»Wir kennen uns seit 48 Stunden«, erklärt Dirigentin Mary Ellen Kitchens zu Beginn des Werkstattkonzerts des Frauenorchesterprojekts (FOP) und macht eine ausladende Bewegung in Richtung der über 80 Musikerinnen, die sich auf die Astrid-Lindgren-Bühne des FEZ in Berlin quetschen. Dieser Hinweis hat fast etwas von Tiefstapelei: In Alice Mary Smith’s Ouvertüre zu ›Masque of Pandora‹ sitzt unter dem Dirigat Kitchens‘ das Zusammenspiel auch nach der wenigen Probenzeit, die Dynamik ist fein ausdifferenziert, die dramatischen Ausbrüche wecken alle, die hier am Sonntagmorgen noch etwas verpennt lauschen. Einzig die manchmal etwas wacklige Intonation erinnert daran, dass hier zum großen Teil ambitionierte Laien musizieren. Auf dem Programm stehen außerdem Florence Price, Barbara Heller und zwei Uraufführungen: Dorothee Eberhardts Luminoso und Michaela Dietls Walsa fantastica für Akkordeon und Orchester. Und: Henriëtte Bosmans’ Belsazar für Alt und Orchester, (nach der Ballade von Heinrich Heine), das bei diesem Konzert höchstwahrscheinlich zum ersten Mal seit der Uraufführung 1936 wieder erklingt. Dem FOP geht es darum, möglichst viel Musik von Komponistinnen hörbar zu machen: 56 Werke umfasst das Repertoire aktuell, das früheste datiert um 1770, das neueste wurde noch am Vorabend des Konzerts bearbeitet. »Im Englischen würde man sagen, wir sind ein ›Reading Orchestra‹«, erklärt Kitchens nach dem Konzert. »Es geht darum, viel Literatur zu lesen, Höreindrücke zu bekommen.« Die Dirigentin leitet neben dem FOP noch einige weitere Orchester und Chöre, arbeitet im Archivwesen des Bayerischen Rundfunks und engagiert sich ehrenamtlich bei dem Internationalen Arbeitskreis Frau und Musik, dem Trägerverein vom Archiv Frau und Musik in Frankfurt am Main. Die jeweiligen Programme für das FOP plant sie in Absprache mit einem Team aus neun Musikerinnen. Die Fäden laufen dabei zusammen bei Orchesterorganisatorin und FOP-Oboistin Beatrice Szameitat. Alle arbeiten hier ehrenamtlich, mit großer Hingabe. »Hearing is Believing. Der Höreindruck berührt, da will man mehr!«

Ich treffe Mary Ellen Kitchens und Beatrice Szameitat nach dem Konzert. Sie sind erschöpft, aber gelöster Stimmung. Sofort wird das Du angeboten.

Mary Ellen Kitchens und Beatrice Szameitat

VAN: Wie kommt es, dass hier heute mit Belsazar von Henriëtte Bosmans ein Stück 87 Jahre nach der Entstehung wieder aufgeführt wurde?

Mary Ellen Kitchens: Ich lese von früh bis spät alles, was ich finde über Komponistinnen, ich kann es nicht lassen. Und so habe ich Belsazar einfach in Bosmans Werkliste gefunden. Wahrscheinlich hat es in den 1930er Jahren eine Aufführung dieses Stückes gegeben. Warum schreibt man sonst so ein Werk? Aber wir haben mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit heute die erste Aufführung dieses Stückes in der aktuellen Zeit gehört.

Beatrice Szameitat: Bei Belsazar hab ich die Noten gesehen und eher gedacht: ›Mal gucken.‹ Und als es dann losging mit dieser düsteren Stimmung und diesen Wahnsinnsakkorden, war ich völlig begeistert.

Kitchens: Ich bin seit einiger Zeit fasziniert von der Biographie von Henriëtte Bosmans. Sie hat oft speziell für Solistinnen und Solisten geschrieben, zu denen sie einen persönlichen Bezug hatte. Ihre frühen Werke sind für Cello, die hat sie für Frieda Belinfante geschrieben. Von dieser Cellistin gibt es Zeitzeugeninterviews online und da erzählt sie von ›Yetti‹, von ihrer Beziehung in jungen Jahren mit Henriëtte Bosmans. Danach war Bosmans mit einem Geiger liiert, da kommen dann Werke für Geige, und später im Leben für Gesang.

