Vielleicht gibt es an diesem warmen Samstag im April keinen besseren Ort, um über tschechische Musik zu sprechen. Ich bin mit dem Dirigenten Jakub Hrůša in Bamberg verabredet. Hrůša wuchs in Brünn auf und studierte Dirigieren an der Akademie der musischen Künste in Prag, unter anderem beim kürzlich verstorbenen Jiří Bělohlávek. Nach Stationen bei den Prager Philharmonikern und als musikalischer Leiter beim Glyndebourne Festival wurde er im Herbst 2016 der fünfte Chefdirigent der Bamberger Symphoniker. Er schreibt das tschechische Erbe des Orchesters fort: Bei dessen Gründung 1946 bildeten ehemalige Mitglieder des Deutschen Philharmonischen Orchesters Prag den Kern. Ich treffe Hrůša im Dirigentenzimmer der Bamberger Konzerthalle. Abends wird er hier unter anderem Brahms 4. Sinfonie dirigieren. Vor unserem Gespräch hat er mir eine Liste seiner Lieblingsstücke tschechischer Musik per E-Mail geschickt. (Übrigens, wer sich unsicher ist, wie bestimmte Komponisten und unser Gesprächspartner ausgesprochen werden, dem hilft Jakub Hrůša hier weiter.)

Foto © ANDREAS HERZAU
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VAN: Als ich dich bat, diese Playlist zusammenzustellen, war die einzige Voraussetzung, dass sie nur tschechische Musik enthalten sollte. Hast du bei deiner Auswahl auch andere Kriterien befolgt?

Jakub Hrůša: Ich habe Stücke ausgewählt, die schon früh eine besondere Bedeutung in meinem Leben hatten. Ich würde nicht behaupten, dass die Liste meine Persönlichkeit widerspiegelt – es war auch etwas Intuition dabei.

Man kann jedes Kunstwerk – vor allem zeitbasierte Kunst wie die Musik – auf der einen Seite strukturell und materiell untersuchen, auf der anderen Seite aber auch seine Interpretationsgeschichte und seine kulturelle Wirkung betrachten. Bei Má vlast ist das Letztere prägend. Was ist die Bedeutung dieses Stückes für die tschechische Kulturgeschichte?

Das Stück ist bedeutend für alle kulturell interessierten Tschechen, auch solche, die nicht unbedingt Musikkenner sind. Es entfaltete seine Wichtigkeit zu bestimmten historischen Momenten. Während sich die Aufladung des Stücks in stabilen Zeiten oft eher wie eine Belastung anfühlt, wurde und wird es zum Symbol kultureller Identität immer dann, wenn die Tschechen das Gefühl haben, dass politisch etwas schiefläuft. Während der Besatzung durch die Nazis hatte das Stück eine so große Symbolkraft, dass den Besatzern Aufführungen zuwider waren (und die sie teilweise auch verboten, d. Red.). Es gibt diese Aufnahme von 1939 mit Vaclav Talich aus dem Prager Nationaltheater, die darin mündet, dass das Publikum im Schlussapplaus spontan die Nationalhymne anstimmt. Das gleiche passierte 1968 beim Prager Frühling und wieder 1989, als es auf den Plätzen Prags gespielt wurde.

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Vaclav Talich dirigiert Má vlast im Prager Nationaltheater im Juni 1939 kurz nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Nazis am 15. März. Während des Applauses stimmt das Publikum spontan die tschechische Nationalhymne an.

Was ist deine persönliche Verbindung zu dem Stück?

Meine ersten Erinnerungen an Má vlast kommen aus den Medien – ich muss es entweder im Fernsehen gesehen oder im Radio gehört haben, wahrscheinlich noch bevor ich eingeschult wurde. Das Stück wird immer zur Eröffnung des Festivals ›Prager Frühling‹ gespielt, die live übertragen wird. Es war das erste Stück, bei dem ich als kleiner Junge so etwas wie Interpretationsvergleiche anstellte: ›Das war besser, weil…‹, ›das war nicht so gut wie letztes Jahr‹ oder ›das war zu langsam und die Musik hatte nicht genügend Energie.‹ Worauf gründeten sich meine Urteile? Es muss so etwas wie Instinkt oder Intuition gewesen sein. Als ich anfing davon zu träumen, Dirigent zu werden, war dieses Stück ein zentraler Teil dieses Traums: Ich stellte mir vor, wie ich den ›Prager Frühling‹ mit einem Orchester eröffnete. Nicht, weil der Dirigent dabei so wichtig war, sondern weil das Festival für mein Umfeld das soziale Event war.

