Der im Premierenjahr 2022 schmählich versenkte Ring des Nibelungen könnte sich noch zum Publikumsliebling mausern. Diesen Eindruck kann man heuer zumindest am Anfang gewinnen, als er sich von Neuem aus der Tiefe erhebt. Einhelliger Jubel fürs eröffnende Rheingold, und auch gegen die vielgescholtene Regie von Valentin Schwarz sind erstmal keinerlei Unmutsbekundungen zu vernehmen, weder im Saal noch in den umliegenden Festhügelgesprächen.
Nun, bis zur Götterdämmerung soll sich das erheblich ändern, die Publikumsstimmung teilweise kippen. Aber nach dem musikalisch hinreißenden, bühnisch jedoch mucksmäuschentoten Parsifal zur Eröffnung der Bayreuther Festspiele ist dieses Rheingold pures Theater-Labsal. Das Problem an Jay Scheibs Gralsstück waren ja nicht mal die viel diskutierten Augmented-Reality-Brillen, deren kreatives Potenzial (über das man streiten mag) deprimierender Weise so gut wie gar nicht abgerufen wurde. Als weitaus gravierender erwies sich die endfade Rumsteherei des Bühnenpersonals. Grundlegendes also. Valentin Schwarz aber, das muss auch mal gesagt werden, versteht das Grundlegende: sein Handwerk. Die Darsteller wissen, was sie zu tun haben, da ist immer Bewegung, Interaktion, Dialog, generell Bühnenwitz. Und das Rheingold, mit von den Rheintöchtern betreuter Kinderschar am Swimmingpool, deren eines der kleine Junge Ring ist, der vom garstigen Onkel Alberich gekidnappt und ins gruselige Nibelkinderheim verbracht wird: Ja, für mich ist das Horror-Operette vom Feinsten, das holt mich ab.

Auch, weil die Sänger darstellerisch in hohem Maß mitziehen. Sie werden ja selbst ihre stille Meinung zur Stringenz des großen Ganzen hier haben (oder eben deren Fehlen). In Scheibs Parsifal wurde auch prima gesungen, aber Schager, Garanča, Zeppenfeld & Co hatten als Schauspieler nicht mehr zu tun, als eben das übliche verinnerlichte Standardgesten-Repertoire ihrer Rollen abzurufen. Bei Schwarz gibt es ausgefeilte Bewegungsabläufe und exakte Dramaturgie im Sprechen, im Miteinander und Gegeneinander der Figuren. Und so oft die Aktion bewusst diametral gegen den Text läuft, so akkurat schmiegt sie sich doch dem musikalischen Geschehen an – nicht unbedingt der Leitmotivik, aber den direkten Impulsen des Klangs. Schwarz ist musikalisch.
Der Alberich von Ólafur Sigurdarson etwa ist nicht nur ein diktionsgenauer, wendiger Gestalter, sondern auch ein szenischer Drehumdiebolzen, dem man ebenso gern zusieht wie zuhört. Das zeigt sich nicht nur in den Konfrontationen mit Mime (prima schmierig-traurig und sichtbar operettenerprobt ist Arnold Bezuyen) und mit Wotan, sondern auch noch in der beklemmenden Götterdämmerungs-Nachtszene mit Hagen: dessen Ungeheuer gebärender Schlaf wird hier zu verzweifelter Wut am freihängenden Boxsack. So voll- wie wohltönend gestaltet Mika Kares diesen Finsterling, dessen Abkunft hier seltsam verspiralisiert ist, wie alle Abkünfte in diesem Ring, der Generationenverhältnisse (und insonderheit eine Kontinuität von sich reproduzierendem Kindesmissbrauch) ins Auge fasst, ohne dass es ihm gelänge, den Blick scharf zu stellen.