Die Belsazar-Solistin Merlind Pohl

Wie entscheidet ihr, welche Stücke ihr spielt?

Szameitat: Wichtig ist vor allem die Besetzung. Wir haben als ganz kleines Orchester angefangen, mit 17 Frauen. Jetzt sind wir über 80. Darum sind wir auf groß besetzte, spätromantische Musik angewiesen oder Modernes. Uns liegt außerdem am Herzen, neue Werke aus der Taufe zu heben, nach Musik zu suchen, die tatsächlich noch nie aufgeführt wurde, auch ältere, zum Beispiel im Archiv Frau und Musik. Mir ist wirklich wichtig, dass wir diese Stücke ans Licht bringen, die in irgendwelchen Schubladen liegen. Für die Persephone-Ouvertüre von Imogen Holst zum Beispiel haben wir aus England von der Britten Stiftung Scans ihrer Handschrift bekommen zum Spielen. Das wurde von uns ggf. auch erstmals aufgeführt.

Kitchens: Bei Imogen Holst war es auch so: Ich habe die Werkliste gelesen und eine Persephone-Ouvertüre gefunden, die gut zu unserer Besetzung passt. Und dann habe ich angefangen nach Noten dafür zu recherchieren.

Gab es eine Entdeckung beim FOP, die besonders folgenreich war in dem Sinne, dass das Stück dann auch auf anderen Programmen landete?

Kitchens: Emilie Mayer wird zum Beispiel immer bekannter. Das Orchester hat von Anbeginn an eine Verbindung zu Mayer, weil die Gründungsmutter des Orchesters, die Kontrabassistin Gudrun Schnellbacher, in der Staatsbibliothek hier in Berlin die dritte Sinfonie von Mayer gefunden hatte. Sie hat in mehreren Orchestern gespielt, aber da wollte das niemand probieren, wohl mit der Begründung: zu unbekannt. Zusammen mit Tobias [Fasshauer] hat sie die Sinfonie dann ediert und das FOP gegründet, um sie Satz für Satz zu spielen. Mittlerweile ist die Sinfonie auch bei Furore Verlag erschienen, aber es gab durch das FOP auch davor schon eine Ausgabe, aus der man spielen konnte.

Szameitat: Wir haben außerdem eine spielbare Version der Ouvertüre Zum Goldenen Horn von Vilma Weber von Webenau machen lassen, das ist auch noch nicht erschienen, aber es wäre toll, wenn damit noch was passiert. Wir merken auch, dass die vielen FOP-Spielerinnen, die ja aus ganz Deutschland kommen, die Erfahrung vom FOP in die Welt tragen.

Kitchens: Eine Musikerin von uns, Fanni Mülot, ist erste Vorsitzende der hessischen Sektion [LHLO] des Bundesverbands Amateurmusik Sinfonie- und Kammerorchester [BDLO], mit dem BDLO ist FOP also gewissermaßen verbunden. Und beim BDLO dort wird jetzt die Noten-Datenbank überarbeitet, damit Komponistinnen viel besser zu finden sind.

Ist denn im Amateur:innenbereich eine Offenheit da für Musik von Komponistinnen? Ich habe manchmal das Gefühl, dass gerade dort besonders Bekanntes programmiert wird, um Menschen, die ›endlich mal selbst Beethoven spielen wollen‹, in die Ensembles zu holen.

Kitchens: Ich teile das Musizieren im Orchester in der Hinsicht immer in drei Bereiche ein: Berufsorchester, davon etwas abgetrennt nochmal die Freie Szene und die Amateur:innen. In der Freien Szene gibt es die größte Offenheit, die wollen etwas Neues präsentieren. Bei den Berufsorchestern gibt es die, die sagen: ›Wir müssen die großen War Horses bringen, denn deswegen kommen die Leute, vor allem nach dieser schweren Coronazeit.‹ Und andere sagen: ›Genau jetzt ist der Zeitpunkt, vorwärts zu gehen. Es kommen eh wenige, auch wenn wir die Standardwerke präsentieren. Dann lass uns was Neues machen!‹ Es sind vielleicht nicht unbedingt die A-Orchester, die so handeln, aber B und C. Mit Joseph Bastian zum Beispiel, dem neuen Chef der Münchner Symphoniker, sprach ich neulich über Repertoirevorschläge, weil er gerne Komponistinnen spielen will.

