Zu Beginn von Ingmar Bergmans Film Szenen einer Ehe lernen wir Marianne und Johan kennen, die als Muster-Ehepaar für die Homestory einer Zeitschrift interviewt werden. »Glaubst Du wirklich, dass zwei Menschen ihr ganzes Leben zusammenbleiben können?«, fragt Marianne in einer der nächsten Szenen ihren Mann. 
»Das ist so eine absurde Konvention, die wir ich weiß nicht woher geerbt haben«, antwortet Johan. »Die Menschen sollten einen Fünfjahresvertrag abschließen, oder einen, der jährlich erneuert werden muss, damit sie kündigen können.« 
»Sollte wir nicht auch so einen entwerfen?«
»Nein, du und ich nicht.«.
»Aber warum wir nicht?«
»Wir sind die Ausnahme, die die Regel bestätigt.« 
»Dann glaubst Du also, dass wir unser ganzes Leben lang zusammenbleiben werden?« 
»Was für eine komische Frage.« 

Im Jahr 2000 wurde Daniel Barenboim von der Staatskapelle Berlin, dem Orchester der Staatsoper Berlin, wo Barenboim bereits seit 1992 Generalmusikdirektor ist, zum Chefdirigenten auf Lebenszeit gewählt. Es war eine Entscheidung, die wie eine Garantie auf goldene Zeiten schien, künstlerisch wie finanziell. Bei Vertragsverhandlungen schlug Barenboim für seine Musiker:innen regelmäßig mehr Geld raus, so wie 2000, als er für die Staatskapelle im Berliner Opernstreit die sogenannte »Kanzlerzulage«, jährlich 1,8 Millionen Euro aus Bundesmitteln, einwarb. Dazu kommen seit 2018 1,2 Millionen Euro im Jahr aus dem Hauptstadtfinanzierungsvertrag. Seine Absicht, die Staatskapelle wieder zu einem der bestbezahlten Orchester Deutschlands zu machen, hat Barenboim damit erfüllt. Musikalisch bewahrte er den dunklen Klang der Kapelle, machte ihn aber gleichzeitig agiler und erweiterte zumindest anfänglich das Repertoire. Regelmäßige Tourneen und Residenzen in den internationalen Musikzentren mehrten das Renommee des Orchesters und erwarben ihm den Ruf eines nationalen Kulturleuchtturms. Die Gastspiele mit Barenboim am Pult sind stets ausverkauft. Als Barenboim 2000 seinen Verbleib in Berlin ankündigte, schrieb die Berliner B.Z.: »Gestern fiel das schönste Ja in Berlin.« Der österreichische Standard titelte über ein Konzert der Staatskapelle im Wiener Musikverein Ende letzten Jahres: »Herrliche Szenen einer Orchesterehe«. 

Der Bund auf Lebenszeit droht zur Hypothek zu werden.

»Alle Leute sagten, wir wären das ideale Ehepaar«, erzählt Johan der Journalistin in Szenen einer Ehe. »Wir sind geradezu unanständig erfolgreich.« Tatsächlich steht die Ehe zwischen ihm und Marianne kurz vor dem Kollaps. Auch in der Beziehung zwischen einem Orchester und seinem Chefdirigenten lässt sich eine abhanden gekommene Liebe lange hinter der Fassade des repräsentativen Auftritts verstecken. Im Falle von Barenboim und der Staatskapelle wurden erste Risse im Februar 2019 sichtbar, als aktuelle und ehemalige Musiker:innen und Mitarbeiter:innen der Staatsoper Barenboim in VAN grenzüberschreitendes Verhalten, systematische Demütigungen und ein Klima der Angst vorwarfen. In den letzten drei Jahren haben sich diese Risse immer mehr zu Gräben vertieft. VAN hat in den vergangenen Monaten vertrauliche Dokumente und Mailwechsel ausgewertet, mit Musiker:innen der Staatskapelle und Menschen, die mit den Prozessen im Haus vertraut sind, gesprochen. Daraus wird deutlich, wie gespalten das Orchester und wie angespannt die Beziehung zu seinem Chefdirigenten ist. Barenboims Interessen und die der Staatskapelle waren jahrzehntelang deckungsgleich. Nun droht der Bund auf Lebenszeit zur Hypothek zu werden. Das Dramadreieck wird komplettiert von einer Kulturpolitik, die es in der Causa Barenboim verpasst hat, das immer fragiler werdende Beziehungsgeflecht an der Staatsoper rechtzeitig zu stabilisieren.

