Die Welt ist wieder heil, als sie endlich von Neuem untergeht. Als die Sturmmusik des Fliegender Holländer-Vorspiels losbraust, ist die westdeutsche Flutkatastrophe mit allem Drumherum weit weg. Und auch die Corona-Pandemie irgendwie vergessen, wie wir da im Bayreuther Festspielhaus sitzen, durchgeimpft und abmaskiert und hemdesärmelig durchlüftet dank Sitzanordnung im Schachbrettmuster (ob’s was hilft in der legendären und gewiss überaus aerosolfreundlichen Bayreuther Stickluft?). Dennoch ist die Wagnerwelt irgendwie anders: Erstmals dirigiert hier eine Frau, und wenn nun Jahrzehnte nach der Entnazifizierung auch die Entpapasierung Bayreuths beginnt, ist es folgerichtig, dass auch Wagners haarsträubende Weiblichkeitsprojektionen endlich mal aufmucken und Schluss machen mit der projizierenden Maskulinbagage. Und zwar, indem sie die Spiegelbilder, die sie für maßlose Männer-Egos darzustellen haben, kurzerhand zertrümmern.

Denn seien wir ehrlich, der Holländer hat es redlich verdient, dass ihm endlich mal eine Jungfrau den Stecker zieht, statt sich um seine Erlösung zu bemühen. Alle sieben Jahre stößt er eine, die ihn retten soll und es doch nicht kann, ins ewige Verderben, das wird so nebenher erwähnt. Er aber, um seinem eigenen nicht endenden Unheil zu entgehen, ist zu fortgesetztem Frauenverschleiß bereit. Toxischer kann Männlichkeit kaum sein, Seemannsverhängnis hin, Kap-der-guten-Hoffnungs-Umsegler-Verdammnis her.

Asmik Grigorian (Senta), Eric Cutter (Erik)

Sturm und Starre

Finsteres Wetter; heftiger Sturm sind in Oksana Lynivs Dirigat des Vorspiels präsent (fast zu heftig), aber auf der Bühne nicht zu sehen, niente, rien de rien. Die Bauten hat der Regisseur Dmitri Tcherniakov eigenköpfig entworfen, eine trostlos geziegelte Hafenstadt, die uns während der Ouvertüre als Traum(a)bild begegnet: die Kulisse einer grauenerregenden Kindheitserinnerung eines gewissen H., dessen Mutter vom Kleinstadtpascha verführt und fallengelassen wurde. Und dann in den Suizid getrieben vom Kleinstadtpatriarchat (zu dem als System die willfährigen Frauen gehören). Sturm, Senta, Erlösung: Alles, was in der Musik tobt, ist im Kulissengeschehen nur als Seelenaufruhr des verstörten Kindes präsent. Die Starre der reglosen Mauern trägt vielleicht dazu bei, dass das Vorspiel ein wenig zu zerfasern scheint.

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Als Der Besuch des alten Sohnes (frei nach Dürrenmatts nicht aus dem Deutschunterricht zu kriegenden Stück) spult danach Der fliegende Holländer ab. Da tosen und wettern natürlich die stets nachwachsenden Altwagnerianer auf Facebook im Quadrat wie die Rumpelstilze, denn nichts steht doch von alldem beim Meister, dem hehren! Dass Daland der Filou war, der einst H.’s Mutter fatal verführte, so dass der Sprössling jetzt in seine Heimatstadt zurückkehrt, um Rache zu nehmen, an dem Kaff im allgemeinen und Daland im besonderen, dem er die Tochter entreißen will. Falls wir uns den richtigen Reim auf alles gemacht haben, ganz sicher ist das nicht; denn wir rechneten auch zweieinhalb Stunden felsenfest mit einem ganz anderen Ende: nämlich dass Senta am Ende genauso vom Fenster im ersten Stock in den Strick springen würde wie H.’s Mutter im Prolog, so dass die Katastrophe reproduziert würde, statt den wagnerschen Erlösungszwang zu befriedigen. Dass es am Ende ganz anders kommt als diese schlüssige, aber allzu erwartbare Erwartung, ist einer anderen Mutter zu verdanken. Das ist nun schon ein halber Spoiler; der ganze folgt dann unten, aber mit Vorwarnung, falls Sie sich selbst noch diesen Fliegenden Holländer reinziehen wollen, mit dem Bayreuth nach zwei Jahren seine Edelscheunenpforten am Sonntag wieder geöffnet hat.

