Ein so außergewöhnlicher Dirigent wie Vladimir Jurowski hat etwas anderes verdient als ein Porträt aus der Routine-Kiste. Ein bisschen mehr Form, wenn auch nicht strikt musikalisch, eher assoziativ. Jurowski ist selbst ein Mann des freien, frei fließenden Wortes, wie man im Gespräch mit ihm schnell merkt: Berlin und Moskau. Oleg Senzow und Gustav Mahler. Die Frage nach der Halbgöttlichkeit von Carlos Kleiber, Teodor Currentzis und Alfred Schnittke. Radfahren und die Ewigkeit und die Freiheit des Musikers – Vladimir Jurowski in 33 Veränderungen.
Thema
Vladimir Jurowski wird 2021 Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper werden. Seit 2017 leitet er das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin und das Enescu-Festival in Bukarest, außerdem ist er weiterhin Principal Conductor des London Philharmonic Orchestra und Künstlerischer Leiter des Moskauer Swetlanow-Orchesters. Früher war er unter anderem Chef in Glyndebourne, Bologna, an der Komischen Oper. 1990 zog er nach Berlin. 1972 wurde er in Moskau geboren.
1. Stardirigent
Das Wort fiele einem zu Vladimir Jurowski als Letztes ein. Was ist ein Stardirigent? Laut Google jemand, der eine Kuhherde hat (John Eliot Gardiner). Oder einer, der wegen Missbrauchsvorwürfen gefeuert wird (James Levine, Gustav Kuhn) oder in einem Krankenhaus in Ravenna wegen einer Hüftgelenkfraktur operiert wird (Riccardo Muti). Ein Sonderfall ist der Star-Dirigent, der bei den Bayreuther Festspielen ausgebuht wird, bei dem liegt die Betonung nämlich auf dem Bindestrich: ein Star, der nunmehr auch zu dirigieren beschließt.
Es könnte sich bei einem Stardirigenten aber auch um jemanden handeln, der die Welt umkreist und durchreist wie ein hell gepunkteter Zugvogel. Weltstar in diesem Sinn ist Vladimir Jurowski zweifellos, wie ja fast jeder erfolgreiche Dirigent: Moskau, Berlin, London, Bukarest, München, Zürich, Paris, Venedig, Bologna, Wexford, Glyndebourne, New York, Philadelphia gehören zu seinen kürzeren oder längeren Unrastplätzen.
Andererseits sind Stare bei Obst- und Gemüsehändlern gefürchtet, weil sie sich über die Auslagen hermachen und Chaos hinterlassen. Das mag bei manchen Stardirigenten ähnlich sein, von Jurowski ist nichts dergleichen bekannt.
Aber wenn es Stardirigenten im sternhaften Sinn gibt, dann leuchtet der Chef der Bayerischen Staatsoper gewiss besonders hell. In drei Jahren wird Jurowski der offizielle Nachfolger von Kirill Petrenko und Hans von Bülow, Bruno Walter und Zubin Mehta, Georg Solti, Bruno Walter, Hans Knappertsbusch und Richard Strauss.
2. Student
Mit seinen schulterlangen schwarzen Haaren hat Jurowski nichts von Maestro oder Pultlöwe, eher etwas Studentisches. Ein Langzeitstudent, denn etwas Grau ist schon drin im Schwarz. Vielleicht ist Jurowski sogar der ideale Student unter den Dirigenten: nicht weil er bummelt, sondern weil er bohrt. Als unglaublich langwierigen Lernprozess bezeichnet er seine Arbeit. Die eigentliche Arbeit geschehe zu Hause.
3. Berlin
Wo ist Jurowski zu Hause? Bei der englischen Wikipedia gilt Jurowski als a Russian and British conductor, bei der deutschen in merkwürdiger Zurückhaltung als ein russischer Dirigent. Als sein Zuhause bezeichnet Jurowski Berlin, wo er seit langem lebt. Im ahnenblutseligen Deutschland dauert es ewig, bis jemand Deutscher genannt wird. Der Familienvater Jurowski aber geht gern mit Kind und Kegel in den Botanischen Garten, das ist berlinerisch. Berliner wird man wohl leichter als Deutscher.
4. Ewigkeit
Der Mensch und sein Lebensraum lautet das Motto, unter das Jurowski seine zweite Saison als Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin (RSB) stellt. Am 14. Oktober dirigiert er Gustav Mahler.