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Nach Bekanntwerden der Vorwürfe im Februar 2019 richtete der Berliner Senat noch im selben Monat eine Beschwerdestelle an der Staatsoper ein, die von der Berliner »Kanzlei für Verhandlung und Mediation« betreut wurde. Nach VAN-Informationen meldeten sich bei dieser innerhalb von drei Wochen 43 aktuelle und ehemalige Musiker:innen und Mitarbeiter:innen, mit denen die Mediator:innen Constantin Olbrisch und Eva Eschenbruch leitfadengestützte Interviews durchführten. Die Ergebnisse wurden in einem Lagebericht zusammengefasst und sowohl der Leitung des Hauses als auch dem Berliner Kultursenator Klaus Lederer (Die Linke) vorgestellt. Mitarbeiter:innen konnten damals eine Kurzversion einsehen. 

Die Mediator:innen Olbrisch und Eschenbruch bestätigen in ihrer Bestandsaufnahme, dass die Situation im Frühling 2019 von den Mitarbeiter:innen als »überwiegend belastend« empfunden wurde. Wie in VAN ist im Bericht von einer »Stimmung des Misstrauens« und einer »Atmosphäre der Angst« die Rede und dem starken Bedürfnis nach einer Verbesserung der Zusammenarbeit mit Barenboim und des Umgangs miteinander. Diese Schlussfolgerungen widersprechen Äußerungen Barenboims, wonach es sich bei den Vorwürfen gegen ihn um eine orchestrierte Kampagne handle, die seine Vertragsverlängerung in Berlin verhindern sollte. So bezeichnete er die Kritik an ihm im Juli 2020 in der B.Z. als »Monument der Unwahrheit«: »Es gab keine Querelen in der Staatskapelle. Sprechen Sie mit den Journalisten, woher sie die Informationen haben.« In einem anderen Interview meinte er im Januar 2022, die Diskussion sei »nicht der Rede wert«. In einer Stellungnahme gegenüber VAN spricht Barenboim nun davon, dass die »in Gang gesetzten hausinternen Prozesse des Orchesterdialogs schon vieles auf einen guten Weg gebracht haben. Das gemeinsam entwickelte Verständnis sowie die dabei definierten Regeln der Zusammenarbeit stellen einen großen Schritt zu einem offenen und transparenten Miteinander dar, an dem ich mit Freude teilnehme.« Unsere Fragen zu Inhalten dieses Artikels ließ Barenboim indes unbeantwortet. Er sehe keine Notwendigkeit, »interne Vorgänge medial begleiten zu lassen, nicht zuletzt zum Schutze aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hauses.«

»Ich bin für Sie da, wir kümmern uns um die Zukunft.«

Trotz der Vorwürfe wurde am 4. Juni 2019 im neobarocken Apollo-Saal der Berliner Staatsoper die vorzeitige Verlängerung von Daniel Barenboims Vertrag als Generalmusikdirektor bis 2027 verkündet. Auf die Frage nach den Ergebnissen der Beschwerdestelle antwortete Kultursenator Lederer damals, dass keiner der gemeldeten Vorfälle »rechtlich relevant« gewesen sei: eine Sprachregelung, die in der Folgezeit etwa als Reaktion auf den Vorwurf des übergriffigen Verhaltens gegenüber der ehemaligen Orchestermanagerin Laura Eisen auch vom Haus und von Intendant Matthias Schulz übernommen wurde. In der an die Pressekonferenz zur Vertragsverlängerung anschließenden Orchesterversammlung sicherte Lederer den Musiker:innen zu, sich ab sofort persönlich zu kümmern. »Er meinte, dass man zwar verlängert habe, aber von nun an alles besser werde: ›Ich bin für Sie da, wir kümmern uns um die Zukunft‹«, berichtet ein Staatskapellen-Musiker, der an der Versammlung teilnahm.