Zu diesem Moment kam es schließlich 2010, als du die 65. Ausgabe des Festivals eröffnet hast. Hast du vor dem Hintergrund der aufgeladenen Geschichte des Stückes jemals gezögert, es zu dirigieren?

Nein. Manchmal komme ich heutzutage ins Zögern, wenn jemand das Stück in einen Kontext stellen will, der sich für mich nicht richtig anfühlt. Wenn der Hintergrund zu ordinär ist, wenn es mit etwas verbunden sein soll, mit dem es nicht zusammengehört, oder wenn der Moment zwar der Richtige ist, aber der Veranstalter nur einen Teil des Werks spielen will, weil das Ganze sich dem Publikum schwer vermitteln lässt – dann fange ich an zu zweifeln.

Was ist so besonders an dieser Musik?

Zunächst funktioniert sie als Zyklus sehr gut. Das klingt offensichtlich, ist es aber nicht – es gibt viele Beispiele für Werke, die zwar programmatisch zusammengehören, aber in Wirklichkeit nicht zusammenhalten. Smetana war ein großer musikalischer Architekt. Er hatte genug Wissen, Fähigkeiten und einen gesunden Instinkt, um eine große musikalische Masse zu formen, die auch zusammenhält. Das Stück ist thematisch und motivisch auf eine wunderschöne Art verwebt. Auch aus harmonischer Sicht ist es recht mutig, fast schon kühn – nicht in einem Wagnerschen Sinn, weil es nicht wirklich mit Tonalität experimentiert, aber eine klare, trostspendende und letztlich sehr deutsche Dur-Moll-Tonalität mit einer wagemutigen Chromatik verbindet.

Trotzdem spielen Orchester oft nur eine Auswahl der Sätze. Wie verändert sich der Charakter, wenn man tatsächlich das ganze Werk als Zyklus spielt?

Heutzutage wird ständig Moldau, Vltava gespielt. Das Stück ist schon etwas abgenutzt, aber deshalb ist es für mich besonders interessant, der Moldau den richtigen Platz zuzuweisen, wenn ich den ganzen Zyklus dirigiere: nämlich als zweites, genau da, wo sie sein sollte. Wir vergessen oft, wie wunderbar Smetana das gelöst hat. Dann gibt es den fünften Satz, Tábor, der normalerweise beim Publikum der unbeliebteste Satz ist, weil er am schwierigsten zu verstehen ist. Für mich ist er ein Beispiel für die Fähigkeit, eine gänzlich unbekannte musikalische Form zu erschaffen, die keinem Beispiel folgt. Auf seine eigene Weise ist der Satz sehr revolutionär.

Gibt es einen Abschnitt oder eine Phrase, auf die du dich beim Dirigieren besonders freust?

Ich freue mich immer wieder auf den Abschluss des Zyklus’, wenn sich die Motive aus Vyšehrad und Blaník vereinen und auf organische Art eine monumentale Klimax schaffen.

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Rafael Kubelík dirigiert Má vlast bei der Eröffnung des Festivals ›Prager Frühling‹ 1990. Kubelík hatte die Tschechoslowakei nach dem kommunistischen Putsch 1948 verlassen und gelobt, nicht zurückzukehren, bis das Land von den Kommunisten befreit war. Es war sein erstes Konzert nach seiner Rückkehr. »In der Aufführung gibt es einen großen Ballast, der nicht wirklich mit der musikalischen Qualität verbunden ist. Es ist einfach kulturell und politisch wichtig – man spürt den Hype in der Musik«, sagt Hrůša.

Kommen wir zu Dvořáks Slawischen Tänzen.

Das ist eine gute Möglichkeit, eure Leser darauf hinzuweisen, dass die Slawischen Tänze möglicherweise – wenigstens, wenn wir von der Musik der klassisch-romantischen Tradition des 19. Jahrhunderts sprechen – eine der schwierigsten Partituren überhaupt haben. Dvořák ist immer heikel, genauso wie Mozart: Die Musik klingt leicht, ist aber schwer zu spielen. Es muss aber trotzdem so klingen, als ob alles leicht von der Hand ginge. Deswegen ist es fast schon ein wenig traumatisierend, dass die Slawischen Tänze nicht immer die Aufmerksamkeit erhalten, die ihnen eigentlich zustünde.

