Am Nikolaustag 1895 kam Henriëtte Bosmans in Amsterdam zur Welt. Ihre