Der Abschlussbericht zum Orchesterdialog soll ernüchtert bilanziert haben, dass Barenboim sich dem Dialogprozess verweigert habe.

»Es war gut, dass die Diskussion auch öffentlich geführt wurde, es dann aber erstmal zur Ruhe kam, damit sich intern etwas entwickeln konnte«, so ein anderer Staatskapellen-Musiker gegenüber VAN. In einer von Matthias Schulz, Daniel Barenboim und dem Staatsopern-Geschäftsführer Ronny Unganz unterzeichneten Mail an die Mitarbeiter:innen vom 28. Februar 2019, die VAN vorliegt, heißt es, man wolle die gewonnen Erkenntnisse der von Olbrisch und Eschenbruch durchgeführten Untersuchung nutzen, »um zusätzliche Impulse für ein angenehmes Arbeitsklima und kollegiales Miteinander zu setzen«. Tatsächlich startete im Juni 2019 unter der Leitung der Mediator:innen ein Staatskapellen-interner Dialogprozess. Auf einem Auftaktworkshop wurden Themenfelder bestimmt, die in den folgenden Monaten in sogenannten »Dialogworkshops« diskutiert wurden. An diesen nahmen zwischen Juni 2019 und Mai 2020 etwa 70 Musiker:innen teil, viele kontinuierlich. »Die meisten Teilnehmer:innen hatten die Workshops zu den Themen ›Umgang miteinander und dem Generalmusikdirektor‹ und ›Gastdirigenten und Nachfolge des Generalmusikdirektors‹«, erinnert sich ein Orchestermusiker. »Da gab es den größten Leidensdruck und Handlungsbedarf.« Um die in den Workshops erarbeiteten Vorschläge im Haus zu verankern, wurde eine Steuerungsrunde etabliert, an der neben dem Orchestervorstand, drei weiteren Orchestervertretern und dem Mediator:innenteam auch Orchesterdirektorin Annekatrin Fojuth, Intendant Schulz und Geschäftsführer Unganz teilnahmen. 

Obwohl 2019 vereinbart worden war, Barenboim in die Steuerungsrunde einzubinden, nahm der Generalmusikdirektor nur an einem der Treffen der Runde teil, im September 2020. Dort soll er geäußert haben, für den extern moderierten Dialogprozess nicht zur Verfügung zu stehen, wie es aus Orchesterkreisen heißt. Gegen die Ansicht der anwesenden Orchestervertrer:innen habe er darauf beharrt, dass es sich bei den publik gewordenen Vorwürfen um unbegründete Angriffe gegen seine Person gehandelt habe. Auf eine Diskussion von Wünschen und Verbesserungsvorschlägen vonseiten des Orchesters soll er sich nicht eingelassen haben. Stattdessen habe er das Treffen vorzeitig verärgert verlassen und dabei die Absicht geäußert, die Zusammenarbeit mit der Staatsoper zu beenden. 

Auch der Abschlussbericht zum Orchesterdialog, den Olbrisch und Eschenbruch Anfang 2021 vorlegten und über den das Orchester informiert wurde, soll ernüchtert bilanziert haben, dass Barenboim sich dem Dialogprozess verweigert habe. Gleichzeitig sei die Weiterführung einer externen Begleitung empfohlen worden, um die noch fragile Situation zu stabilisieren. Sowohl der Leitung der Staatsoper als auch Kultursenator Lederer liegt der Bericht vor. Auf die Nachfrage von VAN, warum es trotz der Empfehlung der Mediator:innen bis heute keine weitere externe Beratung gegeben hat, ließ Lederer mitteilen, der an der Staatsoper eingeleitete und begonnene Prozess, unterstützt durch Stiftungsrat und Stiftungsratsvorsitzenden, habe konkrete Ergebnisse, werde evaluiert »und geht auch weiter«. »Maßnahmen an unseren Kultureinrichtungen, die Machtgebrauch reflektieren« begrüße er grundsätzlich.