Im Amateurbereich muss ich für Komponistinnen manchmal noch Überzeugungsarbeit leisten, aber ich baue in jedes Konzert, das ich dirigiere, mindestens ein Stück einer Komponistin ein. Ich mache in meinem nächsten Konzert mit dem Orchesterverein Kempten die Unvollendete, aber eben auch Rain, Steam and Speed von Cecilia McDowall – ein Stück, das ich bei FOP kennengelernt habe.

Bei einem meiner Orchester gibt es diesen Musiker im Vorstand, der eher zurückhaltend ist: ›Wieder eine Komponistin? Das Stück kenne ich gar nicht.‹ Ein ganz toller Musiker, aber etwas skeptisch. Und neulich habe ich eine Mail von ihm bekommen: ›Kennst du diese Sinfonie von Amy Beach?‹ [lacht] Da möchte ich dann auch ganz bald ihre Gälische Sinfonie programmieren.

Es gibt natürlich auch im Amateurbereich die, die den Kanon aufbrechen wollen, vielleicht auch neue Stücke in Auftrag geben und mit der Komponistin eng zusammenarbeiten – warum nicht?

[Der BDLO hat zu seinem 100-jährigen Jubiläum im Jahr 2024 einen Kompositionswettbewerb ausgerufen.]

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Die Musik von Komponistinnen zu spielen und bekannter zu machen, ist als Grundidee sehr einleuchtend. Warum ist es euch wichtig, dabei auch nur mit Frauen zu spielen?

Szameitat: Das ist einfach die Genese des Projekts, dass sich 2007 diese 17 Frauen zusammengetan haben. Als ich das erste Mal dazugestoßen bin, ist mir aufgefallen, dass es eine tolle Atmosphäre ist unter Frauen. Ich habe da lange drüber nachgedacht, was genau das ist, und ich habe es immer noch nicht ganz herausgefunden. Es ist einfach ein geschützter Raum. Einige legen da großen Wert drauf, andere Musikerinnen würden auch mit Männern spielen.

Kitchens: Das FOP ist definitiv ein Frauenvernetzungsort. Und es geht auch darum, zu spüren, welche Kraft wir haben.

Szameitat: Wir merken: Es gibt auch an der Tuba und an der Pauke Frauen. Gestern mussten wir an der Tuba spontan nachbesetzen, sogar das hat geklappt.

Die aktuelle Percussionsgruppe des FOP

Welche Veränderung beobachtet ihr in den letzten 16 Jahren, also seit der Gründung des FOP, was Komponistinnen im heutigen Konzertleben angeht?

Kitchens: Inzwischen gibt es gottseidank einiges an Zahlen und Messlatten: Studien wie die von Melissa Panlasigui oder donne – Women in Music von Gabriella Di Laccio.

Szameitat: Die donne-Studie von 2022 [die die Programme von 111 großen Orchestern aus 31 Ländern analysiert] hat gezeigt, dass immer noch nur zu gut 7 Prozent Werke von Komponistinnen gespielt werden. Das ist natürlich eine deprimierende Zahl. Ich habe aber auch den Eindruck, dass sich was bewegt.