Der Finne Kares und der Isländer Sigurdarson sind Bestandteil einer durchweg erfreulichen Nordmusikgilde, zu der auch zwei Stimmen aus Norwegen gehören: Jens-Erik Aasbøs Fasolt, den man am liebsten in den Arm nähme in seiner brutal scheiternden Liebesfähigkeit, und die Sieglinde von Elisabeth Teige, die Lyrik und Dramatik erstklassig vereint (bei ebenso gestochener Diktion wie ihr Partner Klaus Florian Vogt als Siegmund).
Der wichtigste Nord-Import für die Kompletttetralogie ist natürlich der finnische Dirigent Pietari Inkinen, der so schmächtig ist, dass ein Matti-Salminen-Fafner, ihn verschlingend, nicht mal für den hohlen Zahn satt würde. Nicht alle im Saal sind von Inkinen überzeugt, ihm fehle das Kna-Gen, der Thielemann-Sog, er würde verwalten, heißt es, nicht gestalten. Aber mir gefällt, was Inkinen macht. Statt Sog zeigt er Schwung. Der helle, flüssige Klang scheint stets quasi aus einem einzigen Impuls hervorzugehen, ist immer wieder zart aufgefächert, dass es die Ohren behaucht, und es gelingen wirklich schwirrend-schwebende Passagen wie im Übergang vor der Brünnhilde-Szene im Schlussaufzug des Siegfried. Derlei Zauber und Impuls sind gewiss eher Inkinens Ding als Impulsivität, Wucht oder Fluch; aber auch die kommen zu ihrem Recht.
So nagt leise der Verdacht, dass manche Inkinenkritik nicht nur aus individueller Geschmackswägung rührt (völlig legitim), sondern hier und da auch von Parteigängern des ausgebooteten Bayreuth-Gurus Christian Thielemann. Rein musikalisch vermisse auch ich Thielemanns Dirigate; aber das bedeutet ja nicht, dass es nicht eben auch ganz anders ginge, wie Inkinen zeigt, oder auch Pablo Heras-Casado beim Parsifal, Natalie Stutzmann beim Tannhäuser oder Oksana Lyniv beim Holländer. Was nun diese ewige Schmoll- und Grollstimmung anbelangt, nicht nur in Bayreuth, sondern überall, wo’s ums Gesamtkunstwerk geht, so ist das doch wirklich eine der unerfreulichsten Wagnerianer-Eigenschaften. Und wenn es mal wieder ringsum motzt, mosert und mault, fragt man sich, ob die verbreiteten permanenten Aggressionen in der Wagnerei nicht letztlich auch ein toxisches Erbe des giftzwergigen Meistercharakters sind.
Zu einem Katalysator des ewigen Unmuts wurde dieses Jahr die Sensationsnachricht, dass es »noch Karten für Bayreuth« gebe. Und das, wo man doch »früher« mindestens zehn Jahre auf Karten warten musste, auf Kniescheiben rutschend! Da nützte dann auch alle Kontextualisierung nichts mehr: etwa der Hinweis, dass ein relevantes Restkartenkontigent der Freundegesellschaft nicht wie sonst üblich im Dezember, sondern erst Ende April, Anfang Mai zurückkam. Oder die ganz vorsichtige Frage, wie viele Menschen denn überhaupt heutzutage Muße und Kohle haben, um sich mal eben eine Woche lang für vierstellige Summen in einer ausgebuchten Stadt ohne ICE-Anschluss das Gesamtkunstwerk reinzuziehen. Gesellschaft und Kultsuchten verändern sich. Im Übrigen betrafen die offenen Kapazitäten ja nur den Ring, keineswegs Tannhäuser oder gar Tristan. Aber wie dem auch sei, das Narrativ war und ist in der Welt: »Bayreuth nicht mehr ausverkauft«. Steht sogar bei Spiegel Online.
