Wer den überoperngroßen Ring des Nibelungen inszenieren will, dem kann es leicht wie Wotan ergehen: Ein kühner Entwurf zeitigt unabsehbare Folgen, und wenn man dann die Dramaturgiekundlerin fragt, »wie zu hemmen ein rollendes Rad«, ist es längst zu spät – man hat sich verzettelt.

Andererseits, willensfaule Beschränkung auf biederes Weltendrama-Begleiten oder gar schnödes Illustrieren wäre eine Beleidigung von Wagners Größe. Insofern spricht schon was dafür, es so forsch anzugehen wie Dmitri Tcherniakov in seiner Inszenierung von 2022, die jetzt bei den Festtagen der Berliner Staatsoper Unter den Linden wieder zu sehen ist: gewissermaßen konsequent anti-wagnerisch. Wo der Ring sagenhafte Weite setzt, ist hier die klaustrophobische Enge eines vielräumigen Experimentier-Instituts E.S.C.H.E. zu sehen. Wo der Ring raunend dämmert, herrscht hier stets totale Ausleuchtung. Wo Wagners Figuren somn- oder noctambul handlungswandeln und zugleich psychologisch überfein gezeichnet sind, wird hier von Gegenwartsmenschen immer wieder hysterisch gelacht, quasi übersprungspsychologisch.

Nur stößt Tcherniakovs Technik des Überschreibens der Opernhandlung mit einer Parallelfabel beim Ring an semantische und musikalische Grenzen. In seinem Linden-Tristan, der mich seinerzeit beim ersten Sehen heftig ärgerte und beim zweiten Sehen jach begeisterte, funktioniert die Methode großartig. Unter anderem, weil sie sehr nah an der Musik ist: etwa wenn der Gehirnwäscher Tristan im zweiten Aufzug Isolde Wort für Wort vorsingt, was sie zu sinnen hat. Auch Tcherniakovs Bayreuther Holländer mit Senta als rebellischer Billie-Eilish-Lookalike war wie aus einem Guss. Aber dass der Ring mit seinen zahllosen Fäden und Schichten nun mal kein Holländer ist, spürt man an der Lindenoper und kann irgendwann entnervt und frustriert sein.

Anja Kampe als Brünnhilde in der Götterdämmerung

Zwar ist der erfahrene Tcherniakov ausgebuffter als der Bayreuther Ring-Regisseur Valentin Schwarz, der in überdimensioniertem Jungwotanwollen eine Konfusion epischen Ausmaßes anrichtete. Daher scheint Tcherniakov irgendwann einfach lockerzulassen, enthemmt also (statt zu hemmen das rollende Rad) den eiernden Ball. Einfach frei assoziieren, lautet bekanntlich der Wala bewährter Wink an ratlose Ring-Regisseure. Dann können die erfahrenen Wagnerrecken phasenweise ihren Stiefel runterspielen und singen, was sie hier auch meistenteils grandios tun. Man hat da fast das Gefühl, dass dem Regisseur selbst sein Codierungs-Eifer abhanden gekommen ist, wie einem als Zuschauer die Motivation zum Dechiffrieren nach und nach verloren ging. Man konnte sich einfach keinen Stabreim auf das alles machen. Und so reizvoll Tcherniakovs doppeletagige und ständig sich drehende oder verschiebende Zimmer anfangs sind, hat man sich auch daran irgendwann sattgesehen. Ich muss letztlich sagen, Schwarz’ Bayreuther Scheitern hat eindeutig größere Schauwerte.

Der schwerwiegendste Einwand aber mag darin liegen, dass eine solche Art zu inszenieren unbedingte Vertrautheit mit dem Werk voraussetzt. Und ebenso die Gewissheit, dass das Nachwachsen des Wagnerpublikums ohnehin garantiert sei. Für Ring-Neulinge nämlich ist Tcherniakovs Inszenierung, ebenso übrigens wie die parallele von Stefan Herheim an der Deutschen Oper, schlechterdings ungeeignet. Dass aber die Kalkulation, das Wagnerpublikum sei und bleibe eben da, auf tönernen Füßen stehen könnte, zeigen die Lücken im Saal bei den Staatsopern-Festspielen, die bei einer derart hochkarätigen sängerischen Besetzung dann doch erstaunlich sind (vom anscheinend schleppenden Kartenvorverkauf für den nominell schwächer besetzten Ring an der Deutschen Oper zu schweigen). Das gilt auch, wenn man die astronomischen Kartenpreise in Rechnung stellt, und ebenso die Tatsache, dass hier kein Daniel Barenboim und kein Christian Thielemann dirigiert, sondern ein tüchtiger, doch musikalisch unglamouröser Musiker wie Philippe Jordan. Bei diesen Bedenken bleibe ich, auch wenn dadurch eine unangenehme Berührung mit jenen ewig unzufriedenen Ranzwagnerianern entsteht, denen im Grunde jede Regie, jeder Gedanke, jedes Frotzeln gegen den hehren Meister ein Ärgernis ist. (Solchen bornierten »Konservativen« wiederum fehlt ja jene kultivierte Gelassenheit der hier durchaus anwesenden Wagnertouristen aus Übersee, die für die ethnologische Besonderheit deutschen Regie- oder eben Regisseurstheaters gewappnet sind. Wobei es nach der langen Götterdämmerung dann doch einem feinen älteren Amerikaner entfährt: »What the fuck?«)

