Im Wald – da sind bekanntlich nicht nur die Räuber. Im Wald lauern auch, laut Sigmund Freud, allerhand unterbewusste Ängste und Gelüste. Egal, ob man sich also alleine oder unter »Leuten« im Wald befindet: Es ist gefährlich dort. In der großen Psychoanalyse-Pionierzeit Anfang des 20. Jahrhunderts ließ sich Arnold Schönberg von Marie Pappenheim (deren Bruder schließlich Psychiater wurde) ein Libretto schreiben, das seines Monodramas Erwartung op. 17 (1909). Ein Ein-Frauen-Stück, circa 30 Minuten lang, hochmodern, expressionistisch, expressiv, extrem. Des Nachts sucht eine junge Frau ihren Geliebten im Wald. Voller Angst erlebt sie alle möglichen seelischen Ausnahmezustände, auch Hoffnung, Licht. Doch läuft sie der Leiche ihres Geliebten letztlich genau in die (toten) Arme …

Die Oper Wuppertal verbindet das berühmte Schönberg-Stück mit dem 1902 an der heutigen Staatsoper Berlin uraufgeführten Einakter Der Wald der britischen Deutschlandliebhaberin und einstigen Leipziger Carl-Reinecke-Studentin Ethel Smyth. Eine sehr gute Idee. Aus (mehreren) Gründen.

Der junge Regisseur Manuel Schmitt verortet Schönbergs Angstdrama Erwartung nicht in dem »vorgesehenen« Wald. Auf der von Julia Katharina Berndt gestalteten Bühne sehen wir eine Hotel-Rezeption zur Linken, große Schrankfächer zur Rechten und in der Mitte ein großes expressionistisches Bild: eine blaue Version von Edvard Munchs Consolation in the Forest (1924/25). Hanna Larissa Naujoks trifft auf diese einsame Szenerie, als Geworfene, als bereits Verstörte. Ihr Sopran ist fantastisch, nicht zu hochdramatisch, nicht zu lyrisch defensiv. Ihre Textverständlichkeit ist für eine Frauenstimme außerordentlich, ihre Stimmfärbung angenehm, ihr Partitur-Verständnis und ihr Zusammenwirken mit dem Wuppertaler GMD Patrick Hahn höchst erfreulich. Und sie kann spielen!

Hanna Larissa Naujoks in Erwartung • Foto: Björn Hickmann

Naujoks umarmt das Bild, will »hineinkriechen«. Kurz berührt sie sinnlich die Blumen an der Hotel-Rezeption. Bald mischen sich Personen in das Solo-Bild, die später – in der Smyth-Oper – wiederkehren. Manuel Schmitt sucht nach Bezügen, nach Ähnlichkeiten, nach Verbindungsankern. Und findet sie hier wie dort, gleichermaßen überzeugend.

Das Orchester unter Patrick Hahn spielt fein und radikal zugleich. Die vielen schönen Cello-, Bratschen- und Harfen-Soli bei Ethel Smyth: herrlich glitzernd und ausdrucksvoll. Manchmal geht es dynamisch vielleicht etwas über die Gesangsstimmen hinaus. Aber das schmälert das Gesamtvergnügen an keiner Stelle.

Hanna Larissa Naujoks in Erwartung

Regisseur Schmitt schafft auch librettoimmanente Bezüge. Heißt es in dem Pappenheim-Text für Schönbergs Erwartung »Hört mich denn niemand?«, so wendet sich Solistin Naujoks noch einmal der leeren Hotel-Rezeption zu. Bei »Oh, es ist heller Tag!« zieht sie sich ihre Jacke aus. Statisten durchwandern geisterhaft den Raum. Aus dem Schrank fällt das von Heinrich (bei Smyth) gewilderte Reh. Als Symbol des Schreckens, als Verkörperung unterbewusster Traumata der Schönberg-Solistin. »Für mich ist kein Platz da« heißt es bald im Libretto. Und, ja, das passt hervorragend zu dem nicht mit Personal besetzten Hotel-Empfang. Bei »Liebster, der Morgen kommt« liegt Naujoks eng umschlungen mit dem toten Reh auf dem Boden. Dazu die modernste Musik ihrer Zeit überhaupt. Gemeinschaftlich hält man den Atem im Saal an.

Hanna Larissa Naujoks in Erwartung • Foto: Björn Hickmann

Und »endlich« die Erlösung durch das Smyth-Stück. Wärmste Brahms-Klänge durchwandern den Raum im Prolog. Zu Beginn gemahnt der Waldgeister-Chor an die allgemeine Vergänglichkeit des Menschen, im Angesicht der »ewigen« Natur. Alles fühlt sich ein bisschen wie der Beginn von Webers Freischütz an, denn Dorfleute zelebrieren ihre Vorfreude auf die Hochzeit von Röschen und dem Holzfäller Heinrich. Ein Hausierer unterbricht das ausgelassene Treiben und kündigt Jolanthe an, eine Geliebte des Landgrafen Rudolf. Über die sagt man allerdings nichts Gutes. Sie sei eine »Hexe«. Heinrich, Röschens Verlobter, bringt ein gewildertes Reh zur Hochzeit mit. Darauf steht eigentlich die Todesstrafe. Der Hausierer hat die Szene aus einem Versteck heraus beäugt und macht sich aus dem Staub, weil er fürchtet, an Heinrichs statt für die Untat belangt zu werden. Heinrich versteckt das Reh – und Röschen leidet unter bösesten Vorahnungen. Jolanthe taucht vor Heinrich auf und versucht, ihn zu verführen. Landgraf Rudolf kommt des Weges, doch Jolanthe weist ihn ab. Und Heinrich beharrt auf seiner Liebe zur Röschen.

