Vor einiger Zeit schrieb mir Barrie Kosky und fragte mich, ob ich ihm nicht helfen wolle bei der Planung einer Performance im Rahmen der Eröffnungsfeier der Gay Games 2026, einer LGBTQ-Sportgroßveranstalung, um deren Ausrichtung sich die Stadt München damals beworben hatte. Kosky hätte die Zeremonie konzipiert, wenn München den Zuschlag bekommen hätte. Dies war jedoch nicht der Fall und so wird die Welt nie Zeugin werden dieser Performance, deren erste Entwürfe Kosky und ich bereits mit der Künstlerin Liz Rosenfeld und der Literaturprofessorin Elahe Haschemi Yekani skizziert hatten: eine Art Fiebertraum über die bewegte Geschichte des queeren Lebens in Deutschland, inklusive stepptanzender Leni Riefenstahl und mindestens eines Auftritts von Ludwig II.

Seitdem sind wir befreundet. Für dieses Gespräch treffen wir uns in einem Café um die Ecke, Koskys Goldendoodle-Mischling Sammy ist wie immer mit dabei und springt um unsere Füße. Wir sprechen über Koskys Zeit an der Komischen Oper, die vor zehn Jahren begann und diesen Sommer mit der Produktion Barrie Kosky’s All-Singing, All-Dancing Yiddish Revue endet, das Problem mit den Probenzeiten, jüdische Kultur in Deutschland und die Attacke eines katholischen Priesters während der Bayreuther Festspiele.  

VAN: Deine Zeit an der Komischen Oper gilt allgemein als Erfolg. Kannst du dir vorstellen warum?

Barrie Kosky: Ich freue mich natürlich sehr darüber. Aber was bedeutet Erfolg? Wie kann man ihn über einen Zeitraum von zehn Jahren messen? Es kann ja nicht jede Produktion ein Erfolg werden. Es gibt also Flops, es gibt Erfolge, und es gibt ein breites Spektrum von sehr subjektiven Meinungen. Ich glaube, dass sich Erfolg auf viele verschiedene Arten zeigt. Ich schaue dabei gerne auf drei Bereiche: erstens auf das, was die Künstler:innen denken. Sind sie gerne an meinem Haus? Kommen sie gerne wieder? Fühlen sie sich respektiert und herausgefordert? Das ist für mich das wichtigste Kriterium, weil ich ja nicht nur Verwalter eines Opernhauses bin, sondern auch Künstler. Zweitens schaue ich auf das Publikum. Und damit meine ich nicht nur, wie viele Tickets wir verkaufen. Vor Corona haben wir 92 Prozent verkauft, jetzt ist es ein ständiges Auf und Ab, aber wahrscheinlich liegt die Auslastung bei etwa 80 Prozent, was immer noch ziemlich gut ist. Die Leute wollen im Moment Operetten sehen, sie wollen unterhalten werden. Sie wollen gerade keine düsteren Stücke.

Aber zurück zu den letzten zehn Jahren: Erfolg misst sich für mich nicht daran, dass wir das Haus zu 92 Prozent ausverkaufen können, sondern dass auch eine Vorstellung von Schönbergs Moses und Aron ausverkauft ist. Das ist Erfolg auf der Publikumsseite: Unser Publikum ist treu. Es kommt wieder. Es wird stimuliert und gleichzeitig unterhalten. Der dritte Punkt – und auf ihn bin ich besonders stolz – ist, dass wir eine Familie geworden sind. Jede Theaterkompanie muss eine Familie sein, eine Familie, für die man sich entscheidet, im Gegensatz zu der Familie, in die man hineingeboren wird. Und ich weiß, dass wir an der Komischen Oper abseits der Bühne einen ganz besonderen Spirit haben. Und sowas kommt nicht durch Zufall. Wir haben dabei zwei große Quellen angezapft, die zu diesem Haus passen: einerseits das Metropol-Theater und die Berliner Operettentradition, die aufgegeben wurde, und andererseits das Musiktheater von Walter Felsenstein, der das Haus gegründet hat.

Koskys Inszenierung von Mozarts Die Zauberflöte • Foto © Iko Freese

Hattest du die Ausrichtung entlang dieser beiden Pole – Felsenstein, der das Haus in der DDR-Zeit gründete, um Oper als volksnahes Musiktheater unter die Massen zu bringen, auf der einen und die Berliner Operette auf der anderen Seite – schon geplant, als du  die Stelle angetreten bist?

