Was für ein Jahr! Am 31. Dezember 1922 notiert die passionierte Tagebuchschreiberin Hedwig Pringsheim: »Möge 1923 besser werden, als dies nach jeder Richtung schlimmste 1922. Amen!« 365 Tage später resümierte sie lapidar: »Adieu 1923; du warst nicht schön«, und setzte danach zwei lange Gedankenstriche.
Zwischen Pringsheims emotionsgeladenem Stoßgebet und ihrem lakonischen Rückblick liegt eine Zeit multipler Krisen, in der Deutschland und die noch junge Weimarer Demokratie an den Rand des Abgrunds gerieten. Ein Jahr der Extreme, das sich tief ins kollektive Gedächtnis eingeprägt hat und das zugleich eindrucksvoll vor Augen führt, dass Musik keine weltentrückte Kunst ist, sondern eine ästhetische, kulturelle und soziale Praxis, in der sich die Erschütterungen der Zeit auf vielfältige Weise widerspiegeln. Im Januar 1923 besetzten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet und Musik wurde im Rahmen des sogenannten »passiven Widerstands« zu einem wirksamen Mittel des politischen Kampfes. Im Zuge der Hyperinflation löste sich das Geld gleichsam in Luft auf. Die gesellschaftliche Ordnung kam ins Wanken und auch das deutsche Musikleben befand sich schon bald im Ausnahmezustand. In Bayreuth machte der 34-jährige Adolf Hitler wenige Wochen vor seinem gescheiterten Putschversuch der Familie Wagner seine erste Aufwartung. Und in Berlin begann auf dem Höhepunkt der politischen und wirtschaftlichen Krise am 29. Oktober mit der ersten Funkstunden-Sendung das Zeitalter des öffentlichen Rundfunks.
Aber auch außerhalb Deutschlands gerieten die Musik und das kulturelle Leben in den frühen 1920er Jahren ins Taumeln: zwischen Krise und Aufbruch, Abschottung und Austausch, dem sehnsüchtigen Blick zurück und neuer Dynamik. In den USA spielten afroamerikanische Musiker:innen wie Bessie Smith oder King Oliver’s Creole Jazz-Band unter den Bedingungen der gesellschaftlichen »Rassentrennung« ihre ersten Platten ein. In Budapest setzte Béla Bartók mit einem Orchesterwerk ein musikalisches Zeichen gegen den Nationalismus der Nachkriegsjahre. In Paris rührte Igor Strawinsky mit einem Ballett über altrussische Hochzeitsrituale die russische Exilgemeinde zu Tränen und schockierte Teile der Avantgarde wenig später mit einem neoklassizistischen Bläseroktett. In Wien vollendete Arnold Schönberg seine ersten Zwölftonwerke und setzte sich gegen den wachsenden Antisemitismus zur Wehr… Eine Liste, die sich beliebig fortsetzen ließe und die vor Augen führt, wie reich und vielgestaltig die musikalische Welt im Jahr 1923 war.
Bereits die Zeitgenossen sahen in dieser »Vielfalt und Verzweigtheit« ein charakteristische Merkmal der Epoche. So prognostizierte der Komponist und Musikwissenschaftler Egon Wellesz 1924, »späteren Generationen« werde die jüngste Vergangenheit als »eine der merkwürdigsten, wenn nicht reichsten Epochen« erscheinen: »Denn man kennt kaum eine andere in dem ganzen Verlauf der abendländischen Musik, in der so viele, scheinbar disparate und auf verschiedene Voraussetzungen beruhende Werke entstanden sind.« Acht von ihnen sind hier zu hören.