Barenboim selbst soll starke Vorbehalte gegen die Einbindung Externer gehabt haben. So soll er mehrmals vorgeschlagen haben, den Dialogprozess ohne die Moderator:innen fortzusetzen. »Auch im Orchester gab es von Anfang an Kolleg:innen, die diesem Prozess kritisch gegenüber standen«, so eine Staatskapellen-Musikerin. Es sei von einigen Stimmung gegen die externen Mediator:innen gemacht worden, so ein anderer. Diese seien eigentlich nur beauftragt worden, um Barenboim »wegzumobben« – ein Beispiel für die Polarisierung innerhalb des Orchesters, die in den letzten Jahren zugenommen hat. Auf der einen Seite stehen jene Musiker:innen, die aus dem Schatten ihres überlebensgroßen Chefdirigenten treten wollen. Dabei geht es auch um eine größere Mitsprache bei künstlerischen Entscheidungen, die wiederum selten ohne Konfrontation mit dem bisher weitgehend alleinherrschenden Barenboim möglich ist. Dieser Gruppe stehen jene Staatskapellen-Mitglieder gegenüber, die sich angesichts von Barenboims Verdiensten um das Orchester zur Loyalität verpflichtet fühlen und den Burgfrieden wahren wollen. Mails im Orchesterverteiler machen die Runde, in denen beide Seiten sich jeweils vorwerfen, das Orchester zu spalten, hinter dem Rücken anderer Intrigen zu spinnen und nicht im Sinne der Allgemeinheit zu handeln. 

»Es gibt eine Fraktion im Orchester, die sich nur damit beschäftigt, wie man unserem neuen Vorstand ›ein Bein stellen‹ könnte.« 

Der Riss zeigt sich auch in der Beziehung zwischen Barenboim und dem aktuellen fünfköpfigen Orchestervorstand, der seit dem 18. November 2020 im Amt ist. Der alte Orchestervorstand hatte sich in der Debatte um Barenboims Führungsverhalten im Februar 2019 schnell hinter seinen Chefdirigenten gestellt. »Mit ihrem Generalmusikdirektor feiert die Staatskapelle durch gegenseitiges Vertrauen und in enger Zusammenarbeit regelmäßig große künstlerische Erfolge. Dieses Vertrauen bleibt gerade auch jetzt unangetastet«, hieß es damals in einer öffentlichen Stellungnahme. Der aktuelle Vorstand setzt sich hingegen kritisch mit Barenboims Verhalten, dem Machtgefälle und Abhängigkeitsverhältnis des Orchesters zu seinem Chefdirigenten auseinander. Als Pianist, Autor, Politiker, Musikvermittler und Lehrer war Barenboim immer mehr als die Staatskapelle, aber die Staatskapelle in den letzten 30 Jahre vor allem Daniel Barenboim. »Der Vorstand möchte jetzt darauf hinwirken, dass das Orchester auch unabhängig von Barenboim existieren und Entscheidungen treffen kann«, so eine Musikerin. Während die Mehrheit des Orchesters hinter dem gewählten Vorstand stehen soll, werfen ihm einige vor, ein »Abrisskommando« zu sein und Barenboim diskreditieren zu wollen, statt Brücken zu bauen. »Könnt ihr bitte den Vorstand in Ruhe seine Arbeit machen lassen?«, schreibt diesbezüglich eine Musikerin im März 2021 im Anschluss an eine Orchesterversammlung an den Verteiler. »Es gibt eine Fraktion im Orchester, die sich nur damit beschäftigt, wie man unserem neuen Vorstand ›ein Bein stellen‹ könnte.« 

Wie zerrüttet mittlerweile die Beziehungen sind, zeigen die Vorkommnisse rund um ein Treffen im März 2021 in der Berliner Kulturverwaltung, zu dem Kultursenator Lederer den Orchestervorstand und Staatsopern-Intendant Schulz eingeladen hatte. Lederer wollte über den Abschluss des Dialogs und die aktuellen Entwicklungen informiert werden. Auf seine Bitte hin verfasste der Orchestervorstand eine schriftliche Stellungnahme, in der er unter anderem die mangelnde Kompromissbereitschaft von Seiten Barenboims kritisierte und ihm vorwarf, getroffene Vereinbarungen hinsichtlich der Mitsprache des Orchesters nicht einzuhalten. Dabei ging es insbesondere um die Einladung von Gastdirigent:innen. Da die Staatskapelle neben den Opernverpflichtungen nur wenige Abonnementkonzerte pro Saison spielt, ist es für das Orchester wichtig, für diese auch jüngere Gastdirigent:innen einzuladen, die perspektivisch für Barenboims Nachfolge in Frage kommen. (Das Durchschnittsalter der Dirigenten der acht Abokonzerte in der Spielzeit 2021/22 beträgt 77,5 Jahre.) 

