Mitten in dem immer wieder unterbrochenen und neu begonnenen Herumkramen in der Vergangenheit, diesmal beim Lunch in der Rüttenscheider Straße 2, einer Oase der Gastlichkeit mitten im schäbigen Herzen der Stadt Essen, kommt Franz Xaver Ohnesorg auf etwas Aktuelles zu sprechen. Er beschwert sich über die magere Resonanz des Konzert- und Festivalbetriebs, das Jubiläum des Komponisten György Ligeti betreffend. Außer in Köln ist sonst nicht viel los. Petrenko hat sein Dirigat bei der Ligeti-Woche der Berliner Philharmoniker absagen müssen, aus Krankheitsgründen. Pflichtgemäß wird an den Opernhäusern hie und da nochmal Le Grand Macabre aufgeführt. Wie schnell verblassen unsere großen Toten! Man könnte sentimental werden!

FXO zieht sein Handy heraus, er sucht das Foto vom Wiener Zentralfriedhof, wo er György Ligeti gerade neulich wieder besucht hat. Er hat ihn nicht nur verehrt, er war mit ihm ernsthaft befreundet, wie mit so vielen Kreativen des letzten Jahrhunderts. Ligeti starb im Sommer 2006. Durch den Grabstein kann man hindurchgucken, er ist aus Glas. Sehr stylisch. So hatte ihn Ligeti selbst entworfen. Er hat auch, neben seinem eigenen Namen, den seines Bruders Gábor eingravieren lassen, der 1945 im KZ Mauthausen ermordet worden war. Solange, wie man ihn nicht vergisst, sollte auch Gábor nicht vergessen werden. 

Foto © Franz Xaver Ohnesorg

In seiner Zeit als Intendant der Kölner Philharmonie, in den Achtzigern und Neunzigern, hatte Franz Xaver Ohnesorg viel zeitgenössische Musik kuratiert und etliche (Ur-)Aufführungen organisiert. Das Festival der MusikTriennale, die er dort 1994 gründete, war gänzlich lebenden Komponisten gewidmet. Daher rührt eine Kenntnis und Leidenschaft, mit der er selten oder nie hausieren geht. Lang ist’s ja außerdem her. Aber man sieht es ihm an. Immer formvollendet, allseits freundlich und wie aus dem Ei gepellt, mit Fliege und Einstecktuch, eilt der Herr Professor h.c. durchs Foyer oder Backstage hinter die Bühne, grüßend und sorgend. Das ist sein Job. Den Intendanten performt Ohnesorg perfekt. Bis es dann losgeht. Wenn das Licht abgedimmt ist und die ersten Töne erklingen, ist er plötzlich wieder Xaver, der musikhungrige Bub aus Weilheim. Voll fokussiert und zugleich in heller Auflösung. Es kommt vor, wenn wir, selten genug, mal direkt nebeneinander sitzen in einem Konzert, dass sich die Sehnsucht nach dem Schönen, die aus diesem Menschen herausleuchtet, in elektrischen Wellen schier physisch mitteilt. FXO ist einfach ein sehr guter Zuhörer. Einer der besten.

»Abgesehen davon«, sagt Ohnesorg, immer noch ganz bei Ligeti, »kann uns gerade die Neue Musik total glücklich machen. Wenn das Nicht-Aussprechbare, Unbekannte, vermittelt zum Beispiel nur über die Virtuosität, unsere Seelen erreicht. Das kommt ja in Konzertsälen öfters mal vor. Kinder haben dafür aber auch ein Gespür! Warum sonst haben wir bei den Kindern aus Marxloh einen so tollen Erfolg, gerade mit Stücken von Ligeti, von Bartók, Strawinsky oder Boulez? Weil sie dieser Musik mit Unbefangenheit begegnen! Ich glaube, unsere Marxloher Kinder, von denen ja einige aus Osteuropa kommen, spüren bei Ligeti etwas, das sie in ihren Volksliedern vielleicht auch spüren könnten.« 

