Arno Lücker vergleicht vier Aufnahmen von Igor Strawinskys Le sacre du printemps. Mit dabei sind Sir Colin Davis und das Royal Concertgebouw Orchestra, Pierre Boulez und The Cleveland Orchestra, Esa-Pekka Salonen und Los Angeles Philharmonic sowie Teodor Currentzis und MusicAeterna.

Ein riesiger Musikskandal! Der 60-jährige Igor Strawinsky erhält einen Kompositionsauftrag für ein Werk, zu dem es ominöse »Choreographien« geben soll. Noch ahnt er nicht, dass allein zu seinen Lebzeiten – er wird 1971 im Alter von 88 Jahren ins frühlingsfrische New Yorker Gras beißen – das schnell komponierte Stück mit über 400 verbrieften Aufführungen zu seinem womöglich größten Erfolg werden wird. (Angeblich bemüht sich Strawinsky nicht, nur eine einzige dieser Performances live anzuschauen. Warum auch, angesichts eines derartigen Gelegenheitswerkes?) Dem Choreographen George Balanchine (1904–1983) obliegt es, die Musik in körperliche Bewegung umzusetzen. Strawinsky telefoniert mit Balanchine, um sich zu erkundigen, wie viele tanzende Beteiligte es geben werde. Unter anderem möchte er wissen, wie alt denn die angekündigten Protagonist:innen seien. »Sehr jung«, entgegnet ihm Balanchine mit schelmischem Glucksen am Telefon. »Sehr jung? Dann nehme ich den Auftrag an!«

Ja, Strawinskys Zirkus-Polka (für einen jungen Elefanten) ist ein schieres Skandalstück, sah Balanchine doch neben fünfzig Ballerinen und Ballerinos fünfzig – »sehr junge« – Elefanten als Tanzende vor. Der einstige Auftrag für die Schaffung einer kleinen Einlagemusik kam vom Zirkus Barnum & Bailey, zu einer Zeit, nämlich 1942, in der zur Schau gestellte Tierquälerei noch en vogue war. Vieles an der Entstehungsgeschichte der Zirkus-Polka wirkt unglaubwürdig beziehungsweise – formulieren wir es wohlwollend – ironisch überzogen. Allein wie stattliche fünfzig Benjamin Blümchens es geschafft haben sollen, die ständigen rhythmischen Irritationen der Partitur (in den ersten 14 Takten gibt es gleich sechs Taktwechsel) choreographisch einheitlich umzusetzen, würde man heute wohl gerne noch einmal bestaunen wollen. Oder halt auch nicht. Weil: skandalös.

29 Jahre zuvor – am 29. Mai 1913 im Théâtre des Champs-Élysées in Paris – hatte Strawinskys legendäre Ballettmusik Le sacre du printemps bereits für einen veritablen Publikumsaffront gesorgt. (Und die spätere Uraufführung der Zirkus-Polka blieb naturgemäß völlig ohne Folgen.) Prügeleien, Zischen, Störungen – die Stimmung muss einigermaßen aufgeheizt gewesen sein. Noch heute ist Strawinskys Sacre mit seiner guten halben Stunde Geschehen moderner, unterhaltsamer, origineller, eruptiver, fieser, instrumentatorisch und rhythmisch jauchzend einfallsreicher komponiert als jedes Werk von Wolfgang »Jedes meiner Werke dauert zu lange« Rihm (und Co.).

