte und – mit der mühsamen und langwierigen Arbeit im elektronischen Studio der 1950er und 1960er – körperlich harte Kunst. So weltfremd und mit seinen esoterischen Ansichten befremdend der späte Stockhausen manchmal auch wirkte, so spürbar erfüllt ist seine Musik doch von einer ebenso aufrichtigen wie tiefen Liebe zum Leben und zum Menschen in all seinen Facetten. In diesem Bekenntnis von einem, der eigentlich allen Grund gehabt hätte, zum Nihilisten oder Zyniker zu werden, liegt das, was bei Stockhausen für mich persönlich so zu Herzen geht – und dieses Mal ausnahmsweise, ohne dass er es kalkuliert hätte. Unkontrolliert. »Ich weiß«, heißt es am Ende von Vision, der letzten Szene im Donnerstag, »dass viele von Euch mich verlachen, wenn ich Euch singe: Ich habe mich unsterblich in die Menschen, in diese Erde und ihre Kinder verliebt – trotz Luzifer – trotz Satan – trotz allem …« ¶

Alle Abbildungen aus der in Arbeit befindlichen Graphic Novel: »Der Mann, der vom Sirius kam« von David von Bassewitz und Thomas von Steinaecker. Erscheint voraussichtlich 2020 bei Carlsen.