John Lundgren (Der Holländer), Marina Prudenskaya (Mary), Georg Zeppenfeld (Daland), Asmik Grigorian (Senta)

Risse und Kollapse

Da ist die Welt also wieder heil, als alles von Neuem losgeht. Aber Risse sind erkennbar, Reizungen zu spüren: Ein Welt-Kritiker lamentiert noch in der Nacht und wohl schon unterwegs nach Salzburg über das nochmals angezogene Bayreuther Security-Regime (obwohl die fränkischen Polizisten in tiefenentspannter Freundlichkeit auf ihrem Quatsch beharren, etwa dass ich mit meinem Fahrrad, statt es durchzuschieben, den Hügel wieder runterfahren und komplett umrunden muss, um zu den dreieinhalb mickrigen Bayreuther Fahrradständern zu gelangen). Dass ein anderer, hochseriöser Schweizer Kritiker verblüffend Armin Laschet ähnelt, fällt mir zum ersten Mal auf. Und bei aller Freude über das Wiedersehen mit Angela Merkel in der Ehrenloge kann man nicht umhin zu denken, dass das nun wirklich ihr allerletztes Mal als Bundeskanzlerin in Bayreuth sein wird. Nur mit Mühe kann man es sich verkneifen, sich an der Ehrenlogenbrüstung hinaufzuziehen und sie anzuflehen, es sich doch nochmal zu überlegen und uns (da es mit Kanzlerin Baerbock wohl nix mehr wird) diesen rheinländischen Frohhallodri als ihren Nachfolger zu ersparen.

Genug davon! Freuen wir uns lieber über die schönen Risse in der alten Bayreuther Tapete. Etwa die Ukrainerin Oksana Lyniv, die nun (wie in allen Artikeln steht und darum auch hier zweimal erwähnt werden muss) als erste Dirigentin überhaupt im Festspielgraben die Sache wuppt. Es ist eine Freude, sie im Schlussapplaus zu sehen, mit großer Autorität trotz schmächtiger Gestalt – wenngleich immer noch größer, als der Meistergnom W. war. Der fliegende Holländer ist günstig und schwierig zugleich fürs Bayreuth-Debüt. Günstig, weil es als Frühwerk vom Rand des Wagnerkanons nicht ganz so im Fokus steht, wie es ein Tristan oder sonstige Zentralkanonpièce täte. (In Bayreuth wurde der Holländer erst Jahre nach Wagners Tod gespielt, unter Leitung von Felix Mottl.) Und schwierig, weil es noch weitgehend ohne die spezifischen Wagnerklangvisionen auskommt, für die die ganze megalomane Bayreuther Bretterbude später entworfen wurde. Insofern ist da auch nicht so riesig viel zu gewinnen für die Annalen der Wagner-Ewigkeit. In diesem Rahmen ist es aber ein starkes Dirigierdebüt, voller Spannung, mit Abstrichen im Lyrischen, aber markanten Pluspunkten in den Passagen voller italianità und schwungvoller Mendelssohn-Helligkeit, die es beim jungen Wagner noch gibt.

Wenn man noch bedenkt, dass die Musiker aus über 40 verschiedenen Orchestern unter krass erschwerten Bedingungen proben mussten und jetzt musizieren, relativiert sich manch kleinlicher Einwand doch erheblich. Allein die Leistung der Streicher, ihre Arbeit im verdeckten und ja wohl ohnehin bullenheißen Graben durchgehend mit Maske zu verrichten, muss man umso mehr bewundern, wenn man sich im Saal umschaut, wo etliche Zuschauer es nicht aushalten und an ihren Masken herumzufingern beginnen. Ein einziges Zerren und Zupfen. Vielleicht kommt das von den nervösen Händen, die nicht mehr wissen, wo sie hinsollen, denn Fächer sind heuer aerosolbedingt auch verboten (wenngleich sie draußen weiter verkauft werden, die Geschäftstüchtigkeit stirbt zuletzt). Was wiederum manch einen freut, denjenigen nämlich, für den das Luftfächerwedeln in der Oper sowas bedeutet wie das Popcornknabbern im Kino, und zwar Störung und permanente Anfechtung. Ein paar Kreisläufe kollabieren freilich auch im Festspielpublikum, das ist jedes Jahr so. Aber diesmal scheinen es noch mehr zu sein.