»Kultisch« anmutende Rhythmuszustände, die uns aus einer anderen, fernen Zeit stammend anzuschreien scheinen und dabei vertrackt – aber mit großem Spaß – zu spielen und zu dirigieren sind, durchzucken in weiten Teilen des Werkes das ganze Orchester. Viele bekannte und unbekannte Kolleg:innen Strawinskys – und natürlich allen voran auch der zeitweilig selbst komponierende Musikphilosoph Theodor W. Adorno – waren vom Sacre geradezu abgestoßen, angewidert. So fühlte sich Arnold Schönberg – als sei er in einer WDR-Talkshow zu Gast – angesichts des Sacre an »[…] die wilden [N-Wort]potentaten erinnert« und diktierte – sich selbst lustig findend – in die Maschine: »Es gibt keine sackere Gasse als den Sacre

Seien wir ehrlich: Was für ein Fehlschluss – gerade angesichts der Tatsache, dass der verbiesterte (privat heimlich Schnulzenschlager hörende) Adorno Schönbergs Oeuvre in seiner (leider unterhaltsamen) Philosophie der Neuen Musik (1949) ständig als strahlendes Licht der musikalischen Aufklärung darstellte und Strawinskys Sacre als Rückfall in die Barbarei bashte. Dabei hatte Schönberg Unrecht, als er 1921 im Kontext der frühen Beschäftigung mit der Zwölftontechnik einem seiner Schüler schrieb: »Ich habe eine Entdeckung gemacht, durch welche die Vorherrschaft der deutschen Musik für die nächsten hundert Jahre gesichert ist.« Man hört förmlich die Stimme Franz Beckenbauers nach dem Gewinn der Fußball-WM 1990 ungut teutonisch in den Ohren salbadern: »Der deutsche Fußball ist auf Jahre hinaus unschlagbar.« Nie war die Fußballnationalmannschaft der Männer so jämmerlich wie in den 90er Jahren! Und die Prophezeiung Schönbergs ist ebenfalls Essig, denn Strawinskys Frühlingsopfer ist – mit größtem Recht – ein Welthit. Und wird es immer bleiben.

Fünf Flöten (auch Piccolo- und Alt-Flöte), fünf Oboen (auch Englisch Horn), fünf Klarinetten (auch Piccolo- und Bassklarinette), fünf Fagotte (auch Kontrafagott), acht Hörner, fünf Trompeten (auch Piccolo- und Basstrompete), drei Posaunen, zwei Tuben, Pauken, Schlagzeug und Streicher. Allein die Besetzung: ein Kracher. Doch alles begann angeblich mit einer Vision Strawinskys im Frühjahr 1910: Weise Alte bilden einen Sitzkreis, in dessen Mitte ein junges Mädchen einen Todestanz vollführt. Das Mädchen ist als Opfer vorgesehen, um den Frühlingsgott günstig zu stimmen. (Ganz normaler Alltag halt.) Das Thema von Le sacre du printemps: die Vision einer archaischen, heidnischen Feier!

Strawinsky besprach sich daraufhin mit einem Freund, einem Experten in Sachen russischer Riten- und Kultsymbolik. Hinzu kam die Freundschaft mit dem legendären Ballett-Impresario Sergei Djagilew (1872–1929), der 1909 das Ensemble »Ballets Russes« gegründet hatte – und damit Ballett-Geschichte schreiben sollte. Vaslav Nijinsky (1889–1950) übernahm die Choreographie und Djagilews Tänzer:innen performten. Diese glücklichen Umstände führten, natürlich im Zusammenwirken mit einer der besten Partituren aller Zeiten, zu der ungeheuer wirkmächtigen Schaffung des Sacre und zu der von besagten großen Tumulten im Publikum begleiteten Uraufführung im Jahre 1913.

Der noch völlig unfeurige Startschuss: Eine Art Gebet, ein Anrufen der Erdgeister. Ein gefürchtetes Fagott-Solo in unbequem hoher Lage, zu dem sich bald Horn und Klarinetten beimischen, noch ganz »orientierungslos«, wie zu Beginn einer Schöpfungsgeschichte, quasi rhythmisch-melodisch noch in der »Ursuppe« schwimmend… Erstmal Understatement, erstmal einzelne Zutaten vorzeigen, bevor wir richtig in die Fresse genialer Orchesterapparatsexperimente und Rhythmuseruptionen hauen.

