Eine der profiliertesten deutschsprachigen Opern- und Liedsängerinnen nimmt Abschied von einer ihrer Paraderollen, der Kundry in Wagners Parsifal. Am 20., 25. und 28. März 2016 wird sie bei den Festtagen der Staatsoper Berlin zum letzten Mal diese komplexe Figur auf der Bühne darstellen. Mitten in der Probenzeit traf ich Waltraud Meier zu einem Gespräch in der Staatsoper.

Waltraud Meier · Foto © Nomi Baumgartl
Waltraud Meier · Foto © Nomi Baumgartl

VAN: Wie ist es, die Rolle der Kundry in einer Produktion zu übernehmen, die im letzten Jahr bereits ohne Sie fertiggestellt wurde? Ist es schwer, einen Zugang zu finden?

Waltraud Meier: Es ist schon etwas schwieriger. Ich entwickle eigentlich gerne mit dem Regisseur zusammen etwas. Meine Aufgabe ist es nun also, meine Auffassung der Figur Kundry, die ich nun mal habe, stimmig mit in diese Produktion hinein zu bringen.

Seit 34 Jahren singe ich die Kundry jetzt schon, in über 20 Produktionen – zumindest habe ich bei 20 aufgehört zu zählen. Ich habe mich mit dem Stück sehr, sehr intensiv beschäftigt – vor allem in psychologischer Hinsicht. Da bringe ich natürlich eigene Gedankengänge mit. Und die müssen eben ins Gefüge der Produktion passen. Ich darf mit meiner eigenen Konzeption nicht den Rahmen dessen sprengen, was der Regisseur sich erdacht hat. Ich darf keine völlig andere Geschichte erzählen.

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Waltraud Meier als Kundry: Parsifal, 2. Akt. Eine Produktion von Harry Kupfer an der Staatsoper Berlin (1992). Musikalische Leitung: Daniel Barenboim.

Haben Sie denn den Anspruch, auch nach diesen vielen Jahren und Produktionen noch neue Facetten an der Rolle der Kundry zu entdecken?

Unbedingt! Ich habe schon lange keine Produktion mehr erlebt, wo tiefenpsychologische Aspekte wirklich erspürt werden. Das vermisse ich ziemlich. Und darauf arbeite ich bei den jetzigen Proben hin.

Es kann ziemlich schwer sein, einen Zugang zu Wagner zu finden. Die Werke sind sehr lang, die Musik zum Teil monumental. Haben sie einen Tipp für Menschen, die einen Weg zu Wagner finden wollen?

Da muss ich erst mal den Menschen kennenlernen. Welchen Zugang hat er zu künstlerischen Dingen? Kann ich ihn etwa mit dem Vorspiel von Tristan und Isolde kriegen? Ich würde sagen: ›Hör genau hin, es ist so wie auf einem Schiff zu sein. Du hörst genau die Wellen. Es geht auf und ab. Es steigert sich, bis zu einem Höhepunkt. Aber das war noch gar nicht der Höhepunkt. Du erlebst hier also auch etwas erotisches, etwas, das vorweggenommen wurde.‹ Wagner ist eben auch – grausig vereinfacht – Filmmusik. Es ist alles so plastisch, man sieht die Dinge vor sich.

Und trotz der Länge können diese Opern einem dennoch auch regelrechte Ohrwürmer bescheren. Teilweise sind das dann nur kurze Phrasen, die sich aber für Wochen im Hirn festsetzen. Für mich ist das momentan die »er sah mir in die Augen« Phrase aus dem ersten Akt des Tristan. Kennen Sie diese Ohrwürmer auch?

Ja, die haben sehr viel mit dem Wiedererkennen eines Leitmotivs zu tun. Ich habe die auch andauernd, ganz furchtbar (lacht). Momentan bin ich zum Glück frei davon. Durch die Probenarbeiten sind gerade so viele Melodien in meinem Kopf, dass ich nicht von einer einzelnen gequält werde.

Aber diese Momente, die einen nicht mehr loslassen, machen Wagner ja auch ein wenig aus. Auf einmal ist man gepackt und weiß vielleicht gar nicht genau warum.

Eben! Wagner sollte nicht nur – unbedingt auch, aber nicht nur – intellektuell erfasst werden. Sondern es soll einen direkt, wie die Amerikaner so schön sagen in the guts treffen, den Eingeweiden. Da muss man sich einfach öffnen. Richtig interessant wird es dann aber, wenn man dem nachspürt. Nicht nur ›wow, toll‹ zu sagen, sondern zu fragen, was genau es war, das einen so berührt hat. Welche Saite an mir hat dieser Moment angerissen?

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Das Vorspiel zu Tristan und Isolde. Dirigat von Christian Thielemann. Die perfekte Einstiegsdroge für Wagner?

Dafür muss dieses Gefühl aber auch erst mal ausgehalten werden. Man muss sich also darauf einlassen können, von dieser Musik auch mal überwältigt zu werden.

Ja. Aber eben nicht kritiklos stehen lassen. Man muss Wagner auch immer hinterfragen. Eine gute Balance muss da sein. Für ihn selbst war es das wichtigste, diese Balance. Es gibt keine musikalische Linie bei Wagner, die nicht auch Bedeutung tragen würde.

Sie singen nicht nur in Wagner-Opern. Von Strauss über Beethoven zu Verdi ist einiges in ihrem Repertoire. Würden Sie dennoch sagen, dass sie ein Wagner-Publikum erkennen könnten?