Wann bist du zum ersten Mal auf das Stück gestoßen?

Mein Interesse wurde geweckt, als ich Ausschnitte daraus im Studentenorchester als Posaunist spielte. Ich wollte wissen, wie die anderen Sätze klingen und hörte mir eine Aufnahme an. Dabei wurde mir klar, dass wir nur die einfacheren Sätze spielten und die anderen noch viel aufregender waren (lacht). Als Kind oder Jugendlicher sehnt man sich immer nach einer Art Drive oder einer Energie in der Kunst. Für Vierzehn- oder Fünfzehnjährige ist es sehr ungewöhnlich, dass sie das Kontemplative in der Musik suchen. Das Phänomen des Beats, sei es im Jazz oder in der Popmusik, ist viel eher die Richtung. Die Slawischen Tänze haben mich entdecken lassen, dass dieser Drive auch in klassischer Musik vorhanden ist.

»Das ist eine sehr interessante Aufnahme, die Jiří Bělohlávek mit den Prager Philharmonikern, meinem ehemaligen Orchester, gemacht hat. Sie wurde von einem lokalen Label in Tschechien produziert, deswegen ist sie international nicht so bekannt. Nach dem, was ich über den Drive gesagt habe: Diese Aufnahme hat kammermusikalische Qualitäten – jede einzelne Note hat Charakter und Bedeutung. Der Aufnahme fehlt vielleicht etwas Pfiff, dafür sind andere Aspekte großartig«, sagt Hrůša. »Ein Lieblingsstück von mir ist der vierte Satz der zweiten Serie, weil er von einer ganz besonderen Nostalgie erfüllt ist.« • Link zur Aufnahme

Als Kind habe ich oft eine Radiosendung über bekannte Komponisten gehört – die über Dvořák mochte ich immer am liebsten: Er reiste durch die ganze Welt, hatte zu Lebzeiten großen Erfolg, fühlte sich mit der Natur verbunden und hatte einen sehr intuitiven Zugang zur Musik. Er kam mir immer geerdet und zuversichtlich vor, was sich für mich auch irgendwie in der Musik wiederfindet.

Das, was du sagst, berührt mich sehr. Erstens glaube ich, dass das der Wahrheit sehr nah kommt und zweitens denke ich genauso. Wenn man sich mit Dvořáks Persönlichkeit beschäftigt, bekommt man den Eindruck, dass er etwas miesepetrig war. Aber nicht so wie etwa Brahms. Ich bin ein bisschen davon besessen, die beiden zu vergleichen. Beide hatten lange Bärte und trugen graue Anzüge und beide neigten etwas dazu, grummelige Kommentare abzugeben. Aber tief in ihm drin – ich bin kein Psychologe und sehe nur das, was mir bekannt ist – war Dvořák ein glücklicher Mensch, während Brahms es nicht wirklich war. Man kann das in der Musik spüren. Beide haben fröhliche und auch traurige Musik geschrieben, Brahms war dabei eher ein Skeptiker, Dvořák glaubte an das Gute im Menschen. Er hat viele Kommentare über Brahms gemacht, den er bewundert und verehrt hat, aber bei dem er nie verstanden hat, wie jemand, der so gut komponierte, nicht an Gott glauben konnte. Dvořák war nicht wirklich ein frommer Mensch, obwohl er auf dem Papier ein Katholik war und regelmäßig zur Messe ging – er hatte einen Glauben, der eher dem Pantheismus nahestand. Er war sehr von der Natur geprägt. Er konnte nicht nachvollziehen, wie jemand so skeptisch sein konnte. Brahms auf der anderen Seite konnte nicht nachvollziehen, wie jemand so naturverbunden und so wenig intellektuell sein konnte. Es hat beide aber nicht davon abgehalten, sich gegenseitig sehr zu schätzen. Mein Großvater war eines von sieben Kindern, er war eine sehr atheistische, wissenschaftlich geprägte Person; seine jüngere Schwester war hingegen ein perfektes Abbild von Mutter Theresa. Die beiden haben sich geliebt, sie waren wie zwei Seiten einer Persönlichkeit.