Drei Wochen später, am 3. April 2021, schreibt Daniel Barenboim daraufhin eine Mail an das gesamte Orchester, die VAN vorliegt. Darin zeigt er sich irritiert darüber, dass er zum Treffen bei Lederer weder eingeladen, noch nachträglich von Intendant oder Orchestervorstand über dessen Inhalt informiert worden sei. Auch die schriftliche Stellungnahme sei ihm nicht zugesandt worden. »Viele der darin vom Orchestervorstand geäußerten Unterstellungen sind schlicht und einfach falsch«, schreibt Barenboim. Das gelte zum Beispiel für die ihm vorgeworfene mangelnde Kompromissbereitschaft. »Das alles ist für mich nun Ausdruck eines gestörten Vertrauensverhältnisses zum Vorstand.« Er wolle deshalb Gespräche nur noch direkt mit einzelnen Musikern oder dem gesamten Orchester führen. 

Die fünf Vorstandsmitglieder seien die gewählte Vertretung des Orchesters und in dieser Position sein erster Ansprechpartner, schrieb daraufhin ein Orchestermitglied in einer Antwortmail. »Es wäre sehr irritierend, würden Sie stattdessen lieber mit ungewählten oder inzwischen abgewählten Mitgliedern der Staatskapelle wichtige Gespräche führen.« Vertrauensprobleme seien, so heißt es weiter in der Mail, im Übrigen nicht verwunderlich angesichts eines »leider bestätigten körperlichen und verbalen Angriffs auf ein Mitglied des Orchesters, der mich zutiefst bestürzt hat.« 

Der Musiker bezog sich auf einen angeblichen Vorfall von Anfang Dezember 2020. Barenboim soll damals in einer Probenpause ohne offensichtlichen Anlass auf eine Musikerin, die auch Mitglied des Orchestervorstands ist, bis auf einen kurzen Abstand zugegangen sein, sich die Maske abgenommen, sie festgehalten und über einen längeren Zeitraum aggressiv und lautstark auf sie eingeredet haben. Über den Vorwurf soll auch Kultursenator Klaus Lederer informiert worden sein. Intendant Schulz lud zu einem deeskalierenden Gespräch. Dass Barenboim sich nach Auskunft von Orchestermusiker:innen gegenüber einzelnen Mitarbeiter:innen und Musiker:innen nach wie vor bisweilen grenzüberschreitend verhält – in einem anderen Fall soll er im Herbst 2020 einer Mitarbeiterin des Hauses die Maske vom Gesicht gerissen haben –  trägt zur angespannten Stimmung im Orchester bei. Auf unsere Anfrage hierzu ließ Lederer mitteilen, dass er als Stiftungsratsvorsitzender der Stiftung Oper in Berlin durch den Intendanten der Staatsoper über zwei Vorfälle in der zweiten Jahreshälfte 2020 und den Umgang der Staatsoper damit zeitnah informiert worden sei.

Manch einem wird bewusst, dass man die Strukturen, über die man sich beschwert, lange auch selbst getragen hat.

»Vor dem Orchester ist er im Moment wie ein Lamm. Sobald er sich sicher fühlt, geht es wieder los. Er muss seinen Druck ablassen«, so ein Musiker. Anders als noch vor Jahren werden solche Vorkommnisse nun allerdings nicht mehr unter den Teppich gekehrt. Das Orchester hat sich im Rahmen der öffentlichen Diskussion und der internen Mediation zunehmend aus der erlernten Opferrolle emanzipiert. Manch einem wird bewusst, dass man die Strukturen, über die man sich beschwert, lange auch selbst getragen hat. Das betrifft sowohl das Verhalten Barenboims als auch die Gestaltung der eigenen Zukunft. »Es gab über viele Jahrzehnte die Kultur, dass Entscheidungen, die von oben kommen, nicht hinterfragt werden«, so ein Musiker. »Jetzt wollen wir mehr auf Augenhöhe agieren.« Ausdruck dieses neuen Selbstverständnisses sind die internen Vereinbarungen, die als Resultat des Dialogprozesses verabschiedet wurden und VAN vorliegen. Darin heißt es, dass die Staatskapelle »bei der Einladung von Gastdirigenten, der Auswahl des Generalmusikdirektors und der Programmplanung ihre Ideen und Ansichten einbringt, Einfluss nimmt und in die Entscheidung einbezogen ist.«