Als ich den Job 2008 angenommen habe, hatte ich keine Ahnung, was das Metropol-Theater war! Ich habe mich gefragt, was hier vor dem Krieg war, und mein Dramaturg hat angefangen zu recherchieren, und … Jesus fucking Christ! Warum hat vorher noch nie jemand damit gearbeitet? Hier war mal das Haus, das in Deutschland führend war im Bereich Operette, der Ort, an dem Tauber, Fritzi Massary, Paul Abraham, Kallmann, sie alle dirigiert und gespielt haben, ein großartiges Haus, bis 1933. Welche Schätze hier schlummerten! Und wir haben sie gefunden! Eine Frau, die weiß, was sie will, Roxy und ihr Wunderteam, diese ganze Berliner Operettentradition, die wir zurückgebracht haben, ist aus dieser Recherche entstanden.

Und dann war da noch Walter Felsensteins Philosophie des Musiktheaters. Dieser Mann hat alles, was wir über Oper wissen, radikal verändert. Nicht nur wegen seiner Schüler Götz Friedrich und Harry Kupfer, sondern weil er in den 1950er Jahren Konstantin Stanislawski an die Komische Oper gebracht hat. Dieses Haus ist also das Mutterschiff des Musiktheaters. Auch wenn meine Arbeit in keinem ästhetischen Bezug zu Felsenstein steht, denke ich, dass wir seinen Geist aufgegriffen haben. Das hier ist das einzige Opernhaus der Welt, das von einem Regisseur gegründet wurde, um als Labor zu dienen für eine ganz bestimmte Art von Theater.

Das waren also die letzten zehn Jahre: die Kombination dieses ernsten Musiktheaters – Moses und Aron, Mozart, Barockopern – mit dieser Tradition der Berliner Operette. 2015 gab es einen Tag, an dem ich besonders stolz war, als ich auf den Spielplan geguckt und gesehen habe: Mittwochabend Moses und Aron: ausverkauft, Donnerstagabend West Side Story: ausverkauft, Freitagabend Don Giovanni: ausverkauft. Alles mit dem gleichen Orchester und zum Teil mit den gleichen Sänger:innen und dem gleichen Chor. Und ich dachte: Das ist einzigartig.

Koskys Inszenierung von Eine Frau, die weiß, was sie will! von Oscar Straus • Foto © Iko Freese 

Um das zu schaffen, musste ich die Komische Oper zu meinem Haus machen, jeden mit dem Kosky-Stil anstecken, und das Programm spiegelte dann einfach meine Arbeitsweise wider, die auf Respekt, Humor, Freude und Liebe basiert. Und die Erkenntnis, dass es ein Privileg ist, im 21. Jahrhundert an der Oper zu arbeiten und vom Steuerzahler finanziert zu werden. Es gibt keinen Anspruch darauf, man muss sich die Anerkennung des Publikums verdienen, mit Respekt, Loyalität, Freude und Virtuosität auf der Bühne. All das habe ich eingefordert.

Ich habe zum Chor gesagt: ›Ich weiß, dass ihr seit den Felsenstein-Tagen den Ruf habt, außergewöhnliche Schauspieler:innen zu sein. Ich will das jeden Abend sehen.‹ Und das Gleiche gilt für das Orchester, dessen Flexibilität ist großartig. Am einen Abend Schönberg, dann Bernstein, dann Mozart. Ich habe den Musiker:innen gesagt: ›Das ist eure Identität, es ist wichtig, dass ihr stolz darauf seid.‹ Ich möchte, dass das Publikum an einem Mittwochabend die dritte Wiederaufnahme einer fünf Jahre alten Produktion von mir sieht, die besser ist als die Premiere. Das ist unser Job. Und ich glaube, das kommt auch rüber, wenn man hier auf seinem Platz sitzt und merkt, dass es sich anders anfühlt, weil jede einzelne Person auf dieser Bühne weiß, was sie da macht und warum, was an den meisten Opernhäusern nicht der Fall ist.

Ist das auch der Grund, warum – provokativ gefragt – die meisten Opernproduktionen so schlecht sind, zumindest was das Schauspielerische angeht? Die musikalischen Standards sind an allen großen Häusern sehr hoch, aber was dort schauspielerisch passiert, ist oft eine Katastrophe.

Der Unterschied hat einen ganz praktischen Grund. Die Komische Oper nimmt sich für jede Wiederaufnahme mindestens drei Wochen Zeit zum Proben. Das ist das Minimum. Selbst wenn es die gleiche Besetzung wie im letzten Jahr ist. Man probt drei Wochen, nicht drei Tage. Ende der Beweisführung. 