Man verbindet ja das Lied von der Erde nicht automatisch mit Natur, erzählt Vladimir Jurowski mir im sommerlichen Interview, für das er sich statt der vereinbarten halben Stunde dann doch eine Ewigkeit Zeit nimmt: Es gibt zwar Naturbeschreibungen dort, aber es geht vor allem um den Menschen. Doch wenn Mahler am Ende die Mezzosopranistin das Wort »ewig« in Bezug auf die schöne Erde, die ewig weiter blühen wird, neunmal wiederholen lässt, so war es für Mahler eine eindeutige Tatsache, dass er irgendwann nicht mehr da sein wird, aber die Welt wird weiter ewig bestehen. Für uns, die Heutigen, ist das leider nicht mehr so eindeutig.
5. Wetterfühliger Moralist
Das Saisonthema stellt Jurowski im Februar vor, bei einem Jahrespressefrühstück in kleiner Runde. Das Rundfunk-Sinfonieorchester kooperiert mit Naturschutzverbänden wie Greenpeace oder dem NABU, dessen »Vogel 2018« zufällig der Star ist. Das Programmbuch ist in eine Banderole mit Pfefferminzsamen gewickelt. An diesem Engagement ist nichts Aufgesetztes oder Selbstgefälliges: Man spürt, wie das Thema Klimawandel Jurowski umtreibt, ja quält. Als wir uns am Samowar kurz über Fahrräder unterhalten, scheint er fast ein schlechtes Gewissen zu haben, dass er mit dem Auto gekommen ist. Von seinem Zuhause zur Panoramabar am Gendarmenmarkt sind es 13 Kilometer, Berlin-Mitte ist eine berüchtigte Radfahrerhölle, es hat minus zwölf Grad.
6. Winter
Er möge diese Kälte sehr, sagt Jurowski beim Frühstück in der Panoramabar, nur der Schnee fehle ihm.
7. Sommer, brach
Aus den Pfefferminzsamen auf meinem Balkon ist nichts gewachsen, aber das mag an meinem fehlenden grünen Daumen liegen.

8. Sommerradler
Ich habe ein Fahrrad, so Jurowski im Sommer, aber ich muss ganz ehrlich sagen, ich benutze es nur für Spazierfahrten, Ausflüge oder für kürzere Strecken, wenn ich mal zum Bäcker muss. Um zur Arbeit zu fahren, ist es mir einfach zu unsicher. Ich fahre zwar gut Fahrrad, aber ich kenne den Verkehr in dieser Stadt allzu gut. Ich trau mich einfach nicht. In Lichterfelde-West, am Botanischen Garten, da ist es wunderbar, Fahrrad zu fahren.
Seit dem Sommer 2018 hat Berlin ein Mobilitätsgesetz, das den menschen- und umweltfreundlichen Verkehrsmitteln auf die Sprünge helfen soll. Ob wir bald Weltstardirigenten sehen werden, die mit dem Fahrrad zur Philharmonie kommen?
9. Radfahrer Mahler
Gustav Mahler war ein Radfahrer, vielleicht sogar ein Kampfradler: Ich errege allgemeine Aufmerksamkeit auf meinem Rad, schrieb er in seiner Hamburger Zeit in einem Brief. Ich scheine wirklich für das Rad geboren zu sein und werde bestimmt bald zum Geheimrad ernannt werden. Soweit bin ich schon, dass mir alle Pferde ausweichen… Ihr ergebenster Gustav Mahler, Fahr Radius und Straßen-Durchmesser.
10. Mahler als Umleiter
Jurowski nahm in seiner ersten Berliner Chef-Saison einen Umweg, der gleichermaßen zur Wiener Klassik wie zu Arnold Schönberg führt: vier Beethoven-Sinfonien in den pompösen Bearbeitungen von Gustav Mahler. Bestürztes Hören: So klang Beethoven für unsere Gründerzeitväter?
Im Silvesterkonzert koppelte Jurowski dann auch noch Arnold Schönbergs A Survivor from Warsaw zwischen den dritten Satz und das Finale von Beethovens Neunter: Ich glaube, das kann man nur mit Schönberg machen, und eigentlich auch nur, wenn man die Mahler-Fassung spielt. Denn die Mahler-Fassung von Beethoven, das wissen wir, ist die Fassung, die Schönberg auch selber immer dirigierte. Er hatte die Partitur von Mahler bei sich im Archiv, mit Eintragungen. Für Schönberg war das der »normale« Beethoven.