Hören wir uns verschiedene Interpretationen an. (Meist wird die von Strawinsky 1947 überarbeitete Fassung gespielt, der wir uns jetzt auch widmen.) Wobei Kolleg:innen da schon Vorarbeit geleistet haben – und zwar mit einer unmittelbar wirksamen Kurz-Direkt-Interpretationsvergleichsmedikation einer bekannten Sacre-Barbaro-Tanz-Stelle sowie inzwischen auch des unmittelbaren Fagott-Eunuchen-Beginns. Sehr komisch. (Ähnliches gibt es zu Beethovens Eroica und von meiner Seite aus zu Mozarts Der Hölle Rache und anlässlich von Beethovens Für Elise zu hören.)


Teil I: Die Anbetung der Erde: Einleitung

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Sir Colin Davis gibt in seiner Einspielung mit dem Royal Concertgebouw Orchestra (1977) dem Solo-Fagottisten durchaus die durch die Vortragsbezeichnung Strawinskys offen daliegende Rubato-Freiheit, vermittelt ihm aber keine gechillte Sicherheit. Vielleicht geht daher die Intonation beim zweiten Einstieg kurz flöten beziehungsweise: forgotten/fagotten. Das macht aber eigentlich nichts; denn die intonatorisch heikle Knöterei ist selbstredend gewollt, ja, das Risiko im Sinne erhoffter Falschheitsexpressionen vom Komponisten partiturmäßig mit einberechnet. Das Horn setzt im zweiten Takt recht unauffällig seinen ersten Ton auf das fast noch weiße Blatt der Geschichte – und die folgenden Bläser wirken eher wie zufällig halt auch mit auf der Party am Start. Nicht schlecht, aber man hört tatsächlich wenig Strukturen heraus. (Macht das hier was?)

Das durch seine Vorschlagsexotik geprägte Fagott-Klage-Thema zieht sich durch verschiedene Instrumente, sich motivisch-rhythmisch ausspinnend. Es ist wieder Jour de idée fixe, Leute! Kontrapunktische Klanggestalten wollen mitreden, in ihrer ganz bunten, bitteren Anmutung. Engschrittige Linien, Einzel-Ton-Wiederholungen, Kurz-Pizzicato-Momente. Bald kommt es zur erste Mini-Kakophonie, die bei Davis auch entsprechend frühchaotisch klingt. Leise Zweifel, andere Meinungen der beratenden Gemeinschaft: Mist, es ist wieder Opferzeit! Zweifel aber auch an dieser Interpretation. (Oder?)

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Pierre Boulez und The Cleveland Orchestra (1992) bringen eine viel kühlere Sicht auf die Dinge. Boulez galt als spröder Klangkonstrukteur, der mit seinen immer leicht muschelartig geformten Händen – ohne Dirigierstab – krass nüchtern probte. Es entstehen drei perfekte Takte Sacre. Strawinsky schreibt für das Horn im zweiten Takt nicht »mega unauffällig einsetzen«, sondern: »mezzopiano«. Strawinsky will also den hörbaren Kontrapunkt – und Boulez gibt ihn uns. Auch die nachfolgenden Takte werden mit größter Klarheit und Präzision musiziert. Was da alles schon früh rhythmisch übereinander passiert! Da, wo Davis sein Orchester spätestens ab Takt 25 einfach machen lässt, was es will, herrscht bei Boulez eine sehr attraktive Durchhörbarkeit. Kalkulierte Kakophonie, ein lustiges Spotzen der Bassklarinetten, zwielichtige Ton-Umwebungen – und irgendwo eben auch das Klage-Motiv mittendrin. Groß.