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 Wenn man an einem Haus wie Wien oder München arbeitet – was ich gerne mache –, ist die Besetzung dort spektakulär und ehrlich gesagt sind meine Produktionen so kompliziert, dass man auch da zwei oder drei Wochen Proben braucht, um sie auf die Bühne zu bringen. Ich mache meine Inszenierungen zum Teil auch gerade deswegen absichtlich ziemlich kompliziert. Es ist eine andere Art zu arbeiten, und ich verstehe, warum diese Häuser das so machen, aber das macht einen großen Unterschied: Bei diesen Ensembles, die manchmal 40 Stücke im Jahr spielen, ist es so schwierig, Bühnenzeit zu bekommen. Bei der Komischen wollten wir sichergehen, dass das Publikum auf der Bühne Großartiges zu sehen bekommt, nichts, was einfach so dahingeklatscht ist. Wir haben vielleicht nicht die berühmtesten Sängerinnen und Sänger der Welt, aber wir haben Musiktheater.

Als Regisseur und Intendant würde ich den Sänger, der auf der Bühne spektakulär rüberkommt, immer dem vorziehen, der die perfekte Stimme hat. Ob eine Stimme schön ist, ist subjektiv, und sie kann dem Erlebnis im Theater auch im Weg stehen. Die Definition, was eine schöne Stimme ist, ändert sich – die in den 1960er Jahren gefeierten Stimmen klingen anders als die der 1920er und die sind wieder anders als die von heute. Der russische Bass Fjodor Schaljapin ist einer meiner Lieblingssänger, und heute würde er wahrscheinlich keine einzige Rolle bekommen, so wie er singt… unglaublich expressiv, fast wie Schreien.

Andere Häuser setzen andere Prioritäten, und ich respektiere das. Es müssen ja nicht alle gleich arbeiten. Aber jedes erfolgreiche Opernhaus ist nur erfolgreich, weil es authentisch ist und zu seiner Geschichte und Identität steht. Ich finde es lächerlich, wenn man vorgibt, etwas zu sein, was man nicht ist. Wenn ich plötzlich Jonas Kaufmann oder Anja Harteros auf die Bühne der Komischen Oper stellen würde, wäre das lächerlich. Die gehören da nicht hin, deren Platz ist woanders. Man muss verstehen, was das Haus ist.

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Ich habe trotzdem das Gefühl, dass ein Haus, das sich aufs Schauspielerische konzentriert und eine tiefe Beziehung zu seinem Publikum aufbaut, in jeder Hinsicht nachhaltiger ist – finanziell wie auch mit Blick auf den CO2-Ausstoß – als das an den großen Stars ausgerichtete Modell, an dem viele andere Häuser noch festhalten.

Die Zeiten, in denen einzelne Sängerinnen oder Sänger ein Haus ausverkaufen konnten, ist sicherlich bald zu Ende. Das gibt es nicht mehr. Aber ich finde es skandalös, dass Journalist:innen immer noch behaupten: ›Die Oper ist tot.‹ Vor Corona haben wir an der Komischen Oper 220.000 Karten pro Jahr verkauft, in Berlin an den drei großen Opernhäusern insgesamt 700.000 pro Jahr. Du kannst mir nicht erzählen, dass diese Kunstform tot ist. Wenn das Durchschnittsalter unseres Publikums 49 Jahre beträgt, kannst du mir nicht erzählen, dass die Oper ein Auslaufmodell ist. Du kannst mir nicht erzählen, dass die 40.000 Schulkinder, die jedes Jahr in die Komische Oper kommen, sich nicht für die Oper interessieren. Die Idee, dass Oper heute irrelevant ist, kommt aus der englischsprachigen Welt. Ich verdrehe da nur die Augen, wenn jemand sowas sagt.

Das ist genauso lächerlich wie zu behaupten, das ›Regietheater‹ habe die Oper getötet. Erstens gibt es so etwas wie Regietheater nicht, denn Theater ist Gemeinschaftsarbeit – ich arbeite mit Dirigent:innen, Bildenden Künstler:innen und Sänger:innen zusammen. Und das größte Problem bei vielen Produktionen ist nicht die Regie, sondern dass es nicht genug Proben gibt! Die Dirigent:innen kommen erst im letzten Moment dazu. Es gibt wunderbare Ausnahmen – Leute, mit denen ich gerne zusammenarbeite, wie Vladimir Jurowski, Emmanuelle Haïm, Philippe Jordan und Jakub Hrůša, die fantastische Dirigent:innen sind und ihre Arbeit am Theater sehr ernst nehmen.