Paul Hindemith: Kammermusik Nr. 1 op. 24 Nr. 1
In welchem Maße Musik im Krisenjahr 1923 in Deutschland politisch vereinnahmt wurde und wie erregt man darüber diskutierte, zeigte sich bereits zu Jahresbeginn. Als am 11. Januar französische und belgische Truppen mit der Besetzung des Ruhrgebiets begannen, zogen nach Einbruch der Nacht protestierende Bürger durch die Straßen Essens und sangen patriotische Kampflieder mit antifranzösischer Stoßrichtung wie Die Wacht am Rhein. Am selben Abend saß der rechtsnationale Kritiker Dr. Alfed Heuß im altehrwürdigen Leipziger Gewandhaus und sah in einem Furtwängler-Konzert den Untergang des Abendlands heraufziehen. Auf dem Programm stand die Leipziger Erstaufführung der Kammermusik Nr. 1 von Paul Hindemith. »Es ist die lasterhafteste, frivolste und dabei gegenständlichste Musik, die man sich denken kann«, wetterte der Hauptschriftleiter der Zeitschrift für Musik wenig später in seiner Konzertkritik: »in laszivster Art mengen sich Paare auf buchstäbliche Foxtrottmelodien, barbarische Laute halb vertierter, im Taumel sich ergehender Menschen […]. Am Schluß ein langer, alles durchdringender Pfiff […], im Nu ist dann das Stück zu Ende.«
Der 27-jährige Paul Hindemith ließ diesen polemischen Angriff von rechts nicht auf sich sitzen und keilte postwendend zurück. In einem offenen Brief machte er sich über den »edlen Überrest eines besseren Jahrhunderts« und »Hüter teutscher Kunst« lustig: »Ich hätte nicht geglaubt, dass man in einer einfachen rhythmischen und kontrapunktischen Musik soviel Sauereien wittern könnte. […] Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, dass heute ein Foxtrot oder Rag time ungefähr dasselbe ist wie zu Bachs Zeiten eine Gavotte oder Gigue?“
Aus Hindemiths Kammermusik Nr. 1, uraufgeführt im Sommer 1922 in Donaueschingen, sprechen Dynamik, Rastlosigkeit und Energie der Zeit. Die Sinfonietta ESMRS transportiert diese Energie und macht zugleich deutlich, dass dies nicht nur eine Musik zum Hören, sondern auch zum Anschauen ist.
Frank Silver: Yes! We have No Bananas
Erregt diskutierte wurde im Deutschland der Hyperinflation auch über die Tanzwut, die damals das ganze Land erfasste. So versuchte man in Berlin im Jahresverlauf von politischer Seite mehrfach, »sämtliche Tanzlustbarkeiten« polizeilich zu verbieten. Ein ebenso naives wie hoffnungsloses Unterfangen. Zu den Abertausenden, die sich dem »makabren Jux« der Inflation begeistert hingaben, zählte der 16-jährige Enkelsohn der Tagebuchschreiberin Hedwig Pringsheim, Klaus Mann. »Die deutsche Reichsmark tanzt: wir tanzen mit!«, notierte er später in seinen Erinnerungen. »Millionen von unterernährten, korrumpierten, verzweifelt geilen, wütend vergnügungssüchtigen Männern und Frauen torkelten und taumelten dahin.«
Zu den Titeln, die das Tanzfieber am Ende des Jahres 1923 befeuerten, gehört der Schlager Ausgerechnet Bananen. Die englische Originalversion Yes! We Have No Bananas von Frank Silver (Musik) und Irving Cohn (Text) stammt aus der Broadway-Revue Make it Snappy und ging 1923 in den USA und Europa viral. Die deutsche Fassung von Fritz Löhner-Beda machte aus dem Lied eines griechischen Obsthändlers einen Song voller erotischer Anspielungen und Doppeldeutigkeiten. Ein wunderbares Beispiel für Kulturtransfer, über das es viel zu sagen gäbe. Der amerikanische Pianist und Bandleader Vincent Lopez, der damals schon äußerst aktiv im amerikanischen Radio war, hat die Originalfassung des Songs im Juli 1923 mit seinem Hotel Pennsylvania Orchestra eingespielt.