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Einen Tick länger als die meisten anderen lässt Esa-Pekka Salonen in der Aufnahme mit Los Angeles Philharmonic (2006) das Fagott auf dem ersten Ton verweilen. Überhaupt scheint Salonen der oder dem Spielenden gesagt zu haben: »Ich gebe dir da Freiheiten!« – und die werden deutlich ausgenutzt: ein kurzer Augenblick des Wartens hier, das etwas schnellere Abfertigen einer Tonschleife dort. Das geht sich dann auch mal etwas knapp im Zusammenspiel mit dem Horn aus. Nun denn. Weiter.

Etwas zu raupig dröhnt es von Stelle der Klarinetten. »Piano«, eigentlich. Die Transparenz ist prima, nur geht das Ganze komplett auf Kosten der Dynamik, bricht viel zu schnell aus; hier wird viel verschenkt. Der erste Mucks von Streicher:innenseite aus – ein Triller der ersten Violinen auf dem Kammerton – soll hier offenbar tatsächlich als »Effekt« gehört werden. Boulez ließ diese erste Violin-Regung noch ganz toll verstecken; man vernimmt bei ihm ein Flackern – und weiß nicht, woher das kommt. Der doch sonst so angenehm sachliche Salonen lässt seine Musiker:innen dagegen das puffärmlige Tor zum Disney-Land öffnen. Fail.

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Schon ganz schön, wie Teodor Currentzis und MusicAeterna (2015) die nach wenigen Momenten chromatisch abfallenden Klarinetten andere Klarinetten abfangen lassen. Wirklich »espressivo« spielt das darauffolgende Englisch Horn allerdings nun mal gar nicht. Einheitliche Lautstärke. Hier wird viel zu viel »herausgearbeitet«, dynamisch zu früh der Vorhang geöffnet, obwohl man sicher wieder drei Wochen dran geprobt haben wird. Irgendwie uninteressant. Bisher.


Teil I – Die Anbetung der Erde: Vorboten des Frühlings – Tanz der jungen Mädchen

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Mit den heftigen Ritus-Rhythmen beginnt der Sacre für viele Hörer:innen erst so »richtig«. Und Colin Davis versteht die dynamische Dramaturgie Strawinskys perfekt. Denn das im lauernden Sinne abwartende Geigen-Pizzicato vor dem Einfall in den Garten der Schande soll »mezzoforte« gespielt und keinesfalls crescendiert werden. Der Aggro-Tanz mit den dreinfahrenden Akzenten auf »leichten« Zählzeiten – immer Abstrich und am Frosch der Streicher, also knackig-geräuschhaft zu nehmen – möge wie eine plötzliche Grimasse am Fenster erscheinen. Ohne Ankündigung. Und das gelingt Davis und seinem Orchester prima.

Auf »zwei« und »vier« des 2/4-Taktes (im Verlaufe des Werkes werden die rhythmischen Spielchen immer komplexer werden!) rumpeln im dritten Takt des Tanzes noch alle acht Hörner mit hinein. Allergemeinste Messerstiche setzt es von Piccoloflöten und Co. Das musizieren die Amsterdamer:innen völlig ohne Distanz. Aufregend.

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Fast unterspielt gibt sich das Geigen-Pizzicato bei Boulez. Der »Einbruch« des Tanzes ist gar keiner! Das ist so Pierre! Erst später gewinnen die Abstrich-Exzesse an Schrecken. Boulez nimmt es wieder äußerst genau und erkennt, wie absichtlich »unmusikalisch« – nämlich im programmatischen, menschliche Stimmen des Dorfes übertönenden Sinne – Strawinsky dynamische Angaben einsetzt: Während durchaus interessantere Dinge in den Bläsern passieren, sollen die durchgezogenen Terror-Akkorde der Streicher diese dynamisch übertönen. Und genau das pellt Boulez eiskalt heraus.

