Ein Gastspiel ist eine Staatsaffäre. Am Abend bevor das Ensemble der Komischen Oper mit seiner Zauberflöte das Moskauer Tschechow-Festival eröffnen darf, hat es sich in der schönen Residenz des deutschen Botschafters einzufinden: »Italienische« Krypto-Renaissance in der Ulitsa Povarskaya 46, einer für Moskauer Verhältnisse ruhigen Seitenstraße im Arbat-Viertel, das irgendwas zwischen altem Adelsquartier, Künstlerkolonie und Touristenfalle ist. Geduldig und in zivil lauschen Tamino, Pamina, Papageno den Reden des Gesandten und Ständigen Vertreters, des Kulturreferenten, der Vertreterin des Goethe-Instituts, des Festival-Generaldirektors. Und immer wieder den Reprisen der Dolmetscherin. Thema mit Variationen: »Die hervorragenden kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland«. Die Redner müssen das Wort kulturelle nicht betonen, damit man die Betonung hört.
»It’s part of the job«, wird Tamino später sagen.
Für die Königin der Nacht gehört es sogar zum Job, einmal ihre Rache-Arie zu trällern. Da scheint selbst Bismarck seine schweren Augenlider ein wenig zu heben, der über dem Bechsteinflügel vor sich hin dämmert, müde geworden vom jahrelangen Grußwort-Einerlei und vielleicht auch vom ewigen Auf und Ab der deutsch-russischen Beziehungen. Später wird er, während die Menge zum Büffet strebt, wo auch Papageno sein Glas Wein erhält, ein kompetentes, unterfordertes Trio hören, das angenehme Musik von Mozart bis Satie spielt. Spätestens bei der Gnossienne ist Bismarck wieder im Ennui versunken.
Ein Gastspiel ist eine Staatsaffäre. Wagt der Besucher sich mutig zur Pforte hinein, die in die Proberäume des Bolschoi führt, muss er, sei seine Absicht auch edel und lauter und rein, eine Sicherheitsschleuse durchqueren, sich dem Metalldetektor präsentieren, seine Tasche öffnen. Er kennt das bereits, so ist es hier in jedem größeren Hotel, jedem Museum, jeder Shopping Mall, jedem U-Bahnhof.
Denn ganz Moskau ist eine Staatsaffäre.
Machtgeschützte Innerlichkeit
Und ein Welttheater. Denn das alles kann einem verdammt russisch vorkommen, aber auch verdammt global und universell: Der Kontrast zwischen atemberaubend eleganten Moskowiterinnen und ausgemergelten zentralasiatischen Arbeitern. Zwischen den monströsen Prachtboulevards einerseits, die von adipösen SUVs verstopft werden und von Fußgängern unterirdisch durchquert werden müssen, und andererseits ruhigen Hinterhöfen, eingehegten Idyllen, künstlichen Paradiesen und auch murkeligen Radspuren, die oft im lebensbedrohlichen Nirgendwo enden. Zwischen grüner Erholung von der zermürbenden Metropole und nicht minder zermürbender Dauerbespaßung, wie sie sich im Gorki-Park erleben lässt, dem so idyllischen wie irritierenden Symbolbild des sowjetischen Utopia. Zwischen weltläufigem Flair und abgrundtiefem Hass auf das Andere: so bei einem Pub, der sich Union Jack nennt, aber mit einem gehässigen Aufkleber Schwulen den Zutritt verbietet.
Und zwischen Macht und Musik. Die Straßen sind voll von Polizisten und Musikern. Nicht nur im Dunstkreis des Tschaikowsky-Konservatoriums, das Studenten von Rachmaninow und Skrjabin bis zu Alfred Schnittke und Arcadi Volodos besuchten, sind Instrumentenkoffer allgegenwärtig. Und nicht nur im Dunstkreis des Kreml wimmelt es von Polizei, die seit 2011 nicht mehr Milizija heißt, aber immer noch so aussieht. Passanten tritt sie im Ton meist freundlich, in der Sache unerbittlich gegenüber.

Es wäre leicht, in diesem Straßenbild den Polizeistaat zu wittern. Zumal wenn man die Große Moskwa-Brücke überquert, auf der 2015 der Oppositionelle Boris Nemzow in Sichtweite des Kremls ermordet wurde. Blumen, Kerzen, Bilder erinnern daran, die von Bürgern immer wieder hier abgelegt und von Behörden immer wieder beseitigt werden. Oder wenn einen zu Beginn des Tschechow-Festivals die Nachricht erreicht, dass Kirill Serebrennikov, einer der interessantesten und unbequemsten russischen Regisseure und Leiter des Gogol-Centers, aus fadenscheinigen Gründen von der Polizei abgeholt und »verhört« wurde.