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Auf die Kinder von Marxloh ist Franz Xaver Ohnesorg so stolz wie auf nichts anderes in seiner highlightreichen Musikmanagerkarriere. Immer wieder kommt er darauf zurück. Da kann die Kölner MusikTriennale nicht mithalten, auch nicht die zwei Jahre New Yorker Carnegie-Hall-Management mit Isaac Stern. Nicht die Zähmung von Sergiu Celibidache, den FXO, als frisch gebackener junger Orchesterdirektor 1979 für die Münchner Philharmoniker quasi mit dem Lasso einfing. Und erst recht nicht die Stiftung Berliner Philharmoniker, die er 2003 in trockene Vertrags-Tücher brachte und anschließend Knall auf Fall verließ. Bereits seit 1996 ist Ohnesorg nebenbei auch noch künstlerischer Leiter des Klavier-Festivals Ruhr, das acht Jahre zuvor aus dem Bochumer Klaviersommer hervorgegangen war. Idee und Trägerschaft zu dieser Gründung lag damals beim »Initiativkreis Ruhr«, einem privaten Wirtschaftsbündnis von Unternehmern, die, nach der Stahlkrise, eine Aufwertung des Ruhrpotts anstrebten. Von 2005 an arbeitet Ohnesorg als Geschäftsführer auch des Initiativkreises. Bleibt dabei zugleich Künstlerischer Leiter des Festivals, das sich, wiederum fünf Jahre später, in eine zukunftsgesicherte Stiftung verwandelt. FXO war also Intendant, einerseits. Und andererseits Geschäftsführer, in Personalunion. Der eine lud Spitzenpianisten ein, suchte Pianistennachwuchs und tat neue Spielstätten auf. Brauchte er mehr Geld, redete er mit seinem Alter Ego. Der andere intensivierte, mit einem schlagkräftigen Team von nur einem Dutzend Mitarbeitern, das Sponsoring und brachte das Ticketing auf Vordermann. So ging das steil aufwärts. »Und dann hatten wir genügend Mittel erwirtschaftet, dass wir uns Education leisten konnten. Das war immer mein Ziel.«

2008 zog das Klavier-Festival Ruhr erstmals ein künstlerisches Education-Projekt auf im Duisburger Stadtteil Marxloh, dessen Name damals als Synonym für eine gescheiterte Migrationspolitik stand: ein sozialer Brennpunkt, eine No-Go-Ära mit gespenstisch hoher Kriminalitätsrate. Wer wissen will, wie es heute um Marxloh steht, der sollte sich den dokumentarischen Episoden-Roman »Die Marxloh-Power« von der Musikjournalistin Margarete Zander besorgen, die dort einst aufwuchs. Sie schrieb diese Texte, ausgehend von einer Reportage über das Education-Projekt des Klavierfestivals, und gab sie 2023 im Selbstverlag heraus. Hier nur ein paar Zahlen dazu: 2023 wurden 800 Kinder und Jugendliche in Marxloh vom Klavier-Festival Ruhr betreut, in mehr als 1200 Workshops, schulübergreifend einbezogen: vier Grundschulen, eine Gesamtschule und ein Gymnasium.

Mehr als die Hälfte von ihnen tanzen und musizieren einmal wöchentlich, während des gesamten Schuljahrs. Zum Abschluss wird eine große Konzert- und Tanzperformance gefeiert, im Rahmen des Klavier-Festivals, für Publikum, zusammen mit Profimusikern. In diesem Jahr hieß die Veranstaltung: »Ligetis Welten«. Die Sopranistin Sarah Maria Sun sang aus Ligetis Volksliedbearbeitungen. Der Pianist Fabian Müller spielt drei der Ligetischen Klavieretuden. »Phänomenal!«, ruft FXO: »Wenn der Pianist sich verspielt, dann merken die das! Kein Erwachsener würde das merken! Die Kinder haben sich diese Musik zu eigen gemacht, für sie ist die Art der Musik, die Ligeti erfunden hat, eine Stimulanz. Sie müssen nicht zählen. Sie hören zu und wissen genau: Jetzt kommt mein Einsatz.« Dass aus den glücklichen, am Ende mit Sonnenblumen ins Publikum winkenden Kinderscharen irgendwann mal ein tolles Klassikpublikum werden könnte, das glaubt er freilich nicht. Ohnesorg denkt umgekehrt kindertümlich: »Manchmal denke ich, die wirklich großen Musiker sind alle selbst irgendwie Kind geblieben. Und deshalb haben sie diese Wirkung auf Kinder.« Gut, dass das jetzt Grigory Sokolov nicht gehört hat!

