In Gefahr und höchster Not, bringt oft Operette Trost. Als am 14. April 1912 kurz vor Mitternacht die Titanic mit einem Eisberg kollidierte und in den Tiefen des Nordatlantiks verschwand, sollen die Musiker der Bordkapelle den Untergang mit Walzern, Foxtrotts und populären Melodien begleitet haben. Das kurze Glück vor dem nassen Tod: Im Tanzsalon des Luxusdampfers, ihrer Arbeitsstätte, hatte sich eine Luftblase gebildet, ein paar Stunden würde der Sauerstoffvorrat reichen. So machten sie einfach weiter, hielten den leichten Musen noch die Treue, als nachtschwarze Stille den Schiffskörper bereits umfing. Klammerten sich stoisch-verzweifelt an das Vertraute, an beschwingte Metren und wohlige Töne, um das unentrinnbar nahe Ende zu überspielen.

Havarien im Dreivierteltakt: Die Legende der Titanic-Kapelle enthält, wie jede fundierte Fantasie, einen wahren Kern. Seit Offenbach und Hervé Mitte des 19. Jahrhunderts die Operette erfanden, gedeiht sie vor allem in potenziell fatalen Endzeiten und Gefahrenzonen. Krisen und Katastrophen, so scheint es, liefern den Nährstoff, aus dem die Gattung ihre Kraft gewinnt. Je mehr die Welt knirscht oder kracht, desto besser fürs lakonisch spöttische, unterhaltsam zerstreuende Geschäft.

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Dass Jacques Offenbach auf dem morschen Hohlkreuz des Second Empire, dem er alles verdankte, zum König der Pariser Theater avancierte, ist gewiss kein Zufall. So wenig wie der Aufstieg der Wiener Strauß-Dynastie und ihres Walzer-, Polka-, Galopp-Imperiums, während die Habsburger Donaumonarchie wankte, allem gestrigen Gloria und Pomp zum Trotz. Und die späte Hausse des Genres mit ihren satirisch schrillen, eskapistisch exotischen Windungen im Berlin der turbulenten Zwanziger wurde unter der Hand weit mehr durch den Dauertaumel der belagerten Republik angeheizt als die restaurative, auf biederen Frohsinn gestutzte Verklärung eines Franz Léhar, Paul Abraham oder Ralph Benatzky in den Trümmer- und Aufbaujahren nach 1945 wahrhaben wollte. Mit anderen Worten: Wenn der Zeitgeist durchhängt und das Gemüt schwer wird, blüht das Leichte besonders bunt.

Eine Frau, die weiß, was sie will! Oscar Straus • Musikalische Leitung: Adam Benzwi • Inszenierung: Barrie Kosky • Musikalisch-szenische Einrichtung: Adam Benzwi, Pavel B. Jiracek, Barrie Kosky • Kostüme: Katrin Kath • Dramaturgie: Pavel B. Jiracek • Licht: Diego Leetz • Auf dem Bild: Dagmar Manzel und Max Hopp • Foto © Iko Freese / drama-berlin.de

In ihren besten Stücken liefert die Operette stets ein Doppeltes: Spott über die Verhältnisse und Verheißung sinnlichen Glücks. Konfektionierte Liebeswirren und Herzschmerzgeschichten entfalten sich auf der Folie absurder politischer oder sozialer Regularien – und beziehen eben daraus ihren Witz. Volker Klotz, einer der klügsten und kundigsten Liebhaber der Operette, hat diese zwischen anarchischer Angriffslust und achselzuckender Sentimentalität, «sinnvollem Unsinn» (Adorno) und ostentativem Eigensinn changierende Ambivalenz an zahlreichen Beispielen durchdekliniert: In Offenbachs Grande-Duchesse de Gérolstein (1867) gehen am laufenden Band Querschläger gegen das Militär hoch; Gilbert & Sullivan nehmen in Trial by Jury (1875) die verkrusteten Rituale der viktorianischen Justiz auseinander; Leo Falls Madame Pompadour (1922) karikiert die Anmaßungen einer abgehalfterten Aristokratie; und schon 1904 hatte Oscar Straus mit seiner musikalischen Burleske Die lustigen Nibelungen eine ätzende Parodie auf das wagnerbesoffen nationalistische Bürgertum des wilhelminischen Kaiserreichs geschrieben.