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Salonen lässt die Geigen nicht dastehende Akzente in ihre unheimliche Pizzicato-Abwartung einbauen. Gar nicht gut. Hier wird etwas »remusikalisiert«, was der Komponist intentional aus der Musik »herausgenommen« hat, um die Essenz der geschilderten Situation instrumentatorisch-dynamisch durchsickern zu lassen. Die darauffolgenden Schlacht-Tanz-Akkorde sind dabei nicht gut zusammen; da klötert immer mal wieder leicht was hinten raus. Dabei ist das eigentlich (noch) nicht schwer zu spielen.

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Currentzis schafft es tatsächlich, diese Musik zu überzeichnen. Er lässt das Orchester das vergleichsweise schnellste Tempo anschlagen – und, klar, die Durchhörbarkeit der instrumentatorischen Polyphonie: hat was. Aber allein die Plötzlichkeit (»subito piano«) der besagten Frosch-Akkorde wirkt aufgesetzt – und viel zu sehr in den (billig aufgedruckten) Hintergrund versetzt. Perfekt designte Bildschirmschoner.


Teil I – Die Anbetung der Erde: Frühlingsreigen

Der Frühlingsreigen wird eingeleitet durch einen nur von Flöten und Klarinetten umwhistelten Flächenmoment, in dem Reste des Fagott-Themas vom Beginn der Misere enthalten sind. Dann kommt es zu einem negativen Tanz; Fagott, Große Trommel und tiefe Streicher flanschen eine Quinte in den Boden unheilvoller Vorsehungen. Wieder müssen die höheren Streicher »am Frosch« spielen, als Gedemütigte. Nachschlagend sickern Bassklarinetten und Bratschen hinterdrein.

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Bei Davis steckt man direkt mit im Schlamm. Das ist wirklich expressiv und teuflisch. Satanisch, praktisch, gut.

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Boulez lässt dagegen in seiner Interpretation ziemlich kalt. Die umwölkte Einleitung spult sich zwar schön und genau ab, aber eben auch ohne größere Momente der potentiellen Verinnerlichung. Und der besagte Schrott-Tanz wird für meinen Geschmack zu dünn, zu trist ausmusiziert. Da dürfte gerne mehr Klang, Attacke, mehr Grunge rein.

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Noch gradliniger dürfen die Musiker:innen unter Salonen das »Tranquillo« darbieten. Durchaus um Expression bemüht können die nachfolgenden Knirschigkeiten aber auch hier nicht überzeugen. Da könnte mehr am Frosch passieren, da muss so ein Instrumentenklang eben auch einmal hinterfragt werden. Doch nein, hier wird einfach nur die Taste »leidend« (oder so) gedrückt. Reicht mir nicht.

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Ein richtig interessantes Klangbett will sich auch bei Currentzis nicht entfalten. Die erwünschte (erhoffte!) Dynamik des Komponisten (»piano« in allen Stimmen!) tritt zurück gegenüber dem Bestreben, die Unisono-Linien »herauszuarbeiten«. Mir unverständlich. Denn die hört man doch sowieso! Ich will das ganze Klangbett in seinem zwielichtigen Dasein fühlen dürfen!


Teil II – Das Opfer: Einleitung

Die Einleitung des zweiten Sacre-Teils stellt sich die Frage: Wie falsch können Akkord- und Sext-Ketten eigentlich klingen? Strawinsky schichtet wieder gleißende, brütende, nervige Klanggeschehensgruppen übereinander; immer noch erkennen wir die an- und wieder absteigenden kleinschrittigen Tonketten als zeitloses Interieur im Nachvollzug »kultischer« Dauermusik.

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Diese Ausbrütung gelingt Davis gut. Da werden bei den kurzen Einbrüchen – eigentlich ist nur jeweils »mezzoforte« vorgeschrieben – gleich durchweg Grundfragen von Leben und Tod gestellt. (Okay, Fragen angesichts eines ausweglosen Todes.)

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Bei Boulez scheinen frühe Mini-Crescendi überraschend offensiv auf; und bei den genannten Überraschungseinschüben überschwappt uns Hörer:innen eine viel reichhaltigere Tonsuppe als bei Davis. Weniger Emotion als dort, dafür Herausschmeckung diverser Zutaten hier.