Béla Bartók: Tanz-Suite
Während sich in Deutschland im November 1923 die Ereignisse überschlugen, feierte man in Ungarn den 50. Jahrestag der Vereinigung der Städte Buda und Pest zur Haupt- und Residenzstadt Budapest. Ein willkommener Anlass zur nationalen Selbstvergewisserung, denn die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg waren auch in Ungarn Krisenzeiten. Nach dem Untergang der Habsburger Doppelmonarchie hatte der einstige Vielvölkerstaat zwei Drittel seines Territoriums und 13 Millionen Einwohner verloren. Die wirtschaftliche und politische Situation waren instabil, die Gesellschaft gespalten und die Lebensbedingungen vieler Menschen desaströs.
Für das Festkonzert zum Stadtjubiläum sollte Bartók auf Wunsch des »ultra-christlich-nationalen« Stadtrats ein neues Stück schreiben – eine »pikante Geschichte«, wie der internationalistisch eingestellte und mit linken Strömungen sympathisierende Komponist in einer privaten Mitteilung erklärte. Bartók machte gute Miene zum bösen Spiel und nahm den Auftrag an. Mit der Tanz-Suite schrieb er allerdings ein Stück, das die kulturpolitischen Absichten der Auftraggeber auf geniale Weise durchkreuzte. In der nationalen Presse wurde das Orchesterwerk als »Offenbarung der ungarischen Seele« gefeiert: »Das Lächeln, die Lautheit und das Berührende des ungarischen Volkes offenbart sich in ihm.« Tatsächlich ist die Tanz-Suite jedoch ein musikalisches Plädoyer für die produktiven Kräfte des kulturellen Austausches in Zeiten eines übersteigerten Nationalismus. So nimmt Bartók in den verschiedenen stilisierten Tänzen nicht nur auf ungarische Volksmusik Bezug, sondern auch auf Musik aus dem rumänischen, slowakischen und arabischen Kulturraum. Wie weit er dabei ging, zeigt sich bereits am Werkbeginn: Der Rhythmus der ersten Tanzes erinnert an einen ungarischen Schweinehirtentanz. Die Melodik hingegen weist typische Merkmale arabischer Musik auf, die der passionierte Musikethnologe auf einer Forschungsreise nach Algerien studiert hatte.
Als die hybride Folklore der Tanz-Suite am 19. November 1923 zum ersten Mal erklang, saß der 17-jährige Antal Doráti an der Celesta. 35 Jahre später nahm er das Werk mit der Philharmonia Hungarica in Wien auf. Eine packende Interpretation, die die Ausdruckvielfalt und rhythmische Kraft von Bartóks Musik eindrucksvoll in Szene setzt.
Bessie Smith: Down Hearted Blues
Eine der wirkungsmächtigsten Plattenaufnahmen des Jahre 1923 entstand Mitte Februar in New York. Protagonistin war die afroamerikanische Blues-Sängerin und Vaudeville-Performerin Bessie Smith. Gemeinsam mit dem Pianisten Clarence Williams machte die noch nicht Dreißigjährige für Columbia ihre ersten Tonaufnahmen. Der angeschlagene Schallplattenkonzern hatte kurz zuvor eine sogenannte »Race Division« gegründet, um den lange ignorierten afroamerikanischen Musikmarkt zu erschließen. Die heute vorsintflutlich erscheinenden Aufnahmebedingungen entsprachen dem damaligen Standard. So sang Smith nicht in ein Mikrofon, sondern in einen konischen Tontrichter, der mit einem Aufnahmegerät verbunden war. (Der Umstieg von der akustisch-mechanischen zur elektronischen Tonaufzeichnung erfolgte erst zwei Jahre später.) Das Aufnahmeverfahren erlaubte keine Unterbrechungen und Korrekturen. Und auch die zeitnahe Kontrolle der Einspielung im Studio war nicht möglich. Der Ertrag von Smiths erster Aufnahmesitzung waren rund 20 Takes von vier verschiedenen Songs. Zwei davon – Down Hearted Blues und Gulf Coast Blues – erschienen noch im Frühjahr auf Smiths erster Platte und begründeten ihren Ruhm als Schallplattenstar.