Diese beiden Themen, Glaube und Familie, bilden eine gute Überleitung zum nächsten Stück, Dvořáks Stabat Mater. Er begann die Arbeit an dem Stück nach dem Tod seiner Tochter Josefa und vervollständigte es später, nachdem zwei Jahre darauf auch seine beiden anderen Kinder gestorben waren.

Das ist für mich eines der beeindruckendsten Beispiele geistlicher Musik. Es ist wirklich ganz tief gefühlt – gleichzeitig gibt es fast schon strahlende Hoffnungsströme, die großen Lebensmut beweisen. Ich würde nicht sagen, dass es darin Optimismus gibt, das ist ein etwas dummes Wort, aber es gibt Zuversicht. Für mich ist das Stück ein Idealbild davon, wie christlich-geistliche Musik klingen kann. Es gibt viel Leid darin, aber das Stück weidet sich nicht daran. Es impliziert eher, dass dieses Leid eine Bedeutung haben könnte.

Was ist deine Geschichte mit dem Stück?

Irgendwann in meiner musikalischen Entwicklung habe ich mich zu schwierigeren Stücke hingezogen gefühlt. Das Stabat Mater war eine der Türen zu der Art von Musik, die – oberflächlich gesehen – schwer zu verdauen ist, weil sie langsam ist. Ich denke, alle Jugendlichen tendieren dazu, sich für die komplizierten, manchmal sogar etwas selbstzerstörerischen Aspekte von Kunst zu interessieren. Für mich war das Stabat Mater eine gesunde Einführung in diese tiefen und problematischen Sphären der Musik.

Du hast drei Stücke von Dvořák ausgewählt, das letzte ist seine Achte Symphonie.

Diese Wahl lässt sich ziemlich gut erklären, weil es das Stück ist, das mich dazu gebracht hat, über das Dirigieren nachzudenken. Irgendwann kam mir der Gedanke, dass ich mir mal ansehen sollte, was der Dirigent da vor sich liegen hat und wie diese fantastische, sinfonische Musik kodifiziert ist. Also ging ich einfach in die öffentliche Bibliothek. Mehr oder weniger zufällig nahm ich mir dort Dvořáks Achte Symphonie. Die hat mich vollkommen fasziniert und das Ganze war letztlich eine Art Initiation, die dazu geführt hat, dass ich Dirigieren und sinfonische Musik studieren wollte.

Erinnerst du dich daran, wann du das Stück zum ersten Mal dirigiert hast?

Ich war siebzehn, in meinem ersten Studienjahr, und ich wollte mich für den Dirigentenwettbewerb des ›Prager Frühling‹ bewerben. Man musste ein Video einsenden und ich hatte noch nie vorher ein professionelles Orchester dirigiert. Also organisierte die Akademie eine Aufnahmesession mit einem extra dafür zusammengestellten Orchester, damit wir etwas einschicken konnten. Das erste Mal in der Öffentlichkeit, da bin ich mir nicht sicher, lass mich kurz nachschauen… (Mit einem kindlichen Lachen nimmt er seinen Laptop und tippt etwas ein.) Ich bin selbst neugierig …

Du führst eine Liste über alle deine Auftritte?

Ja, vor ein paar Jahren habe ich einmal zwei Wochen damit verbracht, alles zusammenzutragen.

Wie hast du die alle wiedergefunden?

Ich schreibe die Aufführungen immer in meine Partitur… die Achte Symphonie habe ich bis heute 41 Mal gemacht, das erste Mal war am 22. April 2005 im National House in Frýdek-Místek.

Was ist deine Lieblingsaufnahme?

Das ist wirklich schwierig, keine ist mir gut genug (lacht). Wirklich!

Es wird also Zeit, dass du sie selbst aufnimmst?

Ja, wir werden das hier (mit den Bamberger Symphonikern) machen.

Du dirigierst heute Abend Brahms’ 4. Sinfonie und stellst in einem Aufnahmeprojekt mit den Bamberger Symphonikern in den nächsten Jahren die vier Sinfonien von Brahms den letzten vier von Dvořák gegenüber. Es gibt eine stereotype Sichtweise auf Dvořáks Musik, die teilweise von Brahms in die Welt gesetzt wurde: Dvořák habe viele musikalische Ideen, diese blieben aber fragmentarisch und würden nicht in eine größere Struktur eingebettet.