Das Ensemble in der Götterdämmerung

Wir sehen also ein Forschungsinstitut voller wechselnder und entgleisender Versuchsanordnungen. Die Nornen wandeln von Beginn an durch die Gänge und werden immer älter. Statt alles oder vieles aufdröseln zu wollen, beschränke ich mich auf den pragmatischen Hinweis: Wäre es nicht sinnvoll und publikumsfreundlich, wenn der Regisseur im Programmheft auf zwei oder drei Seiten die Grundgedanken seiner Inszenierung und seiner Fabel darlegen würde? Der Regisseurskunst bräche kein Zacken aus der Krone.

Abgesehen davon, dass Tcherniakov geschickt in Personenführung ist, hat seine Regie immer wieder starke Einfälle: etwa der Zwangsjacke tragende Höhlen-Fafner des Siegfried (Peter Rose) als beängstigende Mischung aus Zeraldas Riese und Hannibal Lecter, eine abscheulich gewaltvolle Mordszene. Oder zuvor in der Walküre Siegmund als entflohener, psychisch bedrohlicher Häftling, der ins Institut eindringt und sich mit der Polizistengattin Sieglinde in was hineinsteigert. Das ist ein Entwurf, der auf der Bühne flutscht, auch wenn es rein erotisch zwischen Robert Watson mit eher engem Organ und der kraftvollen Sieglinde von Vida Miknevičiūtė nicht recht zwitschert. Dafür ist im Verbund mit René Pape als einem Hunding, dem in der Kehle selbst jener Wurm nagt, von dem er auf den Feind bezogen singt, der Glücksfall eines kompletten Aktes zu erleben, in dem man tatsächlich keinen einzigen Blick auf die obligatorischen Übertitel werfen muss: ein Festtag der Textklarheit. Das bleibt auch, als Watsons Tenor sich im zweiten Aufzug letztlich wirklich als zu klein erweist, während Miknevičiūtė den Saal nochmals leuchtend flutet und beim hehrsten Wunder in lodernde Flammen setzt.

Robert Watson (Siegmund) und Vida Miknevičiūtė (Sieglinde) in der Walküre

Es gibt aber auch jene Momente, in denen aus der Szenerie sängerischer Kollateralschaden erwächst. Das passiert etwa im Finale des Siegfried, wenn Andreas Schager als Siegfried und Anja Kampe als Brünnhilde derart gegen die komponierte Entrückung und Ekstase ihrer Figuren agieren müssen, dass zumindest der Beginn ihrer Begegnung auch vokal heillos abschmiert. Kampe, die noch in der Walküre mit humorvoll-souverän abphrasiertem statt abgerissenem „Hojotoho“ einstieg, wird schrill, Schager kippt ins Poltern, das er sonst vermeidet (erstaunlicherweise verschwindet das dann, als die Regie ihn rund um die künstliche Indoor-Esche des Instituts tänzeln lässt: da verflüssigt sich auch seine Stimmführung).

Kampes mitunter scharfe Höhen, an denen sich einige Hörer stoßen, sind kaum zu leugnen, auch nicht im Finale der Götterdämmerung, das sie intensiv gestaltet. In deren zweitem Aufzug aber sind die Schärfen ganz am Platz, inmitten all der gehärteten, verpanzerten Leitmotive, die noch im Siegfried so warm glänzen durften. Im Übrigen mag man fragen, wo denn heute die ideale Brünnhilde wäre. Etwa Iréne Theorin mit ihrem polarisierenden Megavibrato? In Bayreuth 2023 wurde die Rolle sogar doppelt besetzt: Catherine Foster in Walküre und Götterdämmerung, Daniela Köhler im Siegfried. Und Andreas Schagers Siegfried ist nun mal, auch wenn er nicht immer den Tiefsinnspreis gewinnen wird und wohl auch will, ein Glücksfall wie Frischluft in Nibelheim. Selbst im eigentlich unerträglichen Doppelmord-Akt an der Fafnerhöhle (von wegen, der Siegfried wäre das Scherzo der Tetralogie) ist Schager von umwerfender Naturburschigkeit, die auch im Meuchel ihren Charme bewahrt. Sein Tenor wird bei aller Kraft nie hart oder brutal.

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Diesen naturwunderlichen Schagertenor könnte kein Orchesterdonner je das Fürchten lehren. Aber Philippe Jordans umsichtiges Dirigieren ist natürlich verdienstvoll sängerfreundlich. Dass er das Rheingold im Konversationston angeht, liegt nah: leicht, hell, zügig, punktiert und pointiert. Aber im Grunde und in gemäßigter Form zieht sich dieses Herangehen durch alle Teile. Klar und sprechend ist auch die Orchesterdiktion, zumal in Abschnitten wie dem ersten Walküre-Aufzug. Mischklänge der Holzbläser sind so fein dargelegt, dass sie letztlich unvermischt scheinen: zwei Instrumente, kein imaginäres eines. Den Glanz der Blechbläser oder die präzise Feinzeichnung der Streicher vom spinnwebfreien Waldweben bis zum glitzernden Feuerzauber wird man so kaum anderswo erleben.