Für manchen alteingesessenen Abonnenten, der das Silvesterkonzert Jahr für Jahr unter Jurowskis Vorgänger Marek Janowski gehört hatte, überspannte das den Bogen. Aber für die meisten Besucher war nach meinem Eindruck der zwischengekoppelte Schönberg (ursprünglich eine Idee von Michael Gielen aus den 70er Jahren) verstörender als die Mahler-Anabolisierung.
11. Beethoven
Mahler benutzt ja wie die anderen Komponisten, Brahms, Bruckner, das Vokabular von Beethoven. Sie deuten es natürlich um. Bei Beethoven geht es um die ganz grundsätzlichen Dinge, ums A und O. Es ist die basische Matrix unseres musikalischen Daseins. Ohne Beethoven gäbe es keine Orchestermusik, das muss man sich vergegenwärtigen. Natürlich, Haydn und Mozart haben den Anfang gemacht, aber der eigentliche Drehpunkt, an dem sich alles verändert hat, war Beethoven.
12. Kritiker
Kritiker wurden dagegen eher durch Beethovens Vermahlerung wuschig. Ein öffentlich-rechtlicher Rezensent monierte nach Jurowskis erstem Mahler-Beethoven-Konzert, diese Fünfte habe ja entsetzlich aufgeblasen geklungen. Offenbar hatte er keinen Blick aufs Programm geworfen und nicht mal zur Kenntnis genommen, dass Beethoven in der Mahlerfassung gespielt wurde.
Ich habe ein paar Kritiken gelesen. Aber ich habe irgendwann gesagt, es macht keinen Sinn bis auf ein paar Leute, die wirklich Verstand und Ohren haben. Die Leute wissen einfach nicht genügend Bescheid.
Vor dem nächsten Konzert (mit der durch Mahler extra-heroisierten Eroica) sprach Jurowski dann, wie er es manchmal tut, zum Publikum. Zwölf Minuten lang, etwa wie das Finale der Sinfonie; eine in der Konzertsituation nicht gerade zu kurze Vorrede. Jurowski spricht gern und fundiert. Kernaussage seiner Vorrede: Sie müssen das nicht mögen, aber Sie müssen es kennen.
13. Familienorchester
Jurowski und das RSB kennen sich seit langem: Ich habe das Orchester schon zum Ende der DDR-Zeit erlebt, gleich nach der Wende, vor genau 28 Jahren. Da kam meine Familie rüber aus der damaligen Sowjetunion. Ich fing gleich an, in Dresden zu studieren. Mein Vater war hier in Berlin, und ich habe oft seine Proben und Aufnahmesitzungen, noch im Funkhaus Nalepastraße, mit diesem Orchester erlebt. Dann gab’s für mich ein sehr wichtiges Einspringen bei diesem Orchester 1997, für Udo Zimmermann mit einem ziemlich heiklen Programm: ein Stück von Karl Amadeus Hartmann und ein eigenes von Zimmermann, Zwischenspiele aus der Bluthochzeit von Fortner und ein Stück von Lutosławski, Mi-parti, ein aleatorisches Stück. Ich habe das Orchester an ganz verschiedenen Abschnitten seiner Existenz erlebt und muss sagen, was ich immer bewundert hab, war zum Beispiel der Professionalismus. Es gab in den Proben, die ich erlebt habe, nie irgendein Gemecker. Es gibt ja manchmal Spannungen zwischen Dirigent und Orchester, aber ich hatte nie das Gefühl, dass die Arbeit als solche sabotiert wurde. Das gab’s hier nicht.
14. Sabotage
Woanders schon. Ich hab das Gott sei Dank nicht allzu oft als Dirigent an eigener Haut erleben müssen. Ein paarmal, aber es waren die unglücklichen Ausnahmen. Bei diesen Orchestern war ich auch seitdem nie wieder.