Intendant Matthias Schulz hatte sich in der Debatte um seinen Generalmusikdirektor öffentlich stets hinter Barenboim gestellt. Vor der Veröffentlichung der Vorwürfe hatte er am 6. Februar 2019 auf eine VAN-Anfrage geantwortet, dass »problematisches Verhalten durch Daniel Barenboim, der Höchstleistungen erbringt, zu keinem Zeitpunkt bekannt geworden ist«. Er habe Barenboim damals gerettet, so ein Staatsopern-Mitarbeiter. Schulz galt im Haus lange als zu blass und führungsschwach. In den letzten Jahren ist er aber intern immer mehr in die Rolle des Konfliktmanagers hineingewachsen. Er hat versucht, den Dialogprozess in Gang zu halten, Brücken zu bauen und dem Orchester frühzeitig mehr Mitspracherecht einzuräumen. Die Beziehung zu seinem Generalmusikdirektor soll dies zunehmend belastet haben. Nominell ist Schulz Barenboims Vorgesetzter, de facto ist jeder Intendant an der Staatsoper immer nur einer vor Barenboims Gnaden. »Man muss schon sehr hartgesotten sein, um hier als Intendant neben Barenboim zu überleben«, so ein Musiker. Aus Orchesterkreisen heißt es, Barenboim habe im Juni 2020 bei einem Treffen mit Kultursenator Lederer gefordert, den 2022 auslaufenden Vertrag mit Intendant Schulz nicht zu fortzuführen. Lederer wollte diese Darstellung auf Anfrage unter Verweis auf »Personaleinzelangelegenheiten innerhalb der Stiftung Oper in Berlin« nicht kommentieren. Er verlängerte zwar trotzdem, allerdings nicht wie angeblich ursprünglich geplant um fünf, sondern lediglich um zwei Jahre, bis 2024. Auch hierzu wollte sich Lederer uns gegenüber nicht äußern. 

Anfang Dezember 2021 wurde verkündet, dass der 44-jährige Schulz zur Saison 2025/26 ans Opernhaus Zürich wechselt. Damit ist er der fünfte Intendant, der das Haus während Barenboims Amtszeit verlässt.


»Das Haus braucht ein Gegengewicht zu Barenboim.«

Beim Streit um die Staatsoper geht es um mehr als die Person Barenboim. Es geht um die Reform einer Institution, die jahrzehntelang von einem autokratischen Führungsstil geprägt wurde. Dabei hat sich ein System ausgebildet, das von der Unberechenbarkeit eines Patriarchen strukturiert wird und bei vielen eine Haltung des Zuschauens und der inneren Emigration verstärkt hat. Für den begonnenen Kulturwandel ist der Weggang von Schulz und die Leerstelle, die er hinterlässt, ein Rückschlag. »Das Haus braucht ein Gegengewicht zu Barenboim«, so ein Musiker. Jetzt sei die Gefahr groß, dass alles beim Alten bleibt. »Ein Intendant geht mal wieder und Barenboim macht weiter wie zuvor.« Auch die künstlerische Zukunft der Staatsoper und seines Klangkörpers ist jetzt noch volatiler geworden, mit einem Intendanten auf dem Absprung und einem Generalmusikdirektor, der sich schwer damit damit tut, den Weg für seine Nachfolge frei zu machen. Barenboim spricht oft davon, sofort aufzuhören, wenn seine Kräfte nachließen oder man ihn nicht mehr als Chefdirigenten wolle. »Aber das ist doch Wahnsinn, es muss doch einen Übergang geben«, so ein Musiker. Tatsächlich ist das Zeitfenster für Weichenstellungen nicht sehr groß. Barenboims Vertrag läuft 2027 aus, er ist dann 85. In einem Betrieb, der mehrere Jahre im Voraus plant, müsste spätestens 2025 ein:e Nachfolger:in benannt werden. Die Lage ist umso dringlicher, als dass Barenboim mit der Fülle seiner Aufgaben und Konzertverpflichtungen immer öfter physisch an seine Grenzen zu stoßen scheint und Engagements absagen muss. 