Woran es meines Erachtens aber immer wieder mangelt, ist das Suggestive. Im Siegfried-Finale und anderswo fehlen mir Lyrik, Erotik, Geheimnis. Generell ist Jordans Wagner für mich zu sehr allen Entladungen abhold, auch dem Gewalttätigen. Die Todesverkündigung etwa bleibt verblüffend gänsehautfrei. Und dass am Ende der Götterdämmerung der letzte Sog ausbleibt, liegt dann doch nicht nur an den Ernüchterungen der Inszenierung oder Kampes Ambivalenzen.

Die Ordnung des Orchesters ist allerdings so hoch, dass das alles quasi Einschränkungen für den Bereich oberhalb von hundert Prozent sind, den man bei Wagner nun eben ersehnt. Letztlich kann auch kein Orchester und erst recht kein Regiekonzept die vier Abende tragen, wenn es nicht die Sänger täten. Und das tun sie: selbst ein Rolando Villazón, der zwar – man ist schon darauf gefasst – deutlich abgesungen klingt, aber die Probleme mit Witz und Parlando ausgleicht, so dass man seinen Loge komplett gutheißen kann. Stephan Rügamer, der an diesem Haus auch schon ein versierter Loge war, ist nun ein charakteristischer Mime, dem die teilweise hohen Tempi und überhaupt der geschärfte Orchesterklang gerade im ersten Siegfried-Akt entgegenkommen. Absolut zuverlässig und von intellektueller komödiantischer Qualität ist Roman Trekel als Donner und Gunther (dessen leicht knödeligen Ton Schager in der Raubszene köstlich imitiert), ebenso die vitale, anrührende Gutrune von Mandy Fredrich. Was Claudia Mahnkes Fricka angeht, gefällt mir ihre Eleganz im Rheingold gut, während ich in der Walküre ihr Vibrato flattrig finde und mich überhaupt frage, ob da nicht zu sehr jene zänkische »Hysterie« ausgestellt wird, die in der Fricka-Interpretation doch nicht der Weisheit letzter Schluss ist.

Drei Sänger aber schweben hier für mich über allen anderen. Der erfahrene, doch noch immer ganz außergewöhnliche Alberich von Johannes Martin Kränzle ist eine spektakulär vielschichtige Persönlichkeit, gallig, zerrissen, leidend, dabei immer ohne jede demonstrative Schwärze durchgestaltet: auf sportlich gelenkige Weise dämonisch. Die nächtliche Begegnung Alberichs mit Stephen Millings Hagen, verblüffend agil und stimmlich von fast samtener Qualität, wird so zu einem Höhepunkt des Zyklus.

Und schließlich Tomasz Konieczny. Wotan. So soll es sein. Noch in der Götterdämmerung, wo er nicht mehr auftritt, beherrscht seine Stimme den Saal: Man meint ihn tatsächlich zu hören, als die Küre Waltraute (eine schöne Wiederbegegnung mit der großen Violeta Urmana) ihrer Frau gewordenen Schwester vom lebensmüden Vater berichtet.

Koniecznys kerniger Ton ist in gewisser Weise das Gegenteil von Michael Volle, der den Wotan im Premierenzyklus sang. An dessen Diktion langt niemand heran. Aber man muss anerkennen: Hörte man Konieczny vor Jahren in Bayreuth noch als teils erratisch röhrenden Telramund, so haut es einen nachgerade weg, wie großartig sich seine Sprachbehandlung entwickelt hat. Man versteht noch immer nicht alles, aber sehr viel. Vor allem aber begreift man, jenseits aller Worte, die Gestalt Wotan und ihre Entwicklung: mal balsamisch, mal verzweifelt, auftrumpfend und aggressiv und voller Liebe, höchst viril, differenziert sich entwickelnd, allezeit unter enormer Spannung. Wie Konieczny mit Wucht und Schmerz durchs Gesamtmalheur west, ist einfach packend. Und wie er in jedem Erscheinen Bühne, Saal und Kosmos dominiert: aktuell unvergleich wotanisch. Dieser Bühnengott ist selbst ein rollendes Rad. ¶

… lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Beethovn‹ (2020). Zuletzt erschien ›Silence‹. ✉️ KonzertgaengerBerlin@gmail.com

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1 Kommentar

  1. ‚die Tatsache, dass hier kein Daniel Barenboim und kein Christian Thielemann dirigiert…‘
    Wirklich? Hiermit macht man keine anständige Kritik.
    Thielemann hat ein komplett rückwärtsgewanden Ring dirigiert.
    Und:
    Ich habe in meiner Erfahrung als Wagner-Operngänger nur drei wirklich zum Fremdschämen schlechte Wagner-Dirigate gehört – eine Walküre, einen Meistersinger, einen Tristan und Isolde. Dirigent? Barenboim, Barenboim, Barenboim.

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