Die einzige der schätzungsweise 298 Opern von Nikolai Rimski-Korsakow, die hierzulande fest zum Kanon gehört, ist die Scheherazade, und die ist bekanntlich gar keine Oper. Hingegen wird Rimski-Korsakows letzte Oper Der goldene Hahn von 1908 zwar dauernd irgendwo gegegeben (in den letzten Jahren u.a. in Coburg, Magdeburg, Düsseldorf, Weimar), aber so richtig Repertoire ist sie nicht. Dabei ist das eine so zackige wie funkelnde Angelegenheit. Und befindet sich bei Barrie Kosky, James Gaffigan und dem Team der Komischen Oper in guten Läufen, mit durchaus scharfen Spornen.

Wobei die Produktion gar nicht in Berlin entstanden ist, sondern schon vor zwei Jahren in Frankreich lief. Eine Koproduktion unter anderem mit dem Festival Aix-en-Provence; genau wie George Benjamins Oper Written on Skin übrigens, die am selben Wochenende Berliner Premiere hat, an der Deutschen Oper. Das ist nichts Schlechtes, wenn es so fundierte, gut gearbeitete Produktionen sind wie diese beiden. Wobei Benjamins raffiniert geschriebenes und makellos aufgeführtes Written on Skin in mir wieder mal Zweifel weckte, was die Kunstform Oper im Jahr 2024 sinnvollerweise sein und uns angehen kann.

Foto © Monika Rittershaus

Eine Frage, die sich beim Goldenen Hahn für mich nicht stellt. Das Ding beginnt als flotte Farce und führt ins Grauen. Musikalisch hört man deutlich, in welchen Vogelmusiken der frühe Strawinsky der Nachtigall oder des Feuervogels so federwurzelte. In dem rasanten, mitunter schnarrenden Sarkasmus des Stücks kann man aber sogar Schostakowitsch voraushören. Die Story geht dabei auf Puschkin zurück: Fabel eines verrotteten Königreichs, abgewrackter Zar mit wehrunfähigen Söhnen, ein windiger Astrologe verkauft dem konfusen Herrscher einen vor Feinden warnenden Zauberhahn, aber der depperte Zar lässt sich dann doch von einer geheimnisvollen Königin den Kopf verdrehen (wie der Sultan von Scheherazade, bei Rimski-Korsakow sind die Frauen den Männern über). Am Ende pickt der Hahn den Trottelzaren grausig tot.

Dodons Todim 3. Akt

Am Anfang sieht man diesen putzig-apathischen Zaren Dodon, der eigentlich kriegsmüde ist und nur seine Ruhe will, mit gemischten Gefühlen angesichts des unputzig-kriegsgeilen Neo-Zaren Putin, der sein Nachbarland mit Krieg überzieht. Im Goldenen Hahn ist nicht die rohe Gewalt von Mussorgskys Godunow inhärent, sondern geschliffen-zersetzende Albernheit. Dabei aber alles maliziös genug, dass die Oper ins russische Zensurvisier geriet und Rimsky-Korsakow, der 1909 starb, die Uraufführung seines Werks nicht mehr erlebte. Barrie Kosky konstruiert keine direkten Bezüge, die sich zwar nicht aufdrängen, aber irgendwie möglich wären. Stattdessen serviert er uns einen stringenten Albtraum im dichten Steppengras und zugleich ein unterhaltsames Varieté, in dem auch anregend getanzt wird. Der Hofstaat – sowohl Nebenfiguren als auch Chor – tritt als umgekehrte Zentauren auf: oben Pferdekopf, unten bestrapste Beine. Zar Dodons Kriegspferd aber wird eine zentaurische Schindmähre anderen Kalibers sein, nämlich ein hübsch gekurbelter Apparat, vorne Rosskopf, hinten Gerippe.

Foto © Monika Rittershaus

Dmitry Ulyanov als Zar Dodon füllt nicht nur per markantem Bass die Bühne, sondern auch als überkandidelte Rampensau, in schmieriger langer Unterhose seinem Untergang entgegenhampelnd. Im zweiten Akt kommt mit der fatal schönen Königin von Schemacha noch ein anderer sängerischer Reiz ins Spiel. Kseniia Proshina kann nicht nur mit ihrem Sopran, sondern auch mit den Hüften sehr melismatisch wackeln (siehe dazu das VAN-Ranking zu den 7 verbreitetsten Klischee-Opern-Gesten).

Arie der Königin von Schemacha (2. Akt)

Und James Kryshak gibt einen dödelig-abgründigen Astrologen. Der titelgebende Hahn wird von Daniel Daniela Ojeda Yrureta als hinkendes nonbinäres Glitzerwesen dargestellt, ein Fuß auf Stiletto, ein Fuß nackt, ein bisschen schön und ein bisschen eklig. Gekräht wird aus dem Off von Julia Muzychenko. Die Koloraturreize von Strawinskys rossignol hat der Grausegockel nicht. Sängerisch interessanter wäre da noch die füllige Alt-Partie der Aufseherin Amelfa von Margarita Nekrasova.

Die Story flutscht ölig in den unvermeidlichen Abgrund und der Gesang lässt sich gut weghören, wenn auch ohne Ohrwürmer. Das eigentliche Vergnügen liegt im Orchester mit schwelgerischen Streichern, mit orientalisierendem Holz, mit großem Blitzen und Prunken. (Auch hier ein großer Kontrast zu Mussorgskys genialischer Rohheit, die Rimsky-Korsakow als Verwalter des Nachlasses wohlmeinend aufzupeppen suchte.) Das Schöne ist, dass der neue Chefdirigent der Komischen Oper, James Gaffigan, die Farbigkeit leuchten und blühen lässt, wo sein Vorgänger Ainārs Rubiķis zum Pumpen neigte. Aber im rechten Maß versteht auch Gaffigan zu pumpen, etwa im finalen Akt, wo die Sache rapide an Zug zunimmt.

Foto © Monika Rittershaus

Dem Eindruck kommt vielleicht zugute, dass diese erste Gaffigan-Premiere nicht im Stammhaus der Komischen Oper in Mitte stattfindet, sondern in der temporären Hauptspielstätte Schillertheater in Charlottenburg. Im Vergleich zum Saal der Staatsoper Unter den Linden, die dort auch schon einige Sanierungsjahre verbrachte, war die Akustik des Schillertheaters trocken. Im Vergleich zum bisherigen Saal der Komischen Oper ist sie warm und lebendig. Dennoch, mit Gaffigan scheint die Komische Oper eine gute Wahl getroffen zu haben.

Und die Aufführung profitiert auch davon, dass sie sich nicht auf Folkloristisch-Pittoreskes kapriziert, sondern uns koskymäßig knallbunt hinein ins Verderben pfeffert. Am eindrücklichsten bleibt hängen, wie Proshina als Königin von Schemacha die Reize der Liebe preist. Im Bühnenhintergrund findet da eine schaurige Parallelaktion der Schatten statt: Zuerst sehen wir die riesige Silhouette des aufgegeilten Zaren, der die Schöne quasi auffressen will. Und alsbald, während die Königin immer inniger die Genüsse der Jugend besingt, aalt sich ihre schwarze Kontur zwischen den verdoppelten Schatten der von Feinden gehenkten und enthaupteten Zarensöhne. Sie hängen an dem Baum, auf dem zuvor der Hahn saß und später wieder sitzen wird, bis er dann Papa Zar die Krallen ins Hirn bohrt. ¶

… lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Beethovn‹ (2020). Zuletzt erschien ›Silence‹. ✉️ KonzertgaengerBerlin@gmail.com

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