Ein Regie-Trend der letzten Jahre in der Oper sind Überschreibungen: Auf die Theaterhandlung der Musik wird eine parallele, in sich schlüssige Handlung gelegt. Dieses Vorgehen löscht die Gestalt des Werks keineswegs aus (die Essenz eines großen Werks ist immer vielseitig), sondern kann sie neu beleuchten und intensivieren. Wenn das gelingt, kann es von erregender musikdramatischer Dringlichkeit sein. Bei den Bayreuther Festspielen seit 2019 – mittlerweile Hassobjekt der pauschalen Regieverächterszene – gibt es Paradebeispiele dafür, im Guten wie im Schlechten. Als Meisterwerk der Überschreibung leuchtet Tobias Kratzers Tannhäuser-Inszenierung hervor, in der der Titelheld als trauriger Revolutionsclown auftritt und die ein Feuerwerk an Geist, Timing und Komik ist. Als Debakel trotz fundierten Regisseurshandwerks muss dagegen die Familien- und Kinderschiebe-Ring-Saga von 2022 gelten, welche Valentin Schwarz überambitioniert aus Wagners Tetralogie zu basteln suchte, die ihm jedoch letztlich mimegleich zu einer Verschmiedung epischen Ausmaßes geriet. Dazwischen machte Dmitri Tcherniakov 2020 den Fliegenden Holländer zur Geschichte einer trotzigen, aufrührerischen Senta, die begeisternd Billie Eilish glich.

Von allen drei Beispielen nun hat die neue Rusalka an der Staatsoper Unter den Linden etwas. Nach dem ersten Akt hagelt es noch Wutbuhs, als wär’s der verzettelte Schwarz-Ring: Sie gelten vermutlich weder der Nixensängerin Christiane Karg noch dem Dirigenten Robin Ticciati, sondern dem Team um Regisseur Kornél Mundruczó, das Antonín Dvořáks Opernwelt in ein Berliner Mietshaus versetzt: Die Waldseewelt ist eine chaotische WG mit Badewanne und Wohnküche voller winkender Glückskatzen, die Menschenwelt ein Penthouse über den Dächern Berlins mit Designerlampen und einem Bild von Guido Westerwelles Lieblingsmaler Norbert Bisky an der Wand – eine Oberwelt in Berlin-Mitte, der es vor denen da unten und denen da draußen graust.

Christiane Karg (Rusalka), Pavel Černoch (Prinz), Adam Kutny (Heger), Clara Nadeshdin (Küchenjunge) und Ensemble • Foto © Gianmarco Bresadola

Die Kraft dieser neuen Rusalka ist jedoch bereits im ersten Akt spürbar, und sie wird sich in den beiden folgenden Akten eindrucksvoll entfalten, bis zu einem markerschütternden Finale im Horrorkeller des Hauses. Dabei wird von Anfang an plausibel, dass Dvořáks seltsames Werk Rusalka eines inszenatorischen Standpunkts bedarf, den dekorative Wald- und Schloss-Bühnen verweigern. Solche gedankenfreie Bühnenharmlosigkeit wäre bei der Rusalka nahezu obszön: Zu krass ist der Riss zwischen dem oberflächlichen Märchenton des Textes sowie der mitunter fast putzig folkloristischen Musik einerseits und der drastischen, von Gewalt und Grausamkeit berstenden Handlung andererseits. (Barrie Kosky fing sie in seiner Rusalka, einer seiner besten Arbeiten an der Komischen Oper, unvergessbar ein, indem er der Nixe grausig die Gräte ziehen und sie am Ende einen Angelhaken schlucken ließ.) Die Widersprüche des Werks springen einen ja sowieso an wie der grüne Wassermann den arglosen Angler mit Budweiserpulle: Jaroslav Kvapils Libretto basiert nicht auf einer praeter propter böhmischen Sage, sondern vor allem auf der Kleinen Meerjungfrau des dänischen Märchen- vulgo Horror-Autors Hans Christian Andersen. Und während Dvořák um 1900 all die schöne Musik für seine Zauberwelt komponierte, schaute er sich auf seinen frühmorgendlichen Spaziergängen gern Eisenbahnen und Dampflokomotiven an. Dazu kommen die vielen seltsamen Wagner-Bezüge, eher inhaltlich als musikalisch: Dvořáks simple Signalmotivik hat zwar wenig mit Wagners Leitmotivtechnik zu tun, aber schon die erste Rusalka-Szene mit der Verspottung des Wassermanns durch die drei jungschönen Elfen ist unübersehbar und zugleich merkwürdig ziellos eine Persiflage der ersten Rheingold-Szene.