Bald zerren die Dorfleute den Hausierer vor sich her und entdecken dabei das von Heinrich gewilderte Reh. Landgraf Rudolf nutzt dieses Missverständnis, um sich an Jolanthe und Heinrich zu rächen. Er sagt den Leuten des Dorfes im Grunde die Wahrheit: Heinrich hat das Reh gewildert. Jolanthe ihrerseits droht nun Heinrich: Er möge ihr Geliebter werden – und nur so Rettung erlangen. Röschen reagiert selbstlos und beschwört Heinrich, ihr nachzugeben, um zu überleben. Doch Heinrich beharrt auf seiner grenzenlosen Liebe zu Röschen und besiegelt damit sein Schicksal. Ein Plädoyer für die Liebe, selbst im Angesicht des Todes.

Der Wald • Foto: Björn Hickmann

Den Übergang von Schönberg zu Smyth hatte Manuel Schmitt geschaffen, indem er die sich bereits auf der Bühne befindende Axt von der Erwartung-Protagonistin als Zerstörerin des blauen Bildes hinter der Rezeption sachdienlich nutzen ließ. Hinter dem nun kaputten Bild: Licht und Nebel, tolle Raumtiefe. »Wir weben und schweben« heißt es im Chortext. (Der Chor der Oper Wuppertal: mehr als souverän – und szenisch höchst spielfreudig).

Die grandios durchwirkte Musik von Ethel Smyth: Warum hat man sie nicht alle Jahrzehnte hindurch weltweit gefeiert, aufgeführt und »gesehen«? Man versteht es überhaupt nicht. Der Stoff von Der Wald (der nicht zu peinliche Text stammt von Freund Henry Brewster) erinnert nicht nur an Webers Freischütz, sondern in der Anlage auch an Wagners Die Feen. Nur – weil: Smyth – mit besserer Musik.

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Immer wieder tönen Volksmusikanklänge bei Smyth durch. Diese gelangen jedoch nie stumpf affirmativ oder instrumentatorisch banal ins Ohr. Die Dramaturgie der Partitur: Herrlich schnell – und dabei doch jedes Gefühl empathisch aufgreifend. Wie Wagner auf Speed.

Bald hüpft der Chor zu den Volksmusikklängen, bald dunkelt sich die Partitur harmonisch-farbig ein. Alle Sängerinnen und Sänger zeigen an diesem Abend ihre besten Seiten. Die Besetzung ist perfekt. Besonders begeistert Edith Grossman als expressive, feurige und äußerst präsente Jolanthe.

Edith Grossman als Jolanthe

Und auch die Tenöre des Hauses können was, übernehmen sich nicht. Die Tenorstimme von Sangmin Jeon (er singt den Heinrich) befindet sich angenehm weit vorne. Auf dem Papier ein lyrischer Tenor – allerdings mit baldiger Tendenz zum Heldischen. Auch ist ihm nicht die typische gestisch-szenische Tenorstarre zu eigen. Hier umarmt man sich noch richtig. Oder geht gemeinsam zu Boden.

Sangmin Jeon als Heinrich und Mariya Taniguchi als Röschen

Ethel Smyth biedert sich dabei musikalisch nie an Wagner (oder Brahms) an, wobei sie dezent und äußerst geschmackvoll Wagners Leitmotivtechnik übernimmt; so ertönt bei Erwähnungen oder Auftritten der »Hexe« Jolanthe häufig ein (an)klopfendes und rhythmisiertes Klein-Terz-Oktav-Motiv, etwa in der Form e2-e2-e2-g2-g1. Ihre Art zu komponieren: durchweg spannend, intelligent – und dennoch von herrlichsten Ausbrüchen des romantischen Orchesters durchsetzt. Patrick Hahn genießt diese Partitur hörbar und holt alles aus dem lustvoll zu Werke gehenden Ensemble heraus. Das grandios ausgeleuchtete Bühnenbild macht dabei ebenso äußerst viel Lust. Man sieht sich kaum satt.

Bald wird in der Regie Manuel Schmitts deutlich, welche Figuren von Der Wald bereits kurzzeitig in seiner Deutung von Schönbergs Erwartung am Rande »aufgetreten« waren. Zum Schluss entsteigt dem einstmals zerstörten Hotel-Rezeptions-Bild die dort hineingegangene Naujoks – und begegnet Röschen. Bei beiden Frauen ging es um stärkste Liebe und um Angst. Erwartungs-Protagonistin und Wald-Röschen stehen sich letztlich gegenüber. Ein starkes Bild eines starken Doppel-Abends. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.

Eine Antwort auf “Liebe und Tod, Tod und Liebe”

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