15. Orchesterfamilie
Jurowskis quasi familiäre Verbindung mag dazu beigetragen haben, dass das RSB diesen Dirigenten gewinnen konnte. Vor seiner Konsolidierung unter Marek Janowski (2002–2015) befand das Orchester sich in einer schwierigen Lage in Berlin, das sparen wollte oder musste, bis es quietscht. Zwei Rundfunk-Orchester, je eins aus Ost und West, müssen Rotstiftschwinger ja magnetisch anziehen. Das RSB spielt beileibe nicht unter dem Niveau anderer Berliner Orchester, oft im Gegenteil, und seine Programmgestaltung ist aufregend. Aber in Sachen Renommee bleibt es trotz Janowski etwas im Nachteil gegenüber der Konkurrenz. Das könnte sich unter Jurowski ändern. Auch wenn dem jedes Renommiergehabe fremd ist.

16. Freiheit
Was ihn mit dem energisch sachlichen Janowski verbindet, der sonst ganz gegensätzlich erscheint. Das mag mit den Charakteren ebenso zu tun haben wie mit dem Altersunterschied von 33 Jahren.
Ich muss sagen, die sind technisch nach den ganzen Janowski-Jahren wirklich in Topform gewesen. Sie hatten vielleicht etwas an Selbstbewusstsein eingebüßt. Als Gruppe, die sich selbst behaupten kann. Da bin ich natürlich aus London etwas anderes gewöhnt, weil die Orchester dort auch ohne den Dirigenten, ohne den Künstlerischen Leiter über die Runden kommen müssen und zusehen, dass bei ihnen alles stimmt. Sonst existieren sie einfach nicht.
Aber ich musste, obwohl Janowski und ich sehr unterschiedlich sind, die Stimmung beim Orchester nicht irgendwie heben, sie war da: der Wunsch, Musik zu machen, die Liebe zur Musik. Ich finde das Niveau jetzt höher als damals, und ich hoffe jetzt nach einem Jahr, meine andere Art, Musik zu machen, meine Repertoire-Wahl haben sich gelohnt. Weil das Orchester viel freier und unabhängiger mit ganz unterschiedlicher Musik umgeht, sei es Frühklassik oder Spätromantik oder 20. Jahrhundert oder Zeitgenössisches. In dieser Saison von Bach bis Gérard Grisey und Brett Dean. Ich glaube, das stärkt die Arbeitsbereitschaft des Orchesters und erweitert den musikalischen Horizont und verlangt auch sehr viel Eigenstudium und Eigenvorbereitung. Man kann nicht alles in den Proben erarbeiten, vieles muss von den Musikern kommen. Und ich hoffe, dass auch die Gastdirigenten zu spüren bekommen: Das ist nicht nur eine perfekt geölte Maschine, sondern auch ein lebendiges Kollektiv mit eigenem Willen und eigenen musikalischen Vorstellungen.
17. Sommer, blühend
Das Orchester hat jetzt nach anderthalb Monaten zum ersten Mal wieder geprobt, erzählt Jurowski Ende August im Berliner Haus des Rundfunks in der Masurenallee. Es müssen sich alle erstmal einspielen, aber ich finde es erstaunlich, wie schnell so ein Orchester wieder zusammenkommt. Es gibt Orchester, die über den Sommer weiterarbeiten, wie mein Londoner Orchester, die hören nie auf zu spielen. Hier nach dem Urlaub – da hab ich schon viel Schlimmeres erlebt.
18. Mahler und der Sprung ins kalte Wasser
Am nächsten Tag geht’s in die Klosterkirche im brandenburgischen Chorin, wo das RSB traditionell jeden Sommer ein Konzert gibt. Bei Jurowski wird auch Zeitnot zum Abenteuer:
Mahlers Erste machen wir zusammen zum ersten Mal. Das Orchester hat es letzte Saison mit zwei Dirigenten gespielt, wahrscheinlich zwei unterschiedliche Fassungen, ich weiß es nicht. Und jetzt mit mir mit einer Probe, morgen ist schon das Konzert. Das ist wirklich ein interessantes Experiment, aber ich fand, das war jetzt angebracht, weil wir uns schon seit mehr als einem Jahr gut kennen. Wir haben in den letzten Jahren alles intensiv und exzessiv geprobt, würde ich sagen. Jetzt ist die Zeit gekommen, wo man auch mal gemeinsam ins kalte Wasser springen kann.