Aber Moskau ist eben auch die Stadt, die seit 1999 von einer Reihe von verheerenden Terroranschlägen erschüttert wurde, wie sie keine europäische Stadt, nicht einmal Paris, erleben musste. Die hohe Polizeipräsenz an öffentlichen Orten ist ja völlig verständlich. Und doch kommt einem, wenn man all die kultivierten jungen Musiker und, mehr noch, Musikerinnen zwischen all den martialischen Sicherheitskräften sieht, ein Begriff in den Sinn, den Thomas Mann auf Richard Wagner münzte: Machtgeschützte Innerlichkeit.
Aber vielleicht ist auch die nichts spezifisch Russisches, sondern etwas verdammt Globales. Kulturleben im 21. Jahrhundert, Musik in Zeiten des Terrors.
Wild wucherndes Festival
Das alle zwei Jahre stattfindende Internationale Tschechow-Theaterfestival wird auch diese Zeiten überstehen. Als sein charismatischer Direktor Waleri Schadrin, ein gewiefter Grenzgänger zwischen Macht und Innerlichkeit, es gemeinsam mit zwei berühmten, mittlerweile verstorbenen Schauspielern, Kirill Lawrow und Oleg Efremow, ins Leben rief, geschah das zum bestmöglichen und zugleich ungünstigsten Zeitpunkt: 1992, als Russland sich der Welt öffnete und im Chaos versank. Wurden zunächst die Big Player der internationalen Theaterwelt von Giorgio Strehler und Peter Stein bis zu Robert Wilson, Christoph Marthaler und Ariane Mnoushkine eingeladen, so weitete sich der Blick bald Richtung Asien und Amerika.
Das Programm des diesjährigen 13. Festivals ist ein wild wucherndes Durcheinander, so verwirrend wie anregend: vom kubanischen Messiaen-Ballett über argentinischen Tango bis zu einem brasilianischen Regenwald-Musical, von einer kirgisischen Lermontow-Inszenierung über französischen Pirandello bis zu US-amerikanischem Tschechow, aus Großbritannien eine Show über »ephemere Architektur« ebenso wie The Winter’s Tale, taiwanesisches Percussions- und koreanisches Tanztheater und nicht zuletzt die russisch-kanadische Koproduktion einer Operette von Emmerich Kálmán. Wie ein stolzer Vater über sein wunderbar gelungenes Kind spricht Schadrin beim Empfang des deutschen Botschafters und bei einer Pressekonferenz im Hotel Marriott, die mit einer Schweigeminute für die Opfer des Terroranschlags in Manchester beginnt (eine selbstverständliche Empathie, die viele Russen umgekehrt wohl manchmal vermissen).

Es ist also keine Kleinigkeit, wenn zur Eröffnung des Jubiläumsfestivals zum 25-jährigen Bestehen ausgerechnet die Komische Oper Berlin eingeladen wird. Dabei hat diese Zauberflöte schon einiges von der Welt gesehen und die Welt einiges von dieser Zauberflöte: Die ist nämlich ein veritabler Exportschlager, Moskau ist die sechzehnte Station auf ihrer Welttournee. Über 350.000 Zuschauer haben die Produktion schon besucht, 100.000 in Berlin, der Rest weltweit.
Oper mit zweieinhalb Dimensionen
Sieht man die Inszenierung, die 2012 in Berlin Premiere feierte und seitdem regelmäßig ausverkauft ist, versteht man ihren Erfolg sofort: Die britische Performancegruppe ›1927‹ lässt die Sänger vor einer Leinwand agieren, auf der ein wahres Feuerwerk von Animationen stattfindet. Wie die Sänger da zwischen Drachen, Raketen, Blütenkelchen und bestrapsten rosa Elefantinnen lieben, leiden, herumalbern, ist ein einziges Aha-Spektakel. Da merkt man kaum, dass es sich auch um eine raffiniert verkappte Form von Rampensingen handelt. Es wirkt, als wären die Darsteller, gestylt wie Stummfilmgrößen von Buster Keaton bis Louise Brooks, eben aus der Leinwand herausgestiegen. Kurios, dass in Zeiten, da der Film sich längst in Dreidimensionalität versucht, die gute alte Oper durch Reduktion auf Zwei- oder eher Zweieinhalbdimensionalität einen Volltreffer landet.