Auch 100 Jahre später haben diese Aufnahmen ihre Faszinationskraft nicht verloren. Sie transportieren eine außergewöhnliche Stimme, dokumentieren eine spezifische Form des weiblichen Bluesgesangs und zeugen von der Erfahrungswelt einer Frau, die sich in einer segregierten und männlich dominierten Gesellschaft behaupten musste. So erzählt Down Hearted Blues aus weiblicher Perspektive von Liebe, Gewalt und Depression, aber auch von dem Wunsch, diese Zustände zu überwinden und das Blatt zu wenden: »I got the world in a jug, the stopper’s in my hand/ I’m gonna hold it until you men come under my command.«
King Oliver’s Creole Jazz Band: Canal Street Blues
Auch für Louis Armstrong war 1923 ein entscheidendes Jahr. Als Mitglied von King Oliver’s Creole Jazz Band machte der 21-Jährige im April seine ersten Schallplattenaufnahmen. Kurz darauf kam er mit der Pianistin der Band, Lillian Hardin, zusammen und begann mit ihrer Hilfe einen folgenreichen künstlerischen Emanzipationsprozess. Er kleidete sich neu ein, erweiterte seine musiktheoretischen Kenntnisse, lernte Musik flüssiger zu notieren und zu lesen und befreite sich behutsam aus dem Schatten seines Mentors Joe Oliver. Ein Abnabelungsprozess, der mit widersprüchlichen Emotionen verbunden war.
In Canal Street Blues, einer der ersten Tonaufnahmen der Band, spielt Armstrong als zweiter Kornettist noch ganz im Schatten des »King«. Trotz der Unzulänglichkeiten des Aufnahmeverfahrens vermittelt die Einspielung einen plastischen Eindruck von jener Kunst des Ensemblespiels und der kollektiven Improvisation, für die Joe Oliver und seine Creole Jazz Band gefeiert wurden. Begleitet von durchgehenden Puls der Rhythmusgruppe, Einwürfen der Posaune und einer girlandenförmigen Gegenmelodie in der Klarinette, werfen sich Oliver und Armstrong im ersten Chorus musikalisch die Bälle zu. Im zweiten Chorus übernimmt Oliver dann die Führung. Mit ausdrucksvollem Ton intoniert er eine schnörkellose Version des populären Kirchenliedes The Holy City.Noch Jahrzehnte später erinnerte sich die Blues-Sängerin Alberta Hunter, wie sehr Oliver an dieser Melodie, die er seit Kindheitstagen kannte, hing und wie oft er sie auch bei seinen Live-Auftritten zu Gehör brachte: »Wenn Louie dabei war, dann spielten nur er und Louie, und es war das Schönste, was du je in deinem Leben gehört hast.«
Arnold Schönberg: Walzer aus den Klavierstücken op. 23
Im Schaffen Arnold Schönbergs markierte das Jahr 1923 einen lang ersehnten Wendepunkt. Nach Jahren der Krise und des Experimentierens, in denen nichts fertig wurde, gelang es ihm im Frühjahr gleich mehrere Werke abzuschließen. Den Anfang machten zwei Zyklen mit Klavierstücken. In ihnen erprobte Schönberg ein Kompositionsverfahren, das unter dem Begriff »Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen« (kurz: »Zwölftontechnik«) in die Musikgeschichte eingegangen ist. In einem Brief an Josef Matthias Hauer schrieb er begeistert über die neue Kompositionsweise: »Ich bin dadurch geradezu in der Lage so bedenkenlos und phantastisch zu komponieren, wie man es nur in der Jugend tut, und stehe trotzdem unter einer präzis benennbaren ästhetischen Kontrolle.« Hauer wusste, wovon Schönberg sprach. Der Wiener Komponist, Musiktheoretiker und Volksschullehrer hatte bereits um 1920 selbst eine Methode des zwölftönigen Komponierens entwickelt, die sich vom Ansatz seines Konkurrenten wesentlich unterschied und klar macht, dass es die Zwölftontechnik im Singular nicht gibt.