Doch kann man den an Personen, Ereignisse, Normen, Codes der jeweiligen Ära gebundenen subversiven Geist dieses Repertoires ins Heute übersetzen, ohne die Essenz der Werke zu beschädigen? Lassen sich die inmitten seliger Couplets, Schlager und Chöre versteckten Knallfrösche überhaupt noch auffinden, gar zünden? Etliche Male wurde die Operette totgesagt, um sich immer wieder aus dem Grab zu erheben. Und zwar nicht nur in Gestalt weichgespülter Fassungen von Léhars ewig Lustiger Witwe, die nie wirklich abgeschrieben war, oder in der plüschgriffigen Zurichtung einschlägiger Arena-Produktionen. Sondern auch in Form vitaler, historisch-kritischer Adaptionen, die mit wachträumendem Elan geistesgegenwärtig den Stachel löcken.

Von den Erneuerern der Alten Musik haben sich die neuen Verfechter des Genres die philologische Revision des korrumpierten Aufführungsmaterials abgeschaut. Denn auf kaum ein anderes trifft Mahlers Satz »Tradition ist Schlamperei« so zu wie auf die lange dominierende nostalgische Verflachung der Operette in einem schmachtend betulichen »Es war einmal«. Dass beißende (Selbst-)Ironie, frecher Humor, groteske Travestie und überhitzter Tingeltangel Teil ihrer DNA sind, ist eigentlich erst wieder durch das Regietheater des späten 20. und die editorische Schürfarbeit des frühen 21. Jahrhunderts klar geworden. Regisseure wie Herbert Wernicke oder Peter Konwitschny (dessen Dresdner Deutung von Emmerich Kálmáns Csárdásfürstin 1999 zum Eklat führte, weil er sie in die Schützengräben des Ersten Weltkriegs schickte) öffneten den Blick für den Ernst, der an der Oberfläche lachhafter Verwicklungen lauert. Und trugen dazu bei, dass die einstigen Hits des Wiener und Berliner Theaterlebens nicht mehr bloß als abgeschmackte Dutzendware der Kulturindustrie wahrgenommen wurden.

Ball im Savoy Paul Abraham • Inszenierung: Barrie Kosky • Bühnenbild / Licht: Klaus Grünberg • Kostüme: Esther Bialas • Choreographie: Otto Pichler • Dramaturgie: Pavel B. Jiracek • Chöre: Jean-Christophe Charron • Auf dem Bild: Szene mit Dagmar Manzel (Madeleine de Faublas) und Ensemble • Foto © Iko Freese / drama-berlin.de

Barrie Kosky, derzeit der glühendste und erfolgreichste Anwalt tragikomischen Entertainments in Europa, hat an der Komischen Oper, dem ersten Standort des legendären Metropol-Theaters, an dem Operettenstars wie Fritzi Massary, Lizzi Waldmüller und Richard Tauber Triumphe feierten, der Wiederbelebung der in Verruf geratenen Gattung, besonders ihrer zwischen den Kriegen von jüdischen Autoren (zumal den Textern Fritz Löhner-Beda und Alfred Grünwald) geprägten Spielarten, gar Kultstatus verschafft. Zum jazzig instandgesetzten Ball im Savoy (Abraham) strömt das erstaunlich junge Publikum in Scharen, Straus’ Frau, die weiß, was sie will wird bestürmt wie der abgedrehte Klamauk um Die Perlen der Cleopatra. Der Berliner Operettenladen brummt – nicht nur wegen Koskys Sinn für fummel- und glitzerverzierte Camp-Tableaus, sondern auch, weil sich Chefdramaturg Ulrich Lenz, Partitur-Spezialisten vom Format eines Matthias Grimminger oder Hennig Hagedorn und fachversierte Dirigenten wie Adam Benzwi oder Kofen Schoots für die Entrümpelungsaktionen begeisterten.