Ich kann mir denken, dass es ein Wagner-Publikum nicht zu einem Mega-Star in einer Donizetti-Oper ziehen würde. Aber ansonsten kann ich da keine großen Unterschiede ausmachen. Don Carlos sehen sich Wagner-Fans sicher auch an. Oder Wozzeck.

Würden Sie denn sagen, dass sich das Publikum in dem Zeitraum den Sie nun schon auf der Bühne stehen, verändert hat?

Ja! Mit großem Bedauern stelle ich fest, dass das Publikum nicht mehr wirklich weiß, wie die Stücke in ihrem Wesenskern eigentlich sind. Es wird dazu angehalten, den Text nicht mehr ernst zu nehmen, schaltet teilweise ab, fragt nicht mehr nach: Was hat das wirklich mit dem Inhalt des Stücks zu tun, was ich da auf der Bühne sehe? Was ist der philosophische oder psychologische Kerngedanke eines Stückes?

Eine ironische Brechung wird inzwischen immer schon erwartet. Ein Regisseur der dem Publikum zuruft, das doch bitte alles nicht so ernst zu nehmen, ist gang und gäbe.

Ich habe immer noch im Ohr, was Klaus Michael Grüber mir gesagt hat: ›Ich bin kein Regisseur, ich möchte der erste Beobachter sein. Ich möchte Dir auf der Bühne glauben können.‹ Es geht also darum, den Text, den man spricht oder singt ernst zu nehmen. Jede Form von Ironie und Sarkasmus zu entfernen. Die gibt nur Distanz, so kommt man nicht ans Wesentliche ran. Das ist dann Feigheit vor einer großen Kunst.

Es gilt auch mal ein Unbehagen auszuhalten. Oder das genaue Gegenteil, etwas Großes in sich selbst zu erkennen. Und diese Größe auch anzuerkennen und nicht gleich wieder verneinen zu wollen.

Das alles findet man im Kern dieser Stücke. Darum ist Patrice Chéreau, ohne die vielen wunderbaren Regisseure, mit denen ich in meinen 40 Jahren zusammengearbeitet habe, damit herunterspielen zu wollen, auch derjenige, mit dem ich am liebsten zusammengearbeitet habe. Weil es für ihn unabdingbar war, immer auf den tiefsten Kern der Aussage zu kommen. Und nicht seine eigenen Kommentare darzustellen. Das habe ich so satt.

Auch wenn die Stücke schon mehrere hundert Jahre alt sind?

Dieser Drang zur Aktualisierung, der immer wieder zu sehen ist, ist Unfug. Es scheint, als ob man den Zuschauern oder Zuhörern nicht zutraut, das alles in ihre persönliche Aktualität zu übersetzen. Dann müsste man nämlich keine äußerlichen Änderungen vornehmen, wie etwa die Handlung in ein Großraumbüro zu verlegen. Big Deal, wenn das dann alles ist.

Natürlich haben wir viele ganz tolle Regisseure, die sich auch ganz akribisch mit dem Stoff auseinandersetzen. Und die sind dann auch oft sagenhafte Handwerker. Nur: sie tun dann ihre persönliche Meinung dazu. Und die Art und Weise, wie sie es in der Folge behandeln, da liegt der Fehler. Die können das Stück in- und auswendig. Aber sie vergewaltigen es.

Ich habe auch meine Meinung zu den Rollen, die ich spiele. Aber die zeige ich nicht. Wenn ich »Ortrud« spiele, dann fühle ich mich voll und ganz im Recht. Und dann muss ich auch gar nicht erst böse spielen. Ich muss das, was sie sagt, selbst mit voller Überzeugung sagen. Dann ist es stimmig.

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Waltraud Meier als Isolde in Paris, 2007; der Liebestod. Regie führte Patrice Chéreau, musikalische Leitung: Daniel Barenboim.

Sie sagen, dass Sie sich nie eine Oper ansehen, in der Sie selbst eine Rolle singen. Wird sich das nun ändern? Letztes Jahr haben sie zum letzten Mal die Isolde gesungen, jetzt ist es die Kundry. Werden Sie sich die Stücke jetzt auch wieder selbst ansehen können?

Nein, das ist das Traurige. Das habe ich Barenboim noch nach dem letzten Tristan gesagt: ›Was mich am meisten bedrückt ist, dass ich jetzt wahrscheinlich kaum mehr Tristan hören werde.‹ Ich habe ihm dann gesagt, dass ich ihn mal bei Orchesterproben besuchen werde, wenn keine Sänger dabei sind. Damit ich die Musik mal wieder höre.

Was wird nach der letzten Kundry passieren? Erst mal durchatmen oder geht es direkt weiter?

Ich möchte alles in meinem Leben bewusst tun. Und so möchte ich auch diesen Abschied von der Rolle bewusst erleben. Dankbarkeit, Trauer, Wehmut, das alles gehört dann mit dazu. Auch Erfüllung! Das muss ich dann erst mal so verdauen.

Dennoch habe ich den Wunsch, und wenn ich nur dabei sitzen werde ohne selbst zu singen, einmal mit einem Regisseur einen Parsifal zu erarbeiten, der wirklich mal den Kern des Stückes erfasst.

Selbst Regie führen?

Nein! Ich habe nicht so diese Vision für das gesamte Stück. Ich gehe immer von den Personen aus.

Und Memoiren oder eine Autobiographie?

Wissen Sie, das was interessant wäre, bestünde in so einem ›Auspacken‹ oder geschwätzigen Reden. Das will ich nicht. Und nur oberflächlich drumherum reden, wen interessiert das schon?

3 Antworten auf “»Dieser Drang zur Aktualisierung ist Unfug.«“

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