Die Experimentierlust und Offenheit für kontrastierende, auch provozierende Regieversuche, die Festivalchefin Katharina Wagner beweist (sehr gewachsen in dem Amt, in das sie einst auf Wegen gelangte, die man dubios finden konnte), sind Traditionalisten und generellen Gegnern von denkender Regie ein Dorn im Auge. Da macht man sich auch nicht mehr die Mühe, wie Gerhard Stadelmaier wenigstens zwischen Regie- und Regisseurstheater zu unterscheiden, und verkneift sich auch die Erkenntnis, dass das Dilemma des neuen Parsifal gerade im Fehlen von denkender Regie lag. Dass sich nun die Investition von mehreren hunderttausend Euro in spezielle Augmented-Reality-Brillen künstlerisch nicht ausgezahlt hat, ist natürlich Wasser auf die Mühlen der Katharinakritiker. Und man fragt sich nicht nur hier, sondern auch an anderen Opernhäusern, wie es eigentlich um die systematische Evaluation inszenatorischer Fehlschläge (die immer passieren können) bestellt ist.
Auf der anderen Seite stehen dann eben Volltreffer des Regietheaters, zu denen zweifellos Tobias Kratzers schon legendärer Tannhäuser-Geniestreich gehören und zumindest für mich auch Dmitri Tcherniakovs aufregender Fliegender Holländer mit seiner begeisternd aufrührerischen Senta. Und ebenfalls auf der Erfolgsseite steht ein musikalisches Niveau, das nach Meinung vieler langjähriger Besucher 2023 so hoch ist wie seit Jahren nicht mehr.

Dass Pietari Inkinens Ring-Dirigat für mich ebenfalls ein solcher Treffer ist, liegt auch daran, dass er und sein Orchester vorbildlich aufmerksam und reaktionsschnell die Sängerinnen und Sänger tragen, dass es eine Freude ist. Ein Andreas Schager braucht diese achtsame Beatmung aus dem Graben ja nicht unbedingt, höchstens hin und wieder den handfesten Stichwortklaps aus dem Souffleurinnenkasten. Überhaupt, Schagers athletische Konstitution möchte man gern haben im Leben, körperlich wie seelisch. Zwischen seinen Helden im Siegfried am Samstag und in der Götterdämmerung am Montag schiebt dieser alpine Teufelsbursche sonntags noch einen Parsifal ein!

Das Schöne an Schager ist unter anderem, dass er so laut singen kann. Das gelegentlich nicht so Schöne ist, dass er mitunter auch da so laut singt, wo es nicht nötig wäre (etwa in der Waldvöglein-Erzählung im dritten Aufzug der Götterdämmerung). Aber im Parsifal fand er ebenso leise Töne wie in der Schlussszene des Siegfried mit Brünnhilde. Anders als Schager hat Catherine Foster bei dieser lyrischeren Zwischen-Brünnhilde einen Pausentag: Daniela Köhler singt sie, findet auch mit Hilfe von Inkinens Umsicht in die ekstatische, höhensichere Intensität, die hier sehr unvermittelt von der Sängerin verlangt wird. Foster aber ist die Brünnhilde der Walküre und der Götterdämmerung, und ihr Heldinnensopran ist derart fokussiert und stabil, dass es eine Wohltat ist im Vergleich mit dem Vibrato-Karussel der oft als Brünnhilde zu erlebenden Iréne Theorin.
Bleibt Wotan. Tomasz Konieczny ist exzeptionell und unmöglich. Mächtige Knödel hat er in der Röhre, aber die Röhre selbst ist eben auch derart mächtig und prächtig, dass es beglückt, ja physisch erregt und, dank Koniecznys hochpräsenter Darstellung, gewaltig ergreift: so ein Göttermann so elend allein am Ende der Walküre, von aller Welt verlassen! (Außer von Inkinens Orchester, das seinem Primadonnergott sensibel über eine Schwächephase hinweghilft.) Allerdings, später im Zug wird mich ein älterer Herr, der im Ring war, fragen: ob es denn eigentlich normal und richtig sei, dass man doch praktisch kein Wort verstehe. Er hat halt Konieczny gehört, nicht Michael Volle. Und so imposant das alles sängerdarstellerisch ist, kraftvoll, rührend bis zum Herzzerreißen, mitunter auch schreiend komisch, scheint mir Koniecznys Protzorgan rein gesanglich nicht der Weisheit letzter Schluss. Und nach Koniecznys Zusammentreffen mit Andreas Schager im Siegfried herrscht bei mir ein solcher Virilitätsüberdruss, dass ich, anders als sonst, doch mal ganz froh bin, dass der Göttervater in deren -dämmerung aus dem Spiel ist.