Kitchens: In Chicago gibt es sogar ein Orchester [die Chicago Sinfonietta] unter der Leitung von Mei-Ann Chen, das zur Hälfte Werke von Komponistinnen spielt. Es gibt einen gewissen Schwung, was mich sehr freut. Wenn wir fragen, wie viele FOP-Musikerinnen in ihren Heimatorchestern Stücke von Frauen spielen, beobachten wir da einen Unterschied zu vor drei Jahren – vielleicht ein Drittel waren es dieses Mal: Price, Mayer, Farrenc, Clara Schumann, Smyth … Ich habe schon den Eindruck, dass es fast eine Art neue Kanonbildung mit diesen inzwischen etwas bekannteren Komponistinnen gibt. Da müssen wir zeigen, wie breit das Schaffen von Komponistinnen ist, auch auf Künstlerinnen wie Elfrida Andrée oder Imogen Holst verweisen. Bei Repertoire aus Amerika, und besonders auch Südamerika ist noch sehr viel zu entdecken: Chiquinha Gonzaga haben wir gespielt, Elsa Calcagno … Ich habe online eine Liste entdeckt, in der alle Sinfonien von Komponistinnen verzeichnet sind. Ein Typ in Wisconsin, der eigentlich Astronom ist, führt diese Liste. Da kann man noch einiges finden.

Es gibt auch immer mehr gute Einspielungen, die auch im Radio kommen, auch das ist wichtig. Und: Auch in der ARD-Aussprachedatenbank wurden gerade massiv Komponistinnen hinzugefügt.

Die Partituren des diesjährigen FOP-Konzerts

Welche Rollen spielen Vereine wie FOP oder das Archiv Frau und Musik bei dieser Entwicklung?

Kitchens: Beim Archiv merken wir: Es kommen viel mehr Rechercheanfragen: ›Wir wollen Komponistinnen programmieren, was gibt es da?‹ Da helfen wir natürlich bereitwillig, das ist eine unserer Hauptdienstleistungen. Aber wir brauchen eigentlich mehr Personal. Und das ist ein gutes Zeichen. Auch da sind es mehr die freien Orchester, die anfragen oder selbst stark recherchieren, in Deutschland zum Beispiel das Ensemble Reflektor, Operation der Künste, die Kammerphilharmonie in Frankfurt, das freie Orchester Leipzig …

Diese Ensembles sind zum großen Teil recht jung – beobachtet ihr auch beim FOP eine Art Generationenwechsel?

Kitchens: Durch den Beginn 2007 und zum Teil noch im Esprit der Zweiten Frauenbewegung haben wir eine höhere Repräsentanz älterer Generationen hier, Personen – eigentlich muss man sagen: Persönlichkeiten –, die sich damit identifizieren. Wir haben noch diesen Elan der 70er und 80er Jahre, da möchte ich mich selbst auch nicht ausschließen. Aber wir sind definitiv intergenerationell und viele jüngere Musikerinnen sind auch dabei.

Szameitat: Es waren gerade dieses Mal viele Neue, die von außen dazu kamen, etwa die Hälfte der Musikerinnen. Wir denken jetzt darüber nach, bei den Bläsern von zweifacher auf dreifache Besetzung zu erweitern.

Kurzer Videoclip aus dem 2. Satz von Florence Prices Ethiopia’s Shadow in America. Das Werk der afro-amerikanischen Komponistin, die die Wirrungen und Prüfungen im Leben eines Sklaven in drei kurzen Sätzen schildert, war eines der Lieblingsstücke der Musikerinnen, die bei FOP 2023 dabei waren.

Wenn ihr ein Stück nennen könntet, das dringend mehr gespielt werden sollte – welches wäre das?

[Beide überlegen etwas.]

Kitchens: Wir haben schon Lieblingskomponistinnen, Bacewicz zum Beispiel. Ihr Konzert für Streichorchester ist eines der tollsten modernen Werke, das wird auch immer mehr gespielt. Aber ihre (heute noch erhaltenen) vier großen Sinfonien gehören auch alle gemacht! Ihre zweite Sinfonie haben wir gespielt, davon gibt es auch noch keine Aufnahme auf dem Markt.

Szameitat: Das war einfach super intelligent komponierte, witzige, farbenreiche Musik, hat nur so gesprüht. Vorderste Stuhlkante!

Kitchens: Ich glaube, so hat sie auch gelebt. Es gibt ein Zitat von ihr, dass sie sich als dreimal so schnell empfindet wie alle anderen. Man spürt auch das Geigerische. Und sie hat so phantastische und für mich völlig unerhörte Klänge geschrieben. Ich hatte nach FOP richtig Sehnsucht danach: In diesem See will ich weiter schwimmen. ¶

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com