19. Schreker-Schnitte
Jurowski hat zur Probe sein eigenes Material von Mahlers Erster mitgebracht, eine eigene Fassung. Auch seine Schnittfassung von Franz Schrekers Gezeichneten hat er dabei, die er einen Monat später in Zürich dirigieren wird. Eine Fassung, an der Stephan Mösch in der FAZ heftige Kritik üben wird: Schrekers irisierende Klangflächen wurden gestaucht, die Tektonik der Musik ist gestört, es fehlen ganze Abschnitte. Die Partitur wirkt bisweilen wie auseinandergeschnitten und an falschen Seiten zusammengeklebt. Das sind keine philologischen Kavaliersdelikte.
Weiß der Philologe Jurowski nicht, was er tut? Oder verstehen manche Kritiker nicht zu hören? Jurowski ist das Gegenteil von leichtfertig, einen gewissenhafteren Musiker kann man sich schwer vorstellen. Ein musikalischer Moralist. Was nicht ausschließt, dass er auch mal falschliegen könnte.

20. Umwege
Der Sinn für Umwege scheint Jurowski am Herzen zu liegen. Den hat mancher Kritiker nicht, der fehlt auch einem Teil des Publikums. Mahler begreifen, indem man den Umweg über Beethoven nimmt. Dabei geht es auch um die Erziehung des Orchesters. Das hat praktische Aspekte, man kann das komplette Orchester mit einem klassischen Werk beschäftigen, nicht nur die Kernbesetzung. Aber es geht nicht (nur) um Training, sondern um Verstehen. Als es beim Jugendorchester des Schleswig-Holstein Festivals um Robert Schumann ging, nahm Jurowski einen noch weiteren Umweg: über Hans Zenders Schumann-Fantasie. Ein riesengroßes Orchester, sieben Schlagzeuger inklusive, beschäftigt sich mit Schumanns Klaviermusik.
21. Genuss und Verstörung
Ein anderer Teil des Publikums aber will begreifen: Ich sehe zunehmend mehr jüngere Leute bei uns im Konzert. Das sind offensichtlich keine Abonnenten. Das sind Leute, die im letzten Moment ihre Tickets kaufen. Ich baue sehr auf sie, das ist die Zukunft. Natürlich, auch die Abonnenten sind uns sehr wichtig. Aber ich glaube, es ist nochmal etwas anderes mit der älteren Überlieferung, der bürgerlichen Art, die Kunst zu »genießen«. Für junge Leute kann Kunst auch verstören und schockieren. Aber wichtig ist, dass sie sie wachrüttelt. Das kann natürlich nicht bei jedem ankommen. Dass wir natürlich einen bestimmten Teil unseres Publikums durch meine Programme verloren haben und noch verlieren werden, ist mir klar. Aber ich glaube, dieses Risiko muss man in Kauf nehmen, wenn man überhaupt etwas bewirken will.
22. Mozart neu
Michael Gielen, Hans Zender, Pierre Boulez nennt Jurowski als Beispiele für Dirigenten, die als Chefs in Frankfurt, Kiel, London produktiv polarisierten. Damit meint er keineswegs nur Neue Musik. Mozart etwa könne brutal sein. Happy new ears, lautet ein Buchtitel von Zender.
23. Mozart alt
Neu hören geht auch durch alt spielen. Als Jurowski in Berlin das Mozart-Requiem spielte, noch vor seiner Amtszeit, war das ein erster zaghafter Versuch, mit einigen guten Ergebnissen, aber noch nicht so komplett. Aber das Orchester zog mit. Bei der Prager Sinfonie im Juni 2018 wollte Jurowski wieder auf Ventiltrompeten verzichten, aber die Hornisten schlugen dem Dirigenten vor, auch ihre Partien auf Naturhörnern zu blasen.
24. Die Zukunft des Ewigen
Dass klassische Sinfonieorchester nicht nur eine Verantwortung für Neue Musik haben, sondern sich auch mit den Aufführungspraktiken der Alten Musik auseinandersetzen müssen, ist mittlerweile eine Binsenweisheit. Trotzdem ist es für ein Orchester offenbar nicht ohne. Für Jurowski ein Thema, das die Existenzgrundlage der Orchester berührt: Wir sind nicht die einzigen. Wir müssen heute aufpassen als gestandene, traditionsreiche, bürgerliche Institutionen, dass wir überhaupt mitkommen. Dass man nicht stehengelassen wird, denn die Welt entwickelt sich sehr, sehr schnell. Und wenn man dann solche Musiker hat wie MusicAeterna von Teodor Currentzis oder, ich schmeiß jetzt einfach ein paar Namen in den Raum, das Orchestre Révolutionnaire et Romantique von Gardiner oder dieses wunderbare, abenteuerreiche Aurora Orchestra von Nick Collon in London, François-Xavier Roths Les Siècles in Paris, das Balthasar-Neumann-Kollektiv. Ich hab sicher einige zu Unrecht vergessen. Aber da muss man schon zusehen, dass man auch etwas bieten kann. Nicht nur gute Qualität, sondern auch richtige Erfindung und neue Ideen, sowohl in der Programmierung als auch in der Darbietung.