Auch die neue Intendanz muss bald installiert werden, um den schwierigen Übergang in die Post-Barenboim-Ära zu gestalten und nach der baulichen auch die künstlerische Sanierung der Oper einzuleiten. Der oder die Intendant:in müsste willens sein, auch eine Konfrontation mit Barenboim durchzustehen. In der Staatsoper befürchten jedoch einige, Barenboim könne bei der Kulturverwaltung eine Person seiner Wahl in Stellung bringen. Die Namen Elisabeth Sobotka, die noch bis 2024 Intendantin der Bregenzer Festspiele ist und bereits von 2002 bis Ende 2007 Operndirektorin der Staatsoper war, und Rolando Villazón, dessen Vertrag als Künstlerischer Leiter bei der Mozartwoche in Salzburg 2023 ausläuft und der Barenboim schon 2019 in einem flammenden Gastbeitrag in der FAZ gegen die Machtmissbrauchsvorwürfe verteidigt hatte, machen im Haus die Runde. Sobotka soll schon vor zwei Jahren bei einem Treffen in der Kulturverwaltung von einer Staatsopern-Delegation gegen Matthias Schulz in Position gebracht worden sein. Die Sorge, dass nun von Barenboim vorschnell Nägel mit Köpfen gemacht werden, wird dadurch genährt, dass ihm in dem von seinem Anwalt Gregor Gysi verhandelten Vertrag ein Vetorecht bei der Neubesetzung der Intendanz eingeräumt worden sein soll. 


Wer Barenboim und die Staatsoper kennt, den überraschen die Entwicklungen der letzten drei Jahre kaum. Die schiere Anzahl der Vorfälle, die durch die Beschwerdestelle Anfang 2019 bestätigt wurden, machte deutlich, wie groß der Leidensdruck auf Seiten der Mitarbeiter:innen bereits damals war. Sie mögen »rechtlich nicht relevant« gewesen sein, jedoch schwerwiegend genug, um ein Betriebsklima dauerhaft zu belasten. (Dass sich zudem in einer Organisation die Leitlinien für den Umgang miteinander nicht alleine am Strafrechtskatalog orientieren, machte auch Lederer am 12. Oktober 2018 in einem Schreiben an alle institutionell geförderten Kultureinrichtungen des Landes Berlin, also auch die Staatsoper, deutlich. Darin bittet er die verantwortlichen Führungskräfte, »die Verhinderung und Bekämpfung von Machtmissbrauch, Diskriminierung und sexueller Belästigung zu Ihrem Thema, ja zur Chefsache zu machen.«)

Schon zum Zeitpunkt der Vertragsverlängerung war absehbar, dass Daniel Barenboim sein Verhalten nicht kurzfristig würde ändern können. Dass er, der an der Staatsoper seit Jahrzehnten durchregiert, sich auf einen »Change Prozess« mit einer externen Beratungsagentur einlassen würde, konnte schon 2019 bezweifelt werden.

Das Vermächtnis von Barenboim ist so monumental geworden, dass er unantastbar scheint. Stattdessen wird stets auf Zeit gespielt. 

Dieses Jahr feiert Barenboim seinen 80. Geburtstag und sein 30-jähriges Jubiläum als Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper. Das wäre eine gute Gelegenheit gewesen, die Ära mit ihm zu feiern und gleichzeitig zu einem positiven Abschluss zu bringen. Zu diesem Schritt fehlte der Berliner Kulturverwaltung offensichtlich der Mut. Sie wirkt hinter der von Barenboim stets aufgebauten Drohkulisse, Berlin sofort zu verlassen, wie gelähmt. Das Vermächtnis von Barenboim ist so monumental geworden, dass er unantastbar scheint. Stattdessen wird stets auf Zeit gespielt. Dabei hat sich keine Seite mit der Vertragsverlängerung einen Gefallen getan: Kultursenator Lederer hat sich damit auch für die neue Legislaturperiode einen eingefrorenen Konflikt eingehandelt, in dem sich alle Seiten immer weiter ineinander verhakeln. Es ist der Boomerang-Effekt einer Berliner Kulturpolitik, die gerade im Bereich der »Hochkultur« vor allem den Status quo aufrecht erhalten möchte. Das ist auch deshalb nach hinten losgegangen, weil Daniel Barenboim selbst viel dafür tut, am eigenen Denkmal zu sägen. So besteht jetzt die Gefahr, dass die ruhmreiche Bilanz seiner Ära an der Staatsoper durch einen dissonanten Schlussakkord getrübt wird. 