Ich denke, in Zukunft wird es darum gehen, herauszufinden, welche Modelle funktionieren. Wir wissen, dass mehr Probenzeit zu großartigen Ergebnissen führt, wir wissen, dass manchmal vielleicht weniger mehr ist, dass ab und an vielleicht einfach zu dick aufgetragen wird. Vielleicht sollten wir einen Schritt zurücktreten und uns fragen: Wie können wir den Dirigent:innen genug Zeit mit dem Orchester geben? Wie gestalten wir das Repertoire, damit die Regisseur:innen genug Zeit haben für ihre Wiederaufnahmen? Dass die Sänger:innen über die gesamte Probenzeit dabei sind und nicht erst in der letzten Woche dazukommen? Ich will hier keine Namen nennen, aber ich ärgere mich immer, wenn Sänger:innen ankündigen, dass sie die Hälfte der Probenzeit nicht anwesend sind, weil sie hier ein Konzert und dort ein Konzert haben, damit die Agenturen so viel Provision wie möglich verdienen. Jetzt sage ich da ich nein. Natürlich haben diese Leute Anspruch auf Urlaub und freie Tage, aber ich arbeite drei bis vier Jahre lang an diesen Produktionen. Sie kosten Millionen an Steuergeldern. Die Leute kommen extra, um sie zu sehen, und zahlen exorbitante Eintrittspreise. Ich gehe da nicht lax mit den Proben um. Die Leute erwarten etwas wirklich Gutes und sollten das auch erwarten können, und die einzige Möglichkeit, das zu liefern, ist, Zeit zum Proben zu haben. Ich muss darum kämpfen.

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Wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, dass wir in Konkurrenz zu Film und Fernsehen stehen. Live-Streams machen Spaß, aber für mich sind sie nur ein Marketing-Instrument. Ich glaube, wir müssen die Leute ermutigen, sich dem grundlegend menschlichen Wunsch zu öffnen, mit 1.000 oder 2.000 Fremden in einem dunklen Raum zu sitzen und einer unverstärkten Stimme zuzuhören, die ein Ritual voll Psychologie, Geschichten und Bildern vollführt, das uns zurückbringt zum antiken griechischen Theater und das die beste Erfahrung bietet, die man außerhalb einer religiösen Institution machen kann. Das ist ein schamanisches Ritual. Nichts ist vergleichbar mit dem echten Erleben. Das ist nicht elitär. Das schont niemanden. Das ist nicht irrelevant. Das ist ein Ort zum Träumen. Außerhalb religiöser Institutionen gibt es nicht viele Orte, an denen man sich absichtlich nicht mit dem täglichen Leben auseinandersetzt. Ich möchte nicht in die Oper gehen, um Alltag zu sehen, ich möchte in mein Unterbewusstsein und in andere Welten, in einen anderen Kosmos eintauchen. Die menschliche Stimme ist das stärkste Instrument, das je erfunden wurde. Sie entspringt den Muskeln und der Luft in einem menschlichen Körper, und wir haben ihr Mysterium noch immer nicht ganz ergründet. Und am Ende verbindet sie uns mit der natürlichen, mit der tierischen und mit der spirituellen Welt.

Gibt es etwas, das du mit Blick auf die letzten zehn Jahre bereust?

Vor allem zwei Dinge: Erstens wollte ich, als ich die Stelle bekam, innerhalb unseres Orchesters ein Barockensemble mit historischen Instrumenten aufbauen. Wie in Zürich. Mit barocken Instrumenten und Bögen. Denn das hat kein deutsches Haus. Mit dem Spirit dieses Hauses, um es tatsächlich am Haus zu haben. Ich weiß nicht, ob ich damals schon das volle Vertrauen des Orchesters hatte. Es gab einige, die wirklich dabei waren, und wir haben einige Konzerte organisiert, aber ich wollte das niemandem aufzwingen. Ich hätte hier gerne ein fantastisches Barockensemble hinterlassen. Damals waren sie mehr an der Idee des ›Deutschen Klangs‹ interessiert, bei dem ich nie genau verstanden habe, was das eigentlich sein soll. Dieses Orchester wird keinen Tristan spielen wie die Staatskapelle, seine Identität ist die virtuose Vielfalt. Ich bedauere auch, dass ich nie eine Komponistin oder einen Komponisten für eine Operetten-Uraufführung gefunden habe, die oder der diese Form für das 21. Jahrhundert neu definieren könnte. Ich habe überall gesucht, aber nie die richtige Person gefunden, mit der ich hätte zusammenarbeiten können.