Der Walzer aus Opus 23 gehört zu den frühesten zwölftönigen Stücken Schönbergs. Im Frühjahr 1923 komponiert, steht er exemplarisch für das Anliegen des als musikalischen »Anarchisten« und »Musikbolschewisten« diffamierten Komponisten, musikalische Innovation und Tradition auf fruchtbare Weise miteinander zu verbinden. Faszinierend ist nicht nur der Charakterreichtum des kurzen Stückes, sondern auch das geistreiche Spiel mit rhythmischen Figuren, melodischen Gesten und harmonischen Anklängen, die die Walzerwelt evozieren ohne sie direkt zu zitieren. Das Resultat ist eine Musik, die ihre eigene Geschichte reflektiert und in einer neuartigen Tonsprache mit einer gewissen Nostalgie auf eine Welt zurückblickt, die unwiderruflich der Vergangenheit angehört. In der subtilen Interpretation von Yaara Tal werden diese verschiedenen Referenzen, Bedeutungsebenen und Ausdrucksschichten wunderbar zum Klingen gebracht.
Ethel Smyth: Fête Galante
Im August 1923 veranstaltete die Internationale Gesellschaft für Neue Musik in Salzburg ihr erstes Kammermusikfest. Ziel der im Vorjahr gegründeten Initiative war es, »zeitgenössischer Musik aller ästhetischer Richtungen und Tendenzen« zu fördern und zwar »ohne Rücksicht auf Staatsangehörigkeit, Rasse, Religion oder politische Ansichten ihrer Mitglieder.« Ein mutiges Programm in einer Zeit, in der die Erblasten des Ersten Weltkriegs das Leben und Denken der Menschen in vielen Teilen Europas maßgeblich prägten und das Gift eines übersteigerten Nationalismus im Musikbetrieb nach wie vor sein Unwesen trieb. Schaut man allerdings etwas genauer hin, so fällt auf, dass die angestrebte Pluralität und Gleichberechtigung nicht auf allen Ebenen existierte. So traten Frauen auf dem von Männern organisierten Festival nur als Interpretinnen in Erscheinungen. Von 36 Werken, die in sechs Konzerten aufgeführt wurden, stammte kein einziges aus der Feder einer Frau. Dabei hätte es durchaus Kandidatinnen gegeben. In Paris präsentierte die 31-jährige Germaine Tailleferre Ende Mai 1923 ihr neues Ballett Le marchand d’oiseaux bei einem Tanzabend der Ballets Suédois, eine der bedeutendsten Kompanien der Zeit. In den USA hatte die einflussreiche Mäzenin Elizabeth Sprague Coolidge erstmals einen Kompositionsauftrag an eine Frau vergeben und die britische Komponistin und Bratschistin Rebecca Clarke dazu animiert, eine Rhapsody für Cello und Klavier zu schreiben. Und in Großbritannien brachte die 65-jährige Ethel Smyth Anfang Juni ihre neue Oper Fête Galante zur Aufführung – zunächst in Birmingham, dann im berühmten Londoner Opernhaus Covent Garden.
Smyths fünftes Werk für die Opernbühne ist ein doppelbödiges Spiel mit Masken. Auf der Ebene des Stoffes verweist Fête Galante auf die Welt der Commedia dell’arte, die im Zeitalter der klassizistischen Moderne zahlreiche Künstler:innen faszinierte. In seiner Ton- und Ausdruckssprache ist das Werk eine Hommage an die Musik des 18. Jahrhunderts mit stilisierten Tänzen und einem kammermusikalisch besetzten Ensemble. Nach Smyths Tod geriet Fête Galante – wie ein Großteil ihrer Kompositionen – in Vergessenheit. Erst vor wenigen Jahren hat Odaline de la Matinez, die sich seit Jahrzehnten für Smyths Schaffen einsetzt, eine hörenswerte Einspielung des »Tanz-Traums« vorgelegt.