An einem bestimmten Punkt – und ich glaube, das war bei der Achten Symphonie – beschloss Dvořák, dass er erwachsen genug war, um sich keine Gedanken mehr darum machen zu müssen. Es lag in seiner Natur, dass er sich nicht komplett auf Verbindungen und die Konstruktion konzentrierte. Ich glaube, dass er eher die unerwarteten Seiten des Lebens genoss. Was ich bei Brahms nicht mag, ist, dass er erwartet hat, dass seine Ansichten darüber, wie Musik zu sein habe, universell akzeptiert würden. Das ist ein unangenehmer Aspekt bei solchen Komponisten.

Dvořák war eher ein autodidaktischer Typ: Er lernte zu komponieren über trial and error – er schrieb tausende Seiten von Musik, bis er an den Punkt kam, das zu bekommen, was er wollte. Brahms sagte über seine Achte Symphonie, dass darin (sagt es auf deutsch) ›die Hauptsachen fehlen‹  – aber was sind ›die Hauptsachen‹?

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Janáčeks Taras Bulba mit »großem Klang, Drive und Pracht« (Hrůša).

Taras Bulba ist vielleicht das Stück, das ich am meisten dirigiert habe … Ja, genau, hier haben wir’s: 45 Mal. Janáček hat mich seit meiner Kindheit fasziniert. Ich komme aus Brno und Janáček ist ein Held, was Musik in Brno betrifft.

Das Stück wird oft überschattet von Janáčeks Sinfonietta, die häufiger gespielt wird und beliebter ist. Warum hast du dieses Stück ausgewählt?

Ich habe beide Stücke sehr früh entdeckt. Als Dirigent fand ich Taras Bulba aber immer interessanter – man kann damit ein Statement machen. Die Sinfonietta ist leichtfüßiger, effektiver, aber man spürt irgendwie, dass er sie seinen Opern unterordnete. Taras Bulba war für ihn eine große kompositorische Herausforderung. Er hat drei Jahre daran gearbeitet und gab alles. Es ist auch ein Stück, das mich immer wieder beschäftigt: Es gibt darin Herausforderungen – Tempowechsel oder Wechsel der rhythmischen Patterns – für die es einfach keine Lösungen gibt, die alle Aspekte zugleich berücksichtigen.

Taras Bulba basiert auf dem gleichnamigen Roman von Nikolaj Gogol, der großrussischen Nationalismus perpetuiert, voller Gewalt ist und auch antipolnische und antisemitische Ressentiments bedient. Hat das für dich eine Bedeutung? Wenn ja, ist diese in der aktuellen politischen Situation wichtiger geworden?

Wenn ich das Stück auf ein Programm setze, denke ich darüber nach. Wenn ich es dirigiere, dann nicht. Normalerweise komme ich im Verlauf der Probenarbeit immer an einen Punkt, an dem es wichtig ist, den Musikern den Plot der Geschichte zu erzählen, vor allem an Orten, wo das Stück noch unbekannter ist. Wenn wir im letzten Satz ankommen und ich erklären muss, was die Prophezeiung von Taras Bulba ist, weiß ich immer nicht so recht, was ich sagen soll. Natürlich identifiziere ich mich überhaupt gar nicht mit der Prophezeiung einer glorreichen Zukunft der russischen Nation – ganz davon abgesehen, dass der Held der Geschichte überhaupt kein Russe ist. Gerade jetzt mit dem russisch-ukrainischen Konflikt wird das alles ziemlich kompliziert. (Als der Roman 1835 veröffentlicht wurde, kritisierten russische Behörden, dass der Text »zu ukrainisch« sei, was Gogol dazu bewegte den Roman zu überarbeiten und den russisch-nationalistischen Anteil der Geschichte zu erhöhen – d. Red.)

Das ist eine schwierige Sache, denn diese Stücke funktionieren genauso gut, wenn man nichts über den Plot weiß. Es ist unsere Aufgabe den schmalen Grat zu finden, so dass man die Leute nicht unnötig mit Nationalismusdebatten belastet, aber auch nichts von der Kraft des Werkes raubt. Wenn jedes Programm, das wir machen, immer Sinn und Bedeutung ergeben soll und immer eine Rechtfertigung braucht, dann habe ich ein Problem, weil ich keinen Grund mehr finde in der heutigen Welt Taras Bulba auf ein Programm zu setzen.