Du verlässt die Komische Oper mit einer Produktion namens Barrie Kosky’s All-Singing, All-Dancing Yiddish Revue. Deine jüdische Identität ist ein sehr prominenter Teil deines künstlerischen Lebens. Inwiefern hat sie deine Zeit an der Komischen Oper geprägt und warum war es wichtig, diese Dekade so zu beenden?

Die jüdische Diaspora-Erfahrung ist unglaublich komplex, hat viele verschiedene Stimmen, und basiert auf ebensovielen verschiedenen Erfahrungen. Ich kam als jemand hierher, der keine deutsch-jüdische Familie hat, meine Familie stammt nicht aus Deutschland, wie bei vielen meiner deutsch-jüdischen Freund:innen. Ich komme also als polyglotter Diaspora-Jude nach Berlin, was mich in die Lage versetzt, die Kultur zu lieben, gleichzeitig aber auch von außerhalb zu betrachten und zu fragen: Was sind die Themen oder Probleme hier? Als ich nach fünf Jahren in Wien hier ankam, habe ich mich gefragt, warum das Publikum dort und hier Schwierigkeiten hat, jüdische Kunst und Projekte zu verstehen, die sich nicht mit dem Holocaust befassen. Deutsche und Österreicher:innen verbinden mit jüdischer Kultur nichts anderes als die Shoah oder Israel. Ich dachte, das sei ein Klischee, aber dann wurde mir klar: Mein Gott, es ist wahr. Es gibt nur den Auschwitz-Häftling oder den israelischen Soldaten. Das ist wirklich dieses Mainstream-Verständnis von Jüdischsein. Ich dachte: Das kann nicht sein, ich muss mich irren. Und dann wurde mir klar, dass ich absolut recht hatte.

Was mich überrascht hat: dass es nicht nur große Lücken gibt, was das deutsche Verständnis jüdischer Kultur angeht, sondern auch bezüglich der jüdischen Kultur innerhalb der deutschen. Sie ist ja ein Teil der deutschen Kultur, kein separates Anhängsel. Wir wissen, dass das gesamte 19. Jahrhundert ein Tango war von gegensätzlichen Kräften, der im 20. Jahrhundert zu erstaunlichen und zu schrecklichen Dingen geführt hat. Und ich war schon immer fasziniert von diesem Kampf zwischen Licht und Dunkelheit. Viele Deutsche wollen sich nicht wirklich mit dem Jüdischsein von Heinrich Heine oder Franz Kafka auseinandersetzen.

Koskys Inszenierung von Paul Abrahams Ball im Savoy • Foto © Iko Freese

An der Komischen Oper habe ich angefangen, diesen Weg zu beschreiten mit Ball im Savoy, als Teil der Wiederbelebung dieser Berliner Operettentradition, die so sehr von jüdischen kreativen Stimmen geprägt war. Das Stück wurde 1932 geschrieben. Ich habe es nicht in der Nazizeit angesiedelt, sondern in einer Fantasie-Jazz-Welt. Ich dachte: ›Das ist ein fantastisches Musiktheaterstück. Es ist eine der letzten Operetten der Weimarer Republik.‹ Ich wollte es richtig inszenieren, nicht mit einem riesigen Hakenkreuz enden und alle in die Gaskammern marschieren lassen, während das Publikum ›Oh Gott‹ denkt. Aber mir wurde klar, dass ich es nicht ohne einen gewissen Kontext präsentieren konnte. Also traf ich zwei Entscheidungen: Ich fügte im dritten Akt ein Duett zwischen zwei Bediensteten ein, ein Duett aus einer anderen Abraham-Operette, und wir machten es auf Jiddisch. Und dann am Premierenabend: So eine Stille habe ich noch nie in einem Theatersaal gehört. Nirgendwo. Sie tanzten einen wunderschönen Walzer und ich dachte: ›Ich muss gar nichts sagen.‹ Nach der Verbeugung gab es dann als Zugabe Paul Abrahams berühmtes Lied Good Night, und ich sagte von der Bühne aus zum Publikum – und Dagmar Manzel, die die Hauptrolle in der Produktion spielt, hat diese Ansprache in den letzten zehn Jahren an meiner Stelle übernommen –: ›Paul Abraham musste Berlin 1933 verlassen. Und‹, so sagt Manzel dann weiter, ›Abraham stand genau hier in diesem Graben und war ein wichtiger Teil Berlins, und wir singen Good Night, und während wir hier stehen und singen, befreien wir seinen Dibbuk.‹