25. Moskau, offen
Fehlt uns in Deutschland der Hunger nach Kultur? Als Studenten bekamen wir so wenig vorgesetzt tagtäglich, dass, wenn sich eine Möglichkeit bot, wir natürlich alle dahinliefen. Heute hat man einen unvergleichlich freieren und leichteren Zugang zur Kunst, zu jeglicher Information, aber man hat irgendwie keinen Bock.
In Moskau, der Stadt seiner Kindheit und Jugend, erlebt Jurowski das noch immer anders: Die Einstellung der Kunst und Kultur gegenüber ist dort immer noch eine altmodischere. Aber ich finde, dass die Menschen dort der Kunst viel näher sind und offener für die Auswirkungen der Kunst auf ihr persönliches Leben, auf ihr emotionales und geistiges Leben. Und weniger verwöhnt. Ich finde es so schön, dass das Publikum dort, was mich ja schon seit Jahren kennt, wirklich so ein Vertrauen in mich und mein Orchester [das Staatliche Akademische Sinfonieorchester »Jewgeni Swetlanow«] hat. Wir können auch ein Programm komplett aus Werken des 20. und 21. Jahrhunderts zusammenstellen, und die Bude ist trotzdem voll. Das erlebt man in Berlin nicht, das sehe ich auch bei anderen Kollegen, die viel berühmter sind als ich. Wenn die nicht Wagner oder Beethoven spielen … Es ist nach wie vor sehr titel- und komponistenbedingt in Berlin. In Moskau ist es abhängig davon, wer etwas macht. Sie haben immer noch diesen fast kindlichen Glauben an die starken Künstler-Persönlichkeiten. Und wenn sie jemandem ihr Vertrauen schenken, dann folgen sie einem überall hin. Und es gibt einen allgemeinen Hunger nach der neuen Kunst.
26. Moskau, verschlossen
Moskau ist Jurowski in mancher Hinsicht fremd geworden. Aber nicht, weil er so jung auswanderte, sondern erst in den letzten Jahren. Themen wie Klimawandel und Umweltschutz, die ihn beschäftigen, spielen dort – abgesehen von Aktivistengruppen wie am Baikalsee – kaum eine Rolle. Die Menschen seien mit sich selbst beschäftigt, sagt Jurowski, aber das Problem fange von oben an, wie in den USA, deren Präsident den Klimawandel als Hirngespinst abtut: Ich habe das Gefühl, die Leute, die in Russland ganz oben sind, die schert es einen Dreck, wie es mit der Umwelt weiter geht. Aber es stehe allgemein um Meinungsfreiheit und Demokratie übel. Der Fall Serebrennikov sei furchtbar, eine noch schlimmere Tragödie aber betreffe Oleg Senzow, den in einem abstrusen Schauprozess zu 20 Jahren Lagerhaft verurteilten ukrainischen Filmregisseur. Man sieht Jurowski an, wie dieser Fall ihn aufwühlt. Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs befindet Senzow sich in einem lebensbedrohlichen Hungerstreik, den er dann Anfang Oktober, nach viereinhalb ergebnislosen Monaten und unter Androhung künstlicher Zwangsernährung, abbrechen wird. Mit krankem Herzen, Rheuma, kaputten Nieren, Magen, Darm, zerfallender Leber, wie sein Anwalt erklärt. Wie es weitergeht, steht in den erbarmungslosen Kreml-Sternen.