Die Perlen der Cleopatra Oscar Straus • Barrie Kosky • Choreographie: Otto Pichler • Bühnenbild: Rufus Didwiszus • Kostüme: Victoria Behr • Dramaturgie: Simon Berger • Chöre: David Cavelius • Licht: Diego Leetz • Auf dem Bild: Dagmar Manzel (Cleopatra) • Foto © Iko Freese / drama-berlin.de

Längst hat das heitere Musiktheater wieder Konjunktur. Rund 630 Vorstellungen waren laut Statistik des Deutschen Bühnenvereins während der Saison 2019/20 an den Staats-, Stadt-, Landes- und privaten Bühnen im deutschsprachigen Raum für Operetten reserviert, 2010/11 waren es sogar mehr als doppelt so viele. Das neue Interesse an den alten Kamellen ist weltweit zu beobachten: Léhar steht aktuell von Sydney bis Marseilles und von Wien bis St. Petersberg auf dem Spielplan; Benatzky ist von Buenos Aires bis Halberstadt und von Lausanne bis München präsent; Johann Strauss II bringt es während der laufenden Saison auf Produktionen in 21 Ländern. Selbst die Bayerische Staatsoper, bislang jenseits gelegentlicher Flirts mit der Lustigen Witwe dem musikalischen Lachtheater abhold, wagt sich mit Giuditta, Léhars letztem, 1934 in Wien uraufgeführtem Bühnenwerk, neuerdings auf mitsumm- und tanzbares Terrain vor. Freilich in einem Zuschnitt, der den heiklen, brüchigen Untergrund des Stücks einbezieht.

Giuditta • R. Clamer, S. Kohlhepp, K. Avemo • Foto © W. Hoesl

Christoph Marthaler und Malte Ubenauf (Dramaturgie) haben die unglücklich endende Amour fou eines italienischen Hauptmanns (Octavio) mit einer jungen Unbekannten (Giuditta), die u. a. im vom faschistischen Italien kolonisierten Libyen angesiedelt ist, mit Dialogen aus Ödön von Horvaths prophetischem Drama Sladek oder Die schwarze Armee (1928) und Musik von Bartók, Berg, Korngold, Schönberg, Eisler, Gideon Klein, Victor Ullmann, Schostakowitsch, Krenek und Strawinsky versetzt. Und damit gleichsam ein polyphones Panorama eingezogen, das den historisch-kulturellen Kontext des Ganzen umreißt. Jenes Buffo-Paar (Anita, Pierrino) etwa, das bei Léhar – er hätte das Opus gern dem Duce gewidmet – unbekümmert mitläuft, rückt hier in das Milieu militanter Republikfeinde.

Was der Altmeister absurd-skurriler Figuren und Handlungskonstellationen in München mit einem singspielend traumwandelnden Solistenensemble (Vida Mikneviciuté, Daniel Behle, Kerstin Avemo, Sebastian Kohlhepp u. v. a.) vorführt, ist eine gestische, mitunter ins Akrobatische gesteigerte Verblendung von Stück und dem Krisenbewusstsein seiner Zeit. Eine nervöse, gedrückte, diffuse, von dunklen Vorahnungen gezeichnete Stimmung, die uns heute angesichts globaler Verunsicherungen (Klimakatastrophe, schwächelnde Demokratien, digitale Überwachung usw.) merkwürdig vertraut vorkommt. Vielleicht ist der blassgrün bleiche, mit schäbigen Stühlen und Tischen möblierte, nach hinten durch eine kahle Bühne begrenzte Zwitter aus Tanzsaal und Turnhalle, den Anna Viebrock gebaut hat, ja mit dem Salon der Titanic verwandt. Und vielleicht sollten wir die Klänge, die Titus Engel mit stilsicherer Flexibilität am Pult des Bayerischen Staatsorchesters auslotete, als verfremdete Echos der Bordkapelle hören, die damals versank. Wer weiß das schon. ¶

schreibt seit den frühen 1990ern über Musik und anverwandte Themen. Als Schüler schlug er sich mit Latein und Altgriechisch herum, sonntags saß er auf der Orgelbank. Seine arg limitierten Tastenkünste mutet er heute nur noch sich selber zu. Drei Jahre lebte er in den USA, zwei Jahre in England. An der Freien Universität Berlin und State University of New York at Buffalo studierte er Germanistik, Anglistik, Amerikanistik und Philosophie. Von 1993 bis 2004 war er der für Musik, Medien und Kunst...

Eine Antwort auf “»Wenn der Zeitgeist durchhängt und das Gemüt schwer wird, blüht das Leichte besonders bunt.«”

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