Hast du das Stück schon in Polen dirigiert?

Nein, aber das ist eine gute Frage. Ich habe es tatsächlich in Russland dirigiert und ich war etwas enttäuscht, dass die Leute keinen Zugang dazu gefunden haben. Ich hatte erwartet, dass es eine originelle Möglichkeit wäre, ihre Musikalität anzuregen. Es lief sehr gut, aber ich hatte ein Gefühl, das typisch für große Länder ist: dass ich versuchte, sie von etwas zu überzeugen, das sie eigentlich als eher minderwertig empfanden.

Hast du immer noch das Gefühl, dass tschechischer Musik mit zu wenig Respekt oder sogar Ignoranz begegnet wird?

Manchmal, auf sehr subtile Art und Weise, vor allem, wenn man ein unbekanntes Stück auf das Programm setzt, das ich wunderschön und wichtig finde, das aber nicht im Kanon ist. Auf der anderen Seite gewinnt man aber dadurch auch Leute für sich.

Würdest du auch sagen, dass es in den letzten Jahren so etwas wie eine Janáček-Renaissance gab?

Im Ausland viel mehr als bei uns in Tschechien. Janáček ist einer dieser Komponisten, die einen an Lebensaspekte erinnern, an die man nicht erinnert werden möchte.

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JOSEF SUK ASRAEL SYMPHONY; Tschechische Philharmoniker, JIŘÍ BĚLOHLÁVEK (Dirigent)

Suks Asrael-Sinfonie scheint auch ein Inbegriff tschechischer Kultur geworden zu sein …

Ja, obwohl sie zu kompliziert ist, um wirklich populär zu werden.

Wie bist du auf sie gestoßen?

Als Teenager bin ich in Brno zu vielen Abonnementkonzerten gegangen. Das ist das, was mir an Abo-Konzerten gefällt, auch jetzt noch: Anstatt bestimmte Programme mit hunderten von Marketingtools zu bewerben, kann man durch sie unerwartete Dinge erleben. Es war an einem Freitagabend und ich war ziemlich müde von der Woche. Die erste Hälfte des Programms hatte mich nicht wirklich überzeugt, das Janáček-Theater in Brno klingt sehr trocken, hat eine schlechte Akustik und man kann nicht wirklich gut sehen. Auch der Dirigent hat nicht wirklich eine Hoffnung genährt, dass das Programm noch gut werden könnte.

Und dann kam nach der Pause Suks Asrael-Sinfonie und ich dachte vorher: Oh je, nochmal 60 Minuten! Aber ich bin ein disziplinierter Mensch, also bin ich geblieben. Dann fing es mit nur dieser einen Note an (geht ans Klavier und spielt den ersten Ton). Ich liebe Stücke, die so anfangen. Plötzlich entfaltete sich eine ganze Landschaft, so wie ich es vorher nie erlebt hatte. Das Stück vereinnahmte mich komplett. Dann noch die Transformation am Ende des Stücks von tiefster Trauer zum offenen Himmel – mir kamen damals wirklich die Tränen.

Am nächsten Tag habe ich mir eine Aufnahme besorgt und ich war enttäuscht. Das war nicht dasselbe wie live, also habe ich sie auf die Seite gelegt. Das Stück aber blieb bei mir.

Wann hast du dich ihm wieder gewidmet?

Während meines Dirigierstudiums hat sich meine Erfahrung noch einmal wiederholt und an einem bestimmten Punkt habe ich mich dem Stück so verbunden gefühlt, dass ich es für mein Abschlusskonzert an der Akademie vorgeschlagen habe. Ich habe es auswendig gelernt, das Orchester war auch davon überzeugt und zufällig kam zu dem Konzert ein Agent – meine ganze Karriere begann mit dem Stück. Ich werde die nächste Saison hier in Bamberg damit eröffnen. Gerade gibt es so etwas wie eine kleine Suk-Renaissance, auch Kirill Petrenko liebt seine Musik. Er ist so etwas wie der tschechische Mahler.

»Bělohlávek ist der beste Interpret für Martinů-Sinfonien«. Hier der erste Satz seiner sechsten Sinfonie Fantaisies Symphoniques mit dem BBC Symphony Orchestra.

Du bist der Präsident des Internationalen Martinů-Kreises, er musste also auf die Liste.