Dass die konsensfähige Inszenierung, räumlich und mehr noch gedanklich, keine wirkliche Tiefendimension hat, spürt man beim zweiten und dritten Sehen, wenn der Aha-Effekt weg ist: Dann gibt es kaum Neues mehr zu entdecken, keine überraschenden Details oder erhellenden Verbindungen. Aber das steht dem weltweiten Erfolg nicht entgegen, vielleicht im Gegenteil.
Unmittelbar nach der Premiere trudelten die ersten Anfragen nach Aufführungslizenzen und Gastspielen ein. Mittlerweile ist diese Zauberflöte eine bestrapste rosa Elefantin, die Dukaten regnen lässt. Über finanzielle Details schweigt die Komische Oper sich geflissentlich aus. Von »Rücklagen« ist die Rede, vom »Gesamtbild«, das man sehen müsse.

Und es ist ja auch so: Während die Zauberflöte in Moskau weilt, stemmt das Haus in Berlin eine so gewichtige Premiere wie Aribert Reimanns Medea. Ein meisterliches Ungetüm, das jedes Opernhaus ziert, aber, so bedauerlich das ist, gewiss tiefe Schneisen in Zuschauerauslastung und Haushaltsbilanz hinterlässt. Die Querfinanzierung des Schwergängigen durchs Eingängige ist ja keine Finanzkriminalität, sondern kluge Programmpolitik. Je Mozart, desto Reimann.
Und so war die Zauberflöte mittlerweile in Mannheim und St. Pölten zu sehen, in Edinburgh und Barcelona, Shanghai und Guangzhou. Weitere Tourneen nach China und Japan, Paris und Cincinatti stehen bevor.
Um die Gastspiele zu erleichtern, existieren drei komplette Ausstattungs-Sets: zwei lagern in Mecklenburg-Vorpommern, eins wurde nach Helsinki verkauft. Wobei das Bühnenbild bloß aus einer großen weißen Wand mit mehreren Türen besteht, die Kulissen passen ja auf einen USB-Stick. Sicher erleichtert das Vermarktung und Vertrieb, und so spielen Vermietung und Lizenzvergabe eine immer größere Rolle: nicht nur nach Helsinki (wo in Landessprache gesungen wird), sondern auch nach Düsseldorf, Los Angeles und Minneapolis, Warschau und Madrid.
Das ist die Logik von Musicalproduktionen, wie sie sich in der Opernwelt ausbreitet: nicht in musikalischer Hinsicht allerdings, nur in ökonomischer.
Keine Staatsaffäre
In Moskau greift ein Rädchen sofort ins andere, das Team hat mittlerweile Gastspielroutine. Anreise am Montag, Generalprobe am Dienstag, drei Aufführungen von Mittwoch bis Freitag. Man kann sich vorstellen, wie den Orchestermusikern das Stück zum Hals heraushängt oder dem jungen Tenor Adrian Strooper sein schon siebzigmal gesungener Tamino.
Zugleich das Glück, wenn’s nach Flughafentransfer, Botschaftsempfang, Pressekonferenz wieder der Kunst gilt.
Die Zusammenarbeit zwischen den Technikern, die je zur Hälfte aus Berlin und vom Bolschoi stammen, scheint reibungslos zu funktionieren. In den chinesischen Mehrzwecktheatern, wo es keine Maskenbildner im europäischen Sinn gibt, mag das anders gewesen sein. Die Turbo-Ausbildung einheimischer Aushilfskräfte sei dort an ihre Grenzen gestoßen, erzählt eine Berliner Mitarbeiterin, allein schon weil europäische Gesichter nun einmal anders zu schminken seien als chinesische.
Auch im Orchester sind einige Ersatzkräfte dabei, die Herausforderungen der Berliner Medea lassen grüßen. Alle wichtigen Rollen sind doppelt besetzt. Nur eine unsichtbare Hauptfigur ist einzigartig, vielleicht die entscheidende: die Video-Inspizientin. Das ist eine Musikstudentin, die die Partitur der Zauberflöte mitliest und an der richtigen Stelle klicken muss, um den Animationszauber in Gang zu halten. Zweitausendmal an einem Abend. Nur selten, etwa im Marsch der Priester, muss der Dirigent Gabriel Feltz sich nach den von den Animationen vorgegebenen Tempi richten. Sonst folgen die Klicks seiner musikalischen Interpretation. So können die Verantwortlichen nur zum Heiligen Seraphim von Sarow beten, dass die Inspizientin nicht vom Magen-Darm-Virus befallen wird, wie es in den kommenden Tagen mehreren Orchestermitgliedern geschehen wird.