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Der Dirigent Robin Ticciati trägt an der Staatsoper Unter den Linden diszipliniert das Seine zum verstörenden Kontrast bei, indem er die Staatskapelle warm und rosig glühen lässt. Den ambitionierten Überdruck, den er an Simon Rattle erinnernd manchmal bei »seinem« Deutschen Symphonieorchester erzeugt, nehme ich hier nicht wahr. Das Dirigat scheint im guten Sinn zurückhaltend; wenn es auch fatalistisch schnarren kann, so ist es doch vor allem klangschön, farbenreich, lyrisch. Das hat paradox harten Effekt, wenn Mundruzcós Inszenierung uns am Ende überraschend in die Tiefe weit unter Oberschicht-Dachgeschoss und lebensvoller WG führt: Rührselig tönen Flöten und Harfen im schaurigen Keller des Hauses, wo uns dann auch noch Christiane Kargs Sopran ganz zum Schluss die goldensten Höhen des Abends schenken wird.

Christiane Karg (Rusalka) und Pavel Černoch (Prinz) • Foto © Gianmarco Bresadola

Dabei hat sich Kargs Nixe da in etwas Entsetzliches verwandelt: ein vielleicht acht oder zehn Meter langes Mischwesen aus Kafka-Ungeziefer und Riesen-Aal-oder-Wurm, das sich nur unter größter Anstrengung auf Kargs ausgestreckten Armen fortbewegt – auch in athletischer Hinsicht eine bemerkenswerte Leistung der Sängerin! Bemerkenswert ist ebenso der Blick des ungarischen Regisseurs Kornél Mundruczó, der festgestellt hat, dass der Fokus der meisten Rusalka-Inszenierungen allein auf der ersten Verwandlung von Nixe zu Menschenfrau liege, während die zweite Verwandlung von gescheitertem Mensch in ein »Irrlicht« seltsam unterbeleuchtet bleibe. Hier ist nun die erste Verwandlung ein vergleichsweise geringes Umstyling aus Kleiderwechsel und Frisieren, dazu freilich auch fatalem Mundzukleben; die Nixe muss wie bei Andersen ihre Stimme hergeben, um Mensch zu werden. (Schwierig übrigens für eine Oper, wenn die Hauptfigur über eine relevante Passage keinen Mucks machen darf.) Die abscheuliche, durchaus eklige Metamorphose in den riesigen Ungeziefer-Aal-Wurm aber ist die zweite. Und die macht dann schrecklich plausibel, was zuvor noch wie unprägnante Wackligkeit und drohende Zerfransung der Handlungs-Assonanzen des Überschreibens wirkte, wenn herumfliegende Glibber-Aale oder Sushi-Mampfen in der Oberwelt scheinbar erratische Wasserwesen-in-der-Luft-Signale setzten.