Während des Duetts hörte man keine Stecknadel fallen. Es endet a cappella. Der Dibbuk war befreit. Das Publikum wartete mit seinem Applaus mindestens 15 Sekunden lang, nach drei Stunden ekstatischer Freude herrschte völlige Stille. Ich glaube, damit war klar, was ich erreichen wollte. Zu sagen: ›Ich mache diese Musik, weil sie fantastische Kunst ist. Und ich möchte, dass man sich an diese Menschen erinnert, nicht weil die Nazis ihnen etwas Schreckliches angetan haben, sondern weil sie große Künstler:innen und Teil eurer Kultur waren. Hört auf, sie aus eurer Kultur zu verbannen, als wären sie etwas, das nicht zu euch gehört. Seid stolz auf sie. Ich gebe euch die Erlaubnis, sie zu genießen und zu lieben und sie euch zu eigen zu machen. Das ist ein Teil des Problems: dass ihr sie nicht als etwas Eigenes betrachtet.‹ Ich will nicht, dass die Leute eine Eintrittskarte kaufen, um eine ›entartete‹ Operette zu sehen. Ich will nicht, dass das als Erinnerung an das Stück bleibt. Ich möchte, dass die Leute denken: ›Das war fabelhaft! Zum Glück haben die Nazis nicht gewonnen.‹

Welches politische Klima herrscht in Deutschland im Allgemeinen mit Blick auf die jüdische Identität?

Die Shoah hat sowohl in Deutschland als auch in Israel ein nationales Trauma hinterlassen. Hätte es Israel gegeben, wenn es die Shoah nicht gegeben hätte? Ich weiß es nicht. Aber sie hat den Prozess sicherlich beschleunigt. Vieles wurde unter den Teppich gekehrt. Sie setzte einen Schlussstrich unter alle anderen Möglichkeiten jüdischer Politik. Viele Jüdinnen und Juden waren, wie du weißt, keine Zionist:innen. Nach der Shoah kam es trotzdem so. Und wir sehen jetzt, wohin diese Entscheidung geführt hat.

Du und ich, wir beiden wissen, dass die Beziehung zwischen Deutschen und Jüdinnen und Juden, zwischen der deutschen und der jüdischen Kultur und zwischen der deutschen und der israelischen Kultur ein Labyrinth aus ziemlich komplizierten Problemstellungen ist. 2022 gibt es aber eine Reihe von Dingen, die nicht kompliziert sind. Es ist sehr einfach zu sagen: Fakten sind Fakten. Was eine israelische Regierung nach der anderen im Westjordanland und im Gazastreifen macht, ist falsch, ganz einfach. Das sollte Fakt sein, egal ob man Zionist:in oder nationalistischer Israeli oder orthodox oder was auch immer ist. Eine Tatsache. Es ist falsch. Und es muss etwas unternommen werden, um das zu beenden. Und es hilft nicht, wenn in Deutschland die Haltung der meisten deutschen und jüdischen Organisationen lautet, dass Israel nichts falsch machen kann und jede Kritik an Israel antisemitisch ist. Das muss sich ändern, denn das wird katastrophale Folgen für Deutschland und unglaublich katastrophale Folgen für die Jüd:innen haben. Es liegt in der Verantwortung der Diaspora und der Stimmen aus der Diaspora, den Deutschen Alternativen zur Propaganda der israelischen Regierungen zu bieten. Ich liebe Israel. Ich habe israelische Freund:innen. Will ich, dass Israel ein Land ist? Ja. Will ich, dass die Palästinenser:innen ein Land haben? Ja. Möchte ich, dass es dort zwei Länder gibt? Ja. Teilt euch das Land!

Barrie Kosky’s All-Singing, All-Dancing Yiddish Revue, die am 10. Juni in der Komischen Oper uraufgeführt wird • Foto © Monika Rittershaus 

In Deutschland wird die Vielfalt der jüdischen Stimmen zu wenig gefeiert. Das muss sich ändern. Für jede jüdische Person, die sagt, dass Israel nichts falsch machen kann, gibt es eine andere, die sagt: ›Oh doch, das können sie‹. Du und ich, wir könnten jedem Deutschen eine Liste mit Namen sehr intelligenter antizionistischer Akademiker:innen, Künstler:innen und politischer Denker nennen, die jüdisch sind.

Und die Deutschen sind erstaunlich schnell dabei, jeden als antisemitisch zu bezeichnen – sogar Jüdinnen und Juden! Und dann wird man als Antisemit:in durch die Medien geschleift und muss sich Sorgen machen: Bekomme ich so noch irgendeine Förderung? Kann ich überhaupt weiter arbeiten? Komme ich noch infrage für die Gelder, von denen wir in der Kunst leben?