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Salonen gruppiert die Holzblas-Akkord-Bänder viel unzusammenhängender. Etwas entgegen der Partitur. Dafür leuchten hinten raus immer mal wieder sonst unentdeckte Klangideen Strawinskys heraus und herrlich unangenehme Fiep-Zustände geraten reizvoll ins Ohr.

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Interessant, wie Currentzis seine Horn-Gruppe dazu motiviert, die Ausbrütungen gleich zu Beginn des zweiten Teils auch hörbar werden zu lassen. Die kleinen Erschreckungen ziehen jedoch ziemlich unbeeindruckend vorbei; das klingt bei Currentzis zu sehr nach Debussy; also irgendwie zu schön.


Teil II – Das Opfer: Opfertanz (Die Auserwählte)

Der Opfertanz bildet den wunderbar fatalen Schluss der Sacre-Orgie. Die dissonantesten Fratzen vertreiben böse Geister – und wecken diese umso katastrophaler aus ihrem Monsterschlaf. Jetzt zieht Strawinsky alle Register gemeingefährlichen Instrumentierens – und das Orchester muss tierisch mitzählen, denn die Taktarten wechseln jetzt nanosekündlich. (Es heißt, der Dirigent Kristjan Järvi habe bei einem Dirigat des Sacre mit dem Gewandhausorchester Leipzig einmal abbrechen müssen, weil er sich »verdirigiert« hatte.)

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Davis und das Royal Concertgebouw Orchestra »tanzen« erneut kompromisslos den Totentanz. Attraktiv zu hören, wie schon am Anfang die längeren Akkorde in der einen Instrumentengruppe mit schnalzender Zunge gegen die sehr kurzen Stöße der anderen Kombo gesetzt werden. Ein Spottreigen allererster Güte. Da legt sich ein ganzes Orchester ins Zeug; gar nicht mal auf Genauigkeit gebürstet. Aber durchdringend und überzeugend.

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Bei The Cleveland Orchestra unter Boulez klingt das alles viel trockener. Doch schon die leisen Quint-Zustände, die immer wieder irritierend dazwischengeschoben werden, verlieren unter der präzisen Ägide von Boulez an nötigem Schrecken. Trotzdem eine Aufnahme, die gerade für Einsteiger:innen zu empfehlen ist. Man hört am meisten Partitur-Buntheit – im arroganten Grau der Kunst von Pierre Boulez.

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Salonen und Los Angeles Philharmonic musizieren den Opfertanz etwas zu flink. So tönt das Ganze wie ein leicht dissonantes Mahler-Scherzo. Differenziert jedoch, wie Salonen die zurückgenommenen Zitter-Akkorde extrem gelassen in den Hintergrund verschiebt, so, dass sie bei Wiederkehr wirken, als seien sie nie weg gewesen.

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Currentzis und MusicAeterna spielen ziemlich an möglichen Utopien der Partitur vorbei. Die vermutlich angestrebte Kompaktheit, die ja die Aufnahme der Mahlerschen Sechsten in dieser Besetzung durchaus hörenswert macht, verdaddelt sich hier in einer unlustigen Melange von künstlerischem Desinteresse und entindividualisierter Züchtigung.

Ja, die Dialektik von Unzucht und Ordnung, die muss man angesichts der herausfordernden Partitur Strawinskys erst einmal verstehen lernen. Letztlich geht es um die – nicht als Kalkulation erscheinende – Handkanten-Genauigkeit der Ausführung in bester Verheiratung mit unbeamtischer Musizierlust, um sich (filmisch jetzt) der Möglichkeit einer Zeitreise hinein in die schwül-stinkende Dorfluft heidnischer Kultkatastrophenerzählungen auszusetzen. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.

Eine Antwort auf “Satanisch, praktisch, gut.”

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