Igor Strawinsky: Les Noces
In wenigen Sätzen etwas über Les Noces zu sagen, fällt schwer. Müsste ich mich für ein Werk aus dem Jahr 1923 entscheiden, wäre es wohl dieses Ausnahmestück. Bereits die Zeitgenossen waren von dem 25-minütigen Bühnenwerk mit dem seltsamen Untertitel »choreographierte russische Szenen mit Tanz und Musik« begeistert. Die ungeheure rhythmische Kraft der Musik und ihr fesselndes Klangprofil rufen Erinnerungen an das zehn Jahre zuvor aus der Taufe gehobene »Choreodram« Le Sacre du printemps wach. Zugleich ist das am 13. Juni 1923 von den Ballets Russes aufgeführte Werk trotz seiner folkloristischen Wurzeln von schockierender Modernität. »Die ist ein seltsam kraftvolles Werk, das vielleicht seltsamste und kraftvollste, das wir gesehen und gehört haben, seitdem es tanzende Russen gibt», notierte der französische Komponist Paul Dukas in seiner Premierenkritik: »Als Bühnenstück sprengt es jeglichen Rahmen und entzieht sich allen Klassifizierungen.«
Tatsächlich war die geschichtsträchtige Uraufführungsproduktion von Les Noces selbst für die Augen und Ohren des an Novitäten gewöhnten Paris Publikums voller Überraschungen. Die Tänzer:innen, choreographiert von Bronislava Nijinska, agierten in einem von Natalia Gontscharowa gestalteten kulissenlosen Bühnenraum. Der Chor und die vier Gesangssolist:innen befanden sich im Orchestergraben. Und auch die Zusammensetzung des teils auf der Bühne, teils im Graben platzierten instrumentalen Klangkörpers war verblüffend: ein Perkussionsorchester, bestehend aus vier Klavieren und einem Ensemble aus gestimmten und ungestimmten Schlaginstrumenten.
Les Noces ist ein experimentelles Bühnenstück mit rituellem Charakter, das Kernelemente einer dörflichen Bauernhochzeit im alten Russland nicht als Handlungsballett, sondern als abstrakte Collage präsentiert: die Vorbereitungen des Brautpaares (Bild 1 und 2), die Bitte der Brautleute um den elterlichen Segen (Bild 2 bzw. 3), den Aufbruch der Braut und die Klage der Mütter um den Verlust ihrer Kinder (Bild 3) und schließlich das Hochzeitsfest, das unmittelbar in die Hochzeitsnacht mündet (Bild 4). Besonders bewegend ist der Werkschluss mit seinen kristallinen Glockenklängen. Auf der Werkebene markieren diese musikalischen Symbole den Übergang in ein neues Lebensstadium, der in der Hochzeitsnacht auch körperlich vollzogen wird. Für die Braut bedeutet dies – wie Nijinska in ihrer sozialkritischen Choreographie eindrucksvoll herausgearbeitet hat – den vollständigen Bruch mit ihrem bisherigen Leben, die emotionale Loslösung von ihrer Familie und den Schritt in unbekanntes Terrain. Weitet man den Blick, so lassen sich die Glockenklänge aber auch auf Strawinskys eigene Situation beziehen: eine Klangchiffre, die auf die Gefühlswunden der Emigration verweist und eine akustische Welt in Erinnerung ruft, die im Zuge der kommunistischen Gewaltherrschaft in der zweiten Hälfte der 1920er Jahren nahezu vollständig zerstört wurde.
In seiner legendären Aufnahme von 1959 hat Strawinsky, der seit 1939 im amerikanischen Exil lebte, die Glockenklänge vier Kollegen anvertraut. So sitzen an den Klavieren die Komponisten Samuel Barber, Aaron Copland, Lukas Foss und Roger Sessions. Wer Les Noces nicht in der englischer Übersetzung, sondern im russischen Original hören möchte, wird bei YouTube und auf anderen Plattformen ebenfalls fündig. ¶