Die Stimmung des Publikums hat sich an diesem vierten Abend mehrheitlich gegen die Regie gewendet, auch wenn der Buhsturm am Ende beileibe nicht die Orkan-Ausmaße des Premierenjahrs haben wird, als, wie man hört, einzelnen Bravo-Rufern Gewalt angedroht wurde, wenn sie nicht die Klappe hielten.
Die Sache ist, auch das muss man sagen, hoffnungslos zerwirrt und verfleddert. Im Grunde versucht Schwarz etwas Ähnliches wie Kratzers Inszenierung des Tannhäuser: Auf die Wagner-Handlung wird eine eigene Fabel aufgelegt – nicht über oder stattdessen, sondern als Parallelaktion. Nur dass das bei Kratzer so stringent flutscht, dass man als Zuschauer im Dauer-Aha jubiliert. Aber der Ring ist eben nicht Tannhäuser und Valentin Schwarz (noch?) nicht Kratzer. Von »Assoziationsangeboten« spricht Schwarz im Interview, aber eigentlich nimmt er diese Ankündigung selbst nicht ernst, indem er viel zu kleinteilig codiert. Schon Schwarz’ fünfseitige Zusammenfassung »Eine Ring-Erzählung«, abgedruckt im Programmheft, ist ein Dokument der Konfusion und ein wüstes Durcheinander, das sich zugleich eben doch bloß an der Ring-Erzählung entlanghangelt. Was auf der Bühne herauskommt, beginnt bei nur so sprudelnden Ideen und endet letztlich in einer Verzettelung epischen Ausmaßes. An starken Einfällen, dichten Szenen und rasanter Aktion herrscht kein Mangel, doch an der Gesamtsemantik hapert’s.

In bizarre Schattengründe der freien Decodierung aber führt die schwarzsche Verzettelung. Das wird deutlich, als mir auf einmal ein ausnehmend freundlicher Mensch beim Hotelfrühstück darlegt, die Regie spreche hier wohl verschlüsselt das geheimgehaltene Thema der »neun Millionen Kinder« an, die jedes Jahr durch organisierte, vermutlich freimaurerische Organisationen verschwänden. Gewiss reiche das weltweite Netz bis ins Festspielpublikum, und hier werde es, etwa durch das Symbol der gläsernen Pyramide auf der Bühne, mit seinen eigenen Untaten konfrontiert.
Ich nehme diese eigenartige QAnon-Begegnung zum Anlass, am nächsten Vormittag einmal das hübsche kleine Freimaurer-Museum zu besuchen, das es in Bayreuth auch noch gibt, direkt neben der Villa Wahnfried, zugänglich vom Hofgarten. Ein ganz ungeheimniskrämerischer Ort ist das, der von mittelalterlichen Bauzünften und aufklärerischen Anliegen berichtet. Um aber Schwarz’ Inszenierung, denke ich mir da, konsistenten Sinn zu entreißen, bräuchte es schon den »Schlüssel zur Perfektionsloge« oder das »Band des 32. Grades Erhabenes Konsistorium«.
Letztlich führt der verschwörungstheoretische Auffahrunfall im Assoziationsraum für mich doch zum ernstesten Fazit und wohl schwerwiegendsten Einwand gegen die Ring-Verzettelung von Valentin Schwarz: Nicht nur ist eine derart löchrige Regie mitverantwortlich für Hermeneutik, die völlig ins ungenießbare Kraut schießt. Ich frage mich auch, ob es ethisch statthaft ist, sexualisierte Gewalt gegen Kinder als variables Bilderreservoir einer bedeutungsheischenden Inszenierung zu benutzen, ohne gedanklich präzise zu werden. Stockfotos des Grauens. ¶
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