Christiane Karg nun, und das ist das Wichtigste, gelingt es, beide Verwandlungen sängerisch wie darstellerisch mitreißend von den Konzeptbrettern ins Leben zu bringen. Manche Vokale, die sonst oft rund und offen tönen, bringt sie breit, ja schneidend, wie unter Zitteraal-Strom. Wunderbar sind die Linien von Kargs Gesang, aber eben nicht weich und geschmeidig. Das geht auf Kosten des gewohnten rührenden Sentiments in dem berühmten Lied an den Mond des ersten Akts. Aber der Gewinn aus diesem Verlust ist immens. Denn Karg gestaltet ihre Nixe agil, zornig, aufbegehrend gegen die vorgegebene Opferrolle. Ihre Rusalka ist eine psychische Grenzen überschreitende junge Frau, der Leid in unvorstellbarem Maß zustößt, konkreter: die von der Welt systematisch zerstört wird, wie es besonders sensiblen jungen Menschen in unserer Welt ergeht. Doch zugleich trägt sie ungeheure Kraft, Sehnsucht, Liebe in sich. Den höchsten Preis für ihre Lebendigkeit zahlt sie selbst, nach ihrer zweiten Metamorphose ist ihr trotzendes Dasein ein verzweifeltes letztes und wieder letztes Abstemmen mit den Armen vom Boden. Und eben das verwirklicht Karg auch sängerisch.

Christiane Karg (Rusalka) • Foto © Gianmarco Bresadola

Man konnte es schon am Anfang ahnen. Es erinnerte durchaus an Tcherniakovs Billie-Eilish-Senta, als Kargs Nixe zu Beginn als junge Frau in weiten Hosen und übergezogenem Kapuzenpulli durchs Treppenhaus in ihre WG hereinflockt: im verhüllten zierlichen Körper ein Vulkan, pure Lebensenergie, eine Verbindung aus absoluter Verletzbarkeit und Unerbittlichkeit, die die saturierte Erwachsenenwelt überfordert und erschreckt. Jene magisch-schauerliche Metamorphose des Jugendalters, von der man sich als ausgereifter und allmählich verreifender Erwachsener fragt, wie man sie nur heil überstehen konnte (oft hilft uns dabei nur Amnesie) – das ist die ideale Entsprechung der Nixensehnsucht, sich zu verwandeln. Statt zur Seelenbesitzerin zwingt die harte Welt die sich Verwandelnde in den Körper eines pechschwarzen Untergangswesens. Doch selbst hierin gibt Kargs Nixe ihren Widerstand nicht auf. Wenn sie sich im dritten Akt den Kopf kahlrasiert, ist das nicht nur Selbstverstümmelung (oder abgegriffene Operngeste), sondern auch eine selbstbestimmte Tat der Verweigerung. Und darin erinnert Kargs Rusalka nicht an Billie Eilish, sondern an die große, immer wieder zerstörte, selbstzerstörerische, unglückliche, aufrührerische Sinéad O’Connor.

Neben Kargs Nixe, die man als eine überraschende, doch glückende Besetzung betrachten kann, steht ein fast durchweg starkes Personal: Pavel Černoch ist ein Prinz von unaufdringlicher, kultivierter Qualität; mag die Höhe seines Tenors etwas eng und die Durchschlagskraft nicht die größte sein, ist er doch vorzüglich geführt. Und idiomatisch ist es natürlich schön, wenigstens einen Tschechen im Cast zu haben. Man hört das ja doch, auch als Sprachunkundiger. Mika Kares ist ein herrlich sonor-versoffener Wassermann. Und während mir Anna Samuil als fremde Fürstin mitunter zu flatterig ist, scheint mir der auch kontra-alt-fähige Mezzosopran von Anna Kissjudit sich in den letzten Jahren erstaunlich entwickelt zu haben: Ihre einstige Ring-Erda ist mir noch als sehr unbalanciert in Erinnerung, ihre Hexe (Ježibaba) in der Rusalka dagegenist ein auch technisch souveräner Knaller: Wie Kissjudit die sich herabbemühende Oberschichtler-Menschenwelt im dritten Akt an die Wand singt, ist ein Höhepunkt des Abends. Eines Abends, der einem musikalisch und emotional und bildlich mächtig an die Fischnieren geht. ¶

… lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Beethovn‹ (2020). Zuletzt erschien ›Silence‹. ✉️ KonzertgaengerBerlin@gmail.com

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