Ja, aber ich muss gestehen, dass ich lange nicht verstehen konnte, warum Martinů bedeutend sein soll. Er hat viele Gelegenheitskompositionen geschrieben, Konzerte, Kammermusik, es gibt bei ihm eine gewisse Leichtigkeit und einen Mangel an Ehrgeiz, was für einen jungen Menschen oft mit einem Mangel an Kunst gleichbedeutend ist. Ich muss gestehen, dass ich als Teenager dasselbe Problem mit Mozart hatte oder Haydn. Ich war vor allem darauf aus, Komplexität zu suchen. Ich konnte Einfachheit nicht wirklich genug wertschätzen.

Martinů ist auf eine Art auch recht einfach. Aber seine Sechste Sinfonie hat mich irgendwie gepackt. Es war das erste Stück, das ich beim Wettbewerb des ›Prager Frühling‹ dirigiert habe. Mir gefällt darin die Fantasie, die Art wie eine eigene klangliche Welt gebildet wird.

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MILOSLAV KABELÁČ THE MYSTERY OF TIME OP. 31; FINNISH RADIO SYMPHONY ORCHESTRA, JAKUB HRŮŠA (Dirigent)

Ich hatte von Miroslav Kabeláč, dem nächsten Komponisten, noch nie vorher gehört.

Lass es mich so sagen: Wenn man annimmt, dass es möglich gewesen sein könnte, im 20. Jahrhundert ein Sinfoniker zu sein – das ist natürlich ein problematischer Begriff und Leute wie Pierre Boulez hätten gesagt, dass die klassische Sinfonie keinen Sinn mehr macht – wenn man aber annimmt, dass das doch möglich ist, dann gibt es da auch ein gewisses Output. Kabeláč kam nach Martinů und ist der nächste wichtige Sinfoniker. In seiner Musik entwickelte sich die Sinfonie ohne Unterbrechung, ähnlich wie vielleicht bei Prokofjew oder Schostakowitsch, aber auch auf experimentelle Art und Weise mit proportionaler Notation, ungewöhnlichen Perkussionsinstrumenten, unerwarteten Kombinationen von Strukturen und Farben. Kabeláč wäre sicher Teil dieser Strömung westlicher Musik geworden, wenn er nicht in einem Land gelebt hätte, das von kommunistischen Idealen des sozialistischen Realismus unterdrückt wurde. Seine Stücke wurden im Ausland gespielt, aber er konnte nicht hingehen.

Mystery of Time ist eines seiner früheren Stücke, es ist aber ein fantastisches Stück Musikarchitektur: Die kosmologische Idee, über die Musik und über Töne zu verstehen, was Zeit ist, ist tatsächlich sehr fruchtbringend. Auch wenn man nichts über die Musik weiß, entfaltet sie eine große Wirkung.

Du dirigierst sehr viel tschechische Musik, weil du sie offensichtlich liebst. Hattest du aber als junger, aufstrebender Dirigent nie die Sorge, als ›tschechischer Dirigent, der tschechische Musik macht‹ etikettiert zu werden?

Das ist schwierig. Ich hatte nie diese Sorge oder Angst davor, denn ich bin stolz auf die tschechische Musik. Ich könnte mir theoretisch vorstellen, mein ganzes Leben lang nur tschechische Musik zu machen. Es gibt einen solchen Reichtum, man kann tiefer und tiefer eintauchen, ohne dass es einem jemals langweilig dabei wird.

Ich war aber tatsächlich etwas beunruhigt über diese Sache und ich habe bewusst die Entscheidung getroffen, dass es nicht zu einer solchen Schubladisierung kommen soll. Indem ich mich weiterentwickelt habe, ist diese Gefahr zurückgegangen, weil ich auch bekannt wurde für andere Sachen als nur tschechische Musik. Die Tendenz besteht aber weiterhin. Wenn ich irgendwo ein Debüt machen, denke ich nicht, dass es etwas Schlechtes ist, mich mit tschechischer Musik vorzustellen. Wenn ich dann aber ein zweites Mal komme, wird das Programm normalerweise reichhaltiger. Wenn man einen Blick auf meinen Tourplan wirft, gibt es da eine Menge tschechischer Stücke – die sind aber immer noch eine Minderheit. Und wenn man mich als jemanden ansieht, der viel für tschechische Musik tut, dann bin ich damit absolut einverstanden. ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com