Leider vermisse ich in Moskau immer mehr die Offenheit und das Gefühl der Freiheit. Es ist einfach kein freier Staat mehr, man kann ganz leicht hinter Gitter geraten, auch für einen ungünstig erzählten Witz. Das war vor 20 Jahren noch anders, sogar vor 15, 16 Jahren, als ich anfing, wieder nach Russland zu reisen. Das war natürlich ein anderes Entwicklungsstadium als in den westlichen Ländern, aber man hatte trotzdem das Gefühl, das ist ein freies Land. Und dieses Gefühl habe ich leider nicht mehr. Ich gehe immer noch dorthin, weil es mein Land ist und weil ich ein Orchester betreue und weil ich dort Freunde habe. Ich finde es auch wichtig, wie [der ungarische Dirigent] Iván Fischer einmal gesagt hat: Wenn ein Mensch krank ist, dann bringt man ihm Obst und Medizin und reicht ihm einen heißen Tee, statt ihn alleine zu lassen. Mein Land, sagt er, ist krank. Und ich empfinde es genauso. Man kriegt zunehmend Angst, wie es mit dem Land weitergehen soll. Das Wichtigste, was ich vermisse, ist diese Offenheit. Und ich sehe auch, dass die Menschen dadurch, dass sie von Desinformationsquellen von überall beballert werden und das Land fast wieder so einen Vorhang runtermacht, keinen Eisernen, aber vielleicht einen Ledernen, sich nur für sich, für ihr Leben, für ihre eigenen Probleme interessieren. Alles andere geht sie nichts an.
27. Kollege und Antipode
In München wird Jurowski Valery Gergiev nahe sein, dem Chef der Münchner Philharmoniker. Ob sie sich viel zu sagen haben? Gergievs Kreml-Nähe wäre bei Jurowski ebenso unvorstellbar wie dessen dirigentische Flatterhaftigkeit. Man vergleiche die Finger Jurowskis und Gergievs beim Dirigieren.
Seinen Staatsopern-Vorgänger Kirill Petrenko kennt Jurowski hingegen gut. So gern Jurowski spricht, so gern schweigt Petrenko. In Akribie und Ernsthaftigkeit aber ähneln sie einander. Zweieiige Zwillinge.
28. Lesender Moralist
Vielleicht sind sie beide Moralisten. Fabian – Die Geschichte eines Moralisten heißt ein 1931 erschienener Roman von Erich Kästner, dessen ungekürzte, radikalere Erstfassung vor wenigen Jahren unter dem Titel Der Gang vor die Hunde erschien. Jurowski hat sie gerade gelesen, als wir im Sommer miteinander sprechen: Extrem aufregend, inspirierend und erschreckend nennt er dieses Buch.
Ich kann im Gegensatz zu früher, wo ich Bücher tonnenweise verschlang, nicht mehr so viel auf einmal lesen. Mein Empfindungsvermögen ist natürlich durch die Anzahl der Partituren, die ich gleichzeitig lese, etwas eingeschränkt.
Auch Wedekinds Hidalla hat er jüngst gelesen, die Vorlage für Schrekers Gezeichnete; außerdem in Vorbereitung der Walküre, die er im Januar 2019 mit dem London Philharmonic spielt, nordgermanische Sagen und wissenschaftliche Arbeiten, darunter eine obskure musikpsychoanalytische Studie von Bernd Oberhoff zum Ring des Nibelungen.
Ich komme vom Theater, mich interessiert immer das Gesamtkunstwerk. Am Anfang war der Text.
29. Doktor Faustus
Eine von Jurowskis prägendsten Lektüren war Thomas Manns Doktor Faustus, erzählt er im Podiumsgespräch nach einem Claude Vivier-Abend, den er mit seinem ensemble unitedberlin im Berliner Konzerthaus gegeben hat. Dieses Neue-Musik-Kollektiv ist einst aus dem Kreis von Musikern der Komischen Oper entstanden. Welcher derzeitige Dirigent unter 50, fragt man sich, hat wohl den Doktor Faustus gelesen?
30. Mönch und Mystiker
Im selben Podiumsgespräch erfährt man, dass Jurowski als junger Mann einmal Mönch werden wollte. Vielleicht eine Erfahrung, die ihn mit dem kanadischen Komponisten Claude Vivier verbindet, einem abgebrochenen Priesteramtskandidaten. In dessen Hiérophanie hat der Dirigent eine Soutane zu tragen. Die sitzt Jurowski wie angegossen, nicht wie eine Verkleidung.