In Szenen einer Ehe können sich Marianne und Johan nur durch eine Trennung voreinander retten. Nachdem sie sich geschieden und neue Partner:innen gefunden haben, treffen sie sich im Landhaus eines Freundes zu einem Stelldichein wieder. Dabei stellen sie fest, dass ihre Beziehung, unbelastet von erzwungener Dauerhaftigkeit, plötzlich wieder funktioniert. »Du bist irgendwie kleiner geworden«, sagt Marianne. 
»Du denkst wohl, ich sei geschrumpft?«, antwortet Johan.
»Nein, Du bist viel hübscher als früher, so sanft, gütig. Früher hattest Du immer so einen angespannten Blick.« ¶


Auf eine Anfrage von VAN an die Intendanz und Geschäftsführung der Staatsoper zu Inhalten dieses Artikels antwortete Intendant Matthias Schulz mit folgender Stellungnahme und bat darum, dass diese »im Falle einer Veröffentlichung auch tatsächlich erscheint und dass sie ungekürzt und unverändert zitiert wird«. Auch wenn wir hierzu nicht verpflichtet sind, kommen wir seinem Wunsch gern nach:
»Ich bitte um Verständnis, dass ich zu Personalvorgängen in meinem Haus öffentlich nicht Stellung nehmen kann. Das verbietet die Fürsorge für die betroffenen Personen und die Pflicht zur Verschwiegenheit gegenüber meinen Mitarbeiter:innen. Aggressives Verhalten wird keinesfalls akzeptiert. Es gibt jetzt klare Mechanismen, wie dem umfassend begegnet wird. Sie haben sich insofern an den Senator für kulturelle Angelegenheiten gewandt, mit dem ich in entscheidenden Vorgängen in engem Kontakt stehe. Er mag selbst entscheiden, inwieweit er auf Ihre Fragen eingeht. Gerne äußere ich mich dazu, warum wir nicht weiterführend eine externe Begleitung in Anspruch genommen haben. Wir haben durch intensive, mehrmonatige, zum Teil extern begleitete Gespräche mit allen Beteiligten die Situation an der Staatsoper umfassend in den Blick genommen und positive Veränderungen angestoßen. Die in Gang gesetzten hausinternen Prozesse des Orchesterdialogs haben bereits vieles auf einen guten Weg gebracht, der auch zu konkreten Zielen und Vereinbarungen (unter anderem zum Umgang mit Konflikten, zu mehr Teilhabe und Mitbestimmung) zwischen mir als Intendanten, dem Generalmusikdirektor, dem Geschäftsführenden Direktor und dem Orchestervorstand geführt hat. Dies bildet seitdem eine gute und stabile Basis der Zusammenarbeit für den weiteren Weg. Diesem muss jetzt die Chance gegeben werden, gemeinsam gelebt zu werden. Wir sind offen für weitere externe Beratung, falls der gemeinsam beschrittene Weg auf Schwierigkeiten stößt. An der Umsetzung arbeite ich, unterstützt vom neu gewählten Orchestervorstand und den Mitarbeiter:innen im Hause und in Zusammenarbeit mit dem Generalmusikdirektor.«
Dieser Stellungnahme schloss sich der Geschäftsführende Direktor der Staatsoper, Ronny Unganz, uns gegenüber an.

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com

... ist seit 2015 Redakteur bei VAN. Sein erstes Buch, The Life and Music of Gérard Grisey: Delirium and Form, erschien 2023. Seine Texte wurden in der New York Times und anderen Medien veröffentlicht.