Die 2002 in Betrieb genommene Neue Bühne, auf der das Tschechow-Festival seine Eröffnung feiert, liegt auf einem kleinen Hügel neben dem historischen Bolschoi-Theater, vor dem Ende Mai noch die Kirschen blühen und der Flieder duftet. Eine Ecke weiter stößt man, heimatliche Gefühle für einen Berliner, auf einen Доиер –Laden; gegenüber liegt ein weiteres Theater, in dem Anna Karenina – The Musical angepriesen wird: based on Leo Tolstoy’s breathtaking masterpiece.
Der Saal selbst, frei historisierend ausgestattet wie das ganze neue Haus, hat ähnliche Dimensionen wie die Komische Oper. Ist auch das Moskauer Publikum emotional ähnlich dimensioniert?
Ein Besuch des Boris Godunow, der parallel zur Zauberflöte im Stammhaus des Bolschoi läuft, könnte erhebliche Bedenken wecken: Ganz ohne Knutenzwang bejubeln dort einheimische Opernfreunde und Touristen vom Parkett bis zum vierten Balkon die opulent ausgestattete Inszenierung von 1948, für die traditionell gar kein Ausdruck ist. Zugleich stehen dem Berliner Konzertgänger, dem Hörstörungen ja keineswegs fremd sind, die Haare zu Berge, wie hier von Jung und Alt in die Musik hineingeplaudert und geklatscht wird. Angeregte Gespräche sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel.
Keine Spur davon bei der Zauberflöte. Ob der Unterschied der Inszenierung oder dem ganz anderen Zuschnitt der Besucher geschuldet ist, sei dahingestellt. Schon am Eröffnungsabend, erst recht dann bei den Folgeaufführungen ist das Publikum sympathisch bunt gemischt. Da treffen der schluffige Teenager im Baumfällerhemd auf den Typus juwelenbehangene Großfürstin, die noch Schaljapin persönlich gehört haben könnte; T-Shirt und Chucks auf waffenscheinpflichtige High Heels; schwindelerregende Dekolleté-Abgründe auf muslimische Kopftücher. Insgesamt ist die Klunkerdichte überraschend niedrig, auch die akkreditierten und offiziellen Festivalgäste bestimmen nicht das Bild. Dafür mancher Student, manches Kind. In der Pause trinkt man nicht Prosecco, sondern Cognac.
Das Publikum ist hochkonzentriert und sehr amüsiert bei der Sache; am zweiten Abend scheint es noch relaxter und geht stärker mit als am ersten. Es bringt eine Menge Schwung in die Angelegenheit, dass die Inszenierung die albernen, ausufernden Sprechdialoge der Zauberflöte durch Klavier-Intermezzi mit Stummfilm-Zwischentiteln ersetzt. Verblüffend für den deutschen Besucher ist nur, dass die Zuhörer am Schluss umgehend in kollektives rhythmisches Klatschen verfallen. Da wittert er, ungerecht sicher, gleich den alten Sowjet-Adam.

Wahrhaft elektrisiert ist das Publikum am ersten Abend, als nach Papagenos gerade so verhindertem Selbstmord eine übersehene Cartoon-Bombe explodiert ist und die ganze Bühne unter echten Qualm gesetzt hat (eine Szene, die es um ein Haar nicht hätte geben dürfen, denn, so stellte sich während der Proben heraus, ein neuer Bühnenteppich entsprach nicht den russischen Brandschutzbestimmungen). So aber können Papageno und Papagena, zerrupft und verrußt, aus dem Rauch auftauchen und zaghaft ihr Duett anstimmen: Pa … pa … pa … pa-pa …
Da gibt es den spontansten und größten Szenenapplaus.
Denn es ist wohl eben das, worauf es ankommt, hier in Moskau und hier im globalen Welttheater: wieder aufstehen und von der Liebe singen, nachdem man eben in die Luft geflogen ist. Eine universelle Erfahrung. Und eine sehr persönliche. Musik ist die Macht, die die Innerlichkeit schützt. Und ein Gastspiel ist keine Staatsaffäre. ¶