Freilich war Jurowskis Berufswunsch nie so fest wie der von Vivier und schon gar nicht so tragisch. Eher ein Gedankenspiel, ein Sympathisieren. Das hatte mit der Tabuisierung von Religion in Jurowskis Jugend zu tun, aber auch mit dem Umstand, dass ein Mönch so etwas wie der ideale Student ist. Er dient völlig einer Sache. Wenn er eine neue Partitur studiere, sagt Jurowski, vergesse er alles, auch zu essen.
Organisierte Religion freilich ist ihm mittlerweile zuwider. Ein Blick in die Zeitungen reiche. Sein Vorbild sind die einzelnen Suchenden, egal welcher Religion. Ich bin kein Mönch, aber ein Mystiker.
31. Mönch und Dirigent
Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Mönchen und Dirigenten – abgesehen von den Enthüllungen der MeToo-Ära?
Wenn man es mal ernst nimmt: Ich finde, ein Dirigent nicht im »Maestro«-Sinne, sondern im richtigen Sinne, meinetwegen auch »Kapellmeister« genannt – der muss natürlich nicht nur ein Handwerker, sondern auch eine Art geistiger Lehrer und Führer sein können. Nicht im sektiererischen oder ideologischen Sinne, sondern auch als Beispiel, wie man mit selbstaufopfernder Arbeit zu ähnlich heroischen Leistungen anstachelt. Beim letzten Halbsatz lacht Jurowski.

32. Dirigenten und Halbgötter
So ernst es Jurowski mit dem Ernst ist, so allergisch reagiert er auf falsche Überhöhungen: etwa wenn sein geschätzter Kollege Kirill Petrenko von überschwänglichen Fans nur halb im Scherz als »Messias« bezeichnet wird:
Das hat ja was Lächerliches. Genauso wie im Falle meines anderen, auch gleichaltrigen Kollegen Teodor Currentzis, den ich auch sehr respektiere, der aber von vielen wie eine Art Halbgott verehrt wird. Ich verstehe das nicht. Ich verstehe es noch, wenn man es von viel älteren Menschen sagt oder von Menschen, die es nicht mehr gibt. Von Carlos Kleiber. Der war auch nur ein Mensch, aber ich verstehe, dass man jemanden wie ihn oder, meinetwegen, Leonard Bernstein mythisiert.
Aber wir leben noch, und wir sind noch relativ jung. Solche Titel tun der Seele nicht gut, das ist nicht gut fürs Karma.
Und wir sind keine schaffenden Musiker! Jemand, der aus dem Nichts Töne kreiert, da würde ich schon eher sagen, ja. Und ich bin stolz, dass ich einige dieser Menschen auch persönlich kannte, wie Schnittke oder Denissow oder Henze oder Zender. Das sind noch eher die Halbgötter. Wenn überhaupt, dann sie. Nicht wir.
33. Nichtdirigent
Seine Bruckner- und Mahlerzyklen will er in Zukunft vollenden, auch ein paar Klassiker fehlen ihm noch: Beethovens Achte, Mozarts g-Moll-Sinfonie, der Figaro und Così fan tutte. Mehr Barock will er wagen, bei Bach fühle er sich immer mehr zu Hause, Händel reizt ihn.
Was aber würde Vladimir Jurowski nie dirigieren?
Einiges. Carmen.
Diese Antwort kommt schnell. Dann, nach einigem Nachdenken: Auch zu einigen Werken von Verdi findet er musikalisch keinen Zugang, Un ballo in maschera etwa oder La forza del destino. Vom frühen Wagner ist ihm der Holländer näher als Tannhäuser und Lohengrin. Und von Richard Strauss liegt ihm manches überhaupt nicht: Ich habe bis jetzt noch nie Lust verspürt, Ein Heldenleben zu dirigieren. Ich finde das Stück wirklich sowas von überblasen und wahnsinnig selbstwichtig und laut. Mit Humor, aber immer auf Kosten anderer.
Gleichzeitig liebe ich die Alpensinfonie. Ich finde sie zutiefst inspirierend. Wahrscheinlich wegen der spirituellen Komponente.
Thema
Vladimir Jurowski wurde 1972 in Moskau geboren. 1990 zog er nach Berlin. Dort wurde er Chef an der Komischen Oper, ebenso in Glyndebourne und Bologna. Er ist Principal Conductor des London Philharmonic und Künstlerischer Leiter des Swetlanow-Orchesters Moskau. Seit 2017 leitet er das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin und das Enescu-Festival in Bukarest. In drei Jahren wird er Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper. ¶