Es ist erschreckend. Und ich frage mich: Was kann ich tun? Ich kann nicht einfach in einem Café sitzen und mich beschweren. Jetzt, wo ich die Komische Oper verlasse, als freischaffender Künstler arbeite und nicht mehr für die Institution verantwortlich bin, kann ich viele Dinge äußern, die ich vorher nicht sagen konnte. Ich denke, es liegt in der Verantwortung von Leuten wie Dir und mir, die Deutschen aufzuklären. Wir müssen erklären, was hier passiert: dass das deutsche Gewissen manchmal von Israel manipuliert wird, um zu verhindern, dass widersprüchliche Stimmen hörbar werden. Ich glaube nicht, dass die Deutschen verstehen, wie grotesk es ist, dass ein nicht-jüdischer Deutscher einen Juden als antisemitisch bezeichnen kann. Ich glaube, die Leute sind sehr verwirrt und nervös, was potenziell katastrophal ist. Ich denke, die gesamte Bildung der Deutschen bezüglich ihrer Vergangenheit muss sich ändern. Man kann im 21. Jahrhundert nicht sagen, dass Islamophobie und Homophobie nicht so wichtig sind wie Antisemitismus. Wenn man jemanden hasst, spielt es keine Rolle, ob er Jude, Moslem, Schwuler oder Transmann ist. Hass ist Hass. Und seien wir ehrlich: In Deutschland Jude zu sein, ist nicht so schwer, wie Muslim zu sein. Ein weißer Jude hat im 21. Jahrhundert in Deutschland nicht die gleichen Probleme wie ein eingewanderter Muslim. Und wenn die meisten antisemitischen Taten von weißen deutschen Nationalist:innen begangen werden, wo bleibt dann die Diskussion darüber?

Wir müssen uns von der Vorstellung, von diesem Traum der Deutschen verabschieden, dass alles wieder wird wie in den 1920er Jahren und dass es hier in Deutschland eine gigantische jüdische Kultur geben wird. Natürlich gibt es Jüd:innen, die überall in diesem Land fantastische Arbeit leisten, aber nur weil ein paar Israelis am Wochenende nach Berlin kommen, um ins Berghain zu gehen, heißt das nicht, dass es hier eine Renaissance der jüdischen Kultur gibt.

Und oft werden die, die hierher kommen, einerseits als Teil dieser angeblichen Renaissance gefeiert und andererseits zum Schweigen gebracht oder ignoriert, wenn sie nicht die offizielle Linie des israelischen Staates unterstützen, was oft der Fall ist.

Das Problem ist, dass eine der großen Freuden der jüdischen Diaspora und der jüdisch-israelischen Kultur bis vor kurzem dieses Sammelsurium, diese Vielfalt von Stimmen war: säkulare Stimmen gegen religiöse und Reformstimmen, die gegen ultra-orthodoxe streiten; kommunistische Atheist:innen gegen rechte Gläubige. Das ist Teil des Judentums, diese Talmud-Metapher: das Beste, was wir von den Jüd:innen haben, ist, dass es auf jeder Seite mehr als eine Wahrheit gibt und die Arbeit darin besteht, widersprüchliche Argumente zu einem Text zu finden. Könnte es eine bessere Metapher für das Leben geben? Leider hören die Deutschen nicht genug von diesen Stimmen. Was passiert also? Die erste Person, die in einem Artikel zitiert wird, ist der Antisemitismusbeaftragte, der wahrscheinlich nicht jüdisch ist und sehr wahrscheinlich eine bestimmte politische Agenda hat. Und das zweite Zitat stammt vom Zentralrat, der die gleichen Ziele verfolgt. Und ich denke: Niemand hat mich angerufen! Niemand hat die israelische Professorin an einer der hiesigen Universitäten gefragt, die wahrscheinlich eine völlig gegensätzliche Haltung zu dem hat, was im ersten Absatz behauptet wurde. Diese Idee der Stimme der jüdischen Expert:innen muss also erweitert werden. Es gibt unglaublich brillante jüdische Schriftsteller:innen und Denker:innen in Deutschland, die eine völlig andere Meinung haben als der Antisemitismusbeauftratge und der Zentralrat, und das ist auch gut so. Ich will nicht bestreiten, dass deren Perspektive wichtig ist, aber es gibt auch andere Stimmen. Und ich glaube, die deutschen Medien sind auf sie fixiert, weil sie Autorität mögen, weil sie die Vorstellung mögen, dass es eine Person oder eine Organisation gibt, die für alle Jüd:innen spricht, weil das einfacher ist, als zu versuchen, sich durchzuwühlen und es irgendwie selbst herauszufinden. Aber das müssen die deutschen Medien. 