Präsentation eines Projekts des Education-Programms des Klavier-Festivals Ruhr am 18.05.2022 in Duisburg • Foto © Markus Feger

Außer Sokolov waren noch weitere 82 Pianisten angereist zu dieser letzten Ohnesorg-Saison beim Klavier-Festival Ruhr. Alles kam, was Rang hat oder zumindest einen großen Namen. Die Leonskaja spielte Schubert in Mülheim an der Ruhr, die Fialkowska spielte Chopin im Düsseldorfer Kunstpalast, die Argerich im Duo mit Maisky in der Wuppertaler Stadthalle, Trifonov Rachmaninow im Kruppsaal in Essen und Kissin außer Rachmaninow auch noch Bach, Mozart und Debussy ebenda. Außerdem trat Hamelin im Kulturzentrum Herne auf, Volodos in Gevelsberg, Schiff in Bochum, Staier in Rheda-Wiedenbrück, Immerseel in Bottrop und das Duo Tal/Groethuysen im Kulturzentrum Moers. Und so weiter. Insgesamt gab es 67 Konzerte in 22 Städten. 40.000 Besucher wurden gezählt. 

Das ist ein unglaubliches Volumen für ein privat durch Sponsoren und Donatoren finanziertes Musikfest. Eine logistische Leistung, zu der es keinerlei Vergleiche gibt. Und einzig und allein Ohnesorgs Baby. Er ist selbst ein professioneller Musiker und Diplomkaufmann. Er weiß, wie Musiker ticken und behandelt sie entsprechend: schonend, rücksichtsvoll, freundlich. Verhandelt aber hart und direkt, und nie mit deren Agenturen. Ist kein Pianist, sondern Flötist, spielt aber mangels Zeit zum Üben heute nur noch für den Hausgebrauch. Hat sowohl Betriebswirtschaft studiert, als auch Musikwissenschaften. Hat seine Doktorarbeit – Thema: »Lebenszyklen von Schallplatten, am Beispiel der Beethovenaufnahmen des Amadeus-Quartetts« – nie zu Ende geschrieben, weil ihn die Praxis rief. Fast ist ihm das ein bisschen peinlich. Aber: »Ich bin nun einmal gerne Chef. Wollte ich immer sein. Mein Traum war damals: Entweder Marketing-Chef oder Chefproduzent bei der Deutschen Grammophon. Aber dann bin ich vorher abgebogen.« Am Ende ist er der oberste Chef seiner selbst geworden, summa summarum ein gut organisiertes Alpha-Tier, das nun sich selbst befahl, aufzuhören. 

Er habe, sagt er, seiner Nachfolgerin beim Klavier-Festival Ruhr ein »auch finanziell sehr gut geordnetes Haus überlassen können«. Sie wurde von ihm selbst mit ausgesucht, unter rund sechzig Bewerbern. Dafür gab es einen Ausschuss, es hatte alles seine Richtigkeit. Und es wird gut werden. Katrin Zagrosek, die den Laden ab dem 1. Januar 2024 übernehmen wird, lief schon in der letzten Saison nebenher mit, quasi als Trainee. Der Ex-Intendant kümmert sich ab sofort etwas intensiver um das Kölner Kammerorchester. Aus dem Ruhrpott will er sich künftig völlig raushalten. ¶


Unter dem Motto »Danke, verehrtes Publikum« finden drei Benefiz-Galas statt, in denen 25 Festivalkünstler zugunsten des Klavier-Festivals Ruhr gratis auftreten werden, als Abschiedsgeschenk für Franz Xaver Ohnesorg:

Am Freitag,  27. Oktober 2023, 20 Uhr in der Stadthalle Wuppertal, mit:
Alfred Brendel, Kit Armstrong, Pierre-Laurent Aimard, Till Fellner, Gidon Kremer, Fabian Müller, Sir Andras Schiff, Radovan Vlatković  

Am Samstag, 4. November 2023, 19 Uhr in der Mercatorhalle Duisburg, mit:
Götz Alsmann, Till Brönner, Dieter Ilg, Hanni Liang, Jerry Lu, Dennis Russell Davies, Maki Namekawa, Helge Schneider, Jacky Terrasson

Am Samstag, 25. November 2023, 18 Uhr in der Philharmonie Essen, mit:
Martha Argerich, Renaud Capuçon, Andreas Groethuysen, Lang Lang, Joseph Moog, Michael Nagy, Yaara Tal, Sergio Tiempo 

… lernte Geige und Klavier, studierte Musik-, Literatur- und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, promovierte über frühe Beethoven-Rezeption. Von 1994 bis 1997 Musikredakteurin der Zeit, von 1997 bis 2018 bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seither wieder freelance unterwegs. Seit 2011 ist Büning Vorsitzende der Jury des Preises der deutschen Schallplattenkritik.