Nur durch klimatische Geistesbeeinträchtigung lässt sich hingegen der moralische Verfall einiger Besucher erklären, am Ende ausgerechnet den Chor auszubuhen, der mit noch drastischeren Einschränkungen zurechtkommen muss als die Orchestermusiker. Mangels anständiger Bühnenbelüftung (wie es sie sonst in jedem Theater gibt) muss der Chor aus der Ferne des Probenraums singen, auch dort durch Trennscheiben vereinzelt, und wird über Lautsprecher eingespielt. Dass das bei aller Gewissenhaftigkeit keinen perfekten Zusammensang ergeben kann, kann sich eigentlich auch ein musikferner Esel an zwei Hufen abzählen. In der Tat klingt es manchmal unbeabsichtigt turbulent. Aber woran liegt der Unmut? An einem Missverständnis etwa, weil die auf der Bühne präsenten Choristen ihre Münder so überzeugend bewegen, dass man beinah glauben könnte, sie sängen tatsächlich?

Asmik Grigorian (Senta), Chor der Bayreuther Festspiele

Senta Eilish im Menschenzoo

Oder daran, dass einige Besucher den tüchtigen Chorleiter mit dem Regisseur verwechseln? Der Buhsturm für Dmitri Tcherniakov war zu erwarten, auch wenn ich seine quergehende Inszenierung ziemlich stark finde. Dass Senta zum Angelpunkt dieses Fliegenden Holländers wird, liegt nicht nur an der umjubelten Interpretation von Asmik Grigorian, die tatsächlich mit einer stimmlichen Schönheit und vor allem wild-schnoddriger Leidenschaft spielt und singt, dass es einen umhaut, selbst wenn es gerade gegen Ende manchmal ins Schrille kippt.

Es ist ja aber auch die Regie, die eine solche begeisternde Senta erschafft: einen erratisch-exzentrischen Teenager, der sich im unerwünschten, verärgernden Austausch mit der Erwachsenenwelt schon mal unvermittelt die Kapuze übers Gesicht zieht und auch sonst die Abläufe zerschießt, wo er nur kann. Diese Senta, die an Billy Eilish erinnert, muss man lieben.

Ihren Höhepunkt findet die Aufführung in der Begegnung Sentas mit dem Holländer (von John Lundgren hochviril und mit stimmlicher Wucht, aber nicht sehr runden Phrasen gesungen). Diese Begegnung findet hier in einer von außen betrachteten Häuslichkeit statt: am Abendessenstisch in der Glasveranda des Hauses Daland, in die wir hineinglotzen wie in einen Menschenzoo. Zwischen Senta und Holländer sitzen Vater und Mutter, zu der die Nebenfigur der Mary wird. Es ist atemberaubend, wie die Hauptfiguren sich in Ekstase singen über das Elternpaar hinweg, das über seinen Tellern schweigt: der Vater stoisch weiterlöffelnd, während der Mutter selbst die Suppe im Halse steckenbleibt. Im Patriarchat deckt die Mutter den Tisch und die Schandtaten des Vaters. Aber am Ende bleibt sie betreten allein am Tisch sitzen.

Marina Prudenskaya singt diese Mary-Mutter mit großer Präsenz, während Georg Zeppenfelds Papa Daland rein sängerisch alle anderen im Ensemble überragt, auch und gerade, was die Textverständlichkeit angeht. Der Erik von Eric Cutler – um noch die weiteren Rollen zu erwähnen – kämpft in einnehmender Vergeblichkeit und mit hochdosiertem Vibrato um seine Senta, während Attilio Glaser ein besonders schön anzuhörender Steuermann ist.

Aber (Achtung, hier nun der angekündigte Vollspoiler, lesen Sie gegebenenfalls weg): Es ist die schweigende Mutter, die dem Schicksal die unerwartete Wendung gibt – indem sie, als der zurückgekehrte H. seine Rache vollenden will und schon die Kleinstadthäuser brennen, kurzerhand zur Flinte greift und den Holländer erledigt. Pustekuchen ist’s da mit der H.- oder Holländer-Erlösung ebenso wie mit ihrer Negation, nämlich der ewigen Reproduktion des Frauenopfers, das als kulturelles Muster zum Femizid wird. Wagners Werk verdient diesen ballernden Einspruch, und es hält ihn auch aus. Und paradoxerweise steht so am Ende dank der dreinschießenden Mama doch wieder eine Art Erlösung. Nämlich von der erlösungssüchtigen Psycho-Küche der zerstörerischen Männerwelt. Und man freut sich für diese Senta, dass sie leben darf. ¶

… lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Beethovn‹ (2020). Zuletzt erschien ›Silence‹. ✉️ KonzertgaengerBerlin@gmail.com

Eine Antwort auf “Post aus Bayreuth (1): Mama räumt auf in der Männerpsycho-Küche”

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