Barrie Kosky • Foto © Jan Windszus Photography

Du warst der erste jüdische Regisseur bei den Bayreuther Festspielen und hast deine Inszenierung als Exorzismus an deinem Wagner-Dibbuk beschrieben. Letzten Sommer wurde deine Inszenierung der Meistersinger, die sich viel mit Antisemitismus auseinandersetzt, zum letzten Mal aufgeführt. Wie war das für dich?

Es war ein wirklich wichtiges Projekt für mich, künstlerisch und persönlich. Ich habe meine Wagner-Dämonen aus meinem Körper und meiner Seele getrieben, was sehr wohltuend war. Viele Leute mochten die Inszenierung nicht, aber die meisten haben sie sehr geschätzt – ich habe Leute getroffen, die sie zehnmal gesehen haben. Bei der letzten Aufführung unterhielt ich mich in der ersten Pause mit einer Gruppe französischer Journalist:innen, und plötzlich sahen wir von oben vom Grünen Hügel drei Priester in Soutanen auf uns zugehen. Es sah aus wie in einem Pasolini-Film oder so. Drei Priester mit kurzen Haaren, Kruzifixen und Soutanen. Die erste Reaktion eines schwulen jüdischen Mannes war: ›Oh mein Gott, Faygelachs, hier sind drei katholische Faygelach-Priester, wie genial.‹ Und die französischen Journalist:innen lachten und sagten: ›Ihr habt wohl Fans in der katholischen Kirche.‹ Und dann drehte sich einer der Priester um und ging auf mich zu. Als er näher kam, merkte ich, dass er keine gute Energie ausstrahlte. Und er ging auf mich zu – mitten in der Pandemie, hielt keinen Abstand –, stieß mir seinen Finger ins Gesicht und sagte: ›Ich will nur, dass Sie wissen, wie sehr ich Ihre Inszenierung hasse.‹ Mit einem Blick in den Augen, aus dem zweitausend Jahre Judenhass sprachen. Meine erste Reaktion war Schock, und in meinem Schock drehte er sich um und ging weg. Und ich rief ihm hinterher: ›Entschuldigen Sie mal, wie können Sie es wagen, so mit mir zu sprechen? Kommen Sie zurück.‹ Und dann drehte er sich um und sagte: ›Und Sie wissen, warum.‹

Und ich meinte: ›Nein, ich weiß nicht, warum.‹ Die französischen Journalist:innen erklärten mir, dass die Uniformen darauf hindeuteten, dass sie einer sehr konservativen Sekte angehören. Und dann dachte ich: ›Mein Gott, wenn er die Inszenierung jetzt schon hasst, dann wird er den zweiten Akt erst recht hassen.‹ Nach der zweiten Pause kam er zurück. Wie die Motte zum Licht. Und dieses Mal war ich vorbereitet. Er kam wieder auf mich zu, und ich fragte: ›Haben Sie was zu sagen?‹ Und er stand einfach zehn Sekunden lang vor mir und sagte nichts. Ich dachte: ›Du bist meschugge, du bist nicht nur ein rassistischer, faygelacher katholischer Priester, du bist meschugge.‹ Er drehte sich um und ging weg, und ich sagte: ›Entschuldigen Sie, ich finde Ihr Verhalten unmöglich. Wenn Sie schon so auf mich zukommen, sollten wir uns wenigstens irgendwie unterhalten.‹ Er hob seine Hand und sagte nichts. Und dann fing ich an, laut zu schreien, inmitten all der Leute mit ihren Champagnergläsern: ›Shanda! Shanda!‹ Das letzte, was ich schrie, war ›Shanda!‹, als er wegging. Ich hätte mir keinen passenderen Abschluss für meine Zeit in Bayreuth wünschen können, als von einem katholischen Priester beschimpft zu werden. Mein Ansatz ist: immer provozieren, mit Ironie und Humor. ¶

Ben Miller ist Autor, Historiker und Opera Queen. Er schreibt regelmäßig für die New York Times und ist, zusammen mit Huw Lemmey, Autor von ›Bad Gays: A Homosexual History‹ (Verso, 2022).

4 Antworten auf “»Ich will nicht, dass die Leute eine Eintrittskarte kaufen, um eine ›entartete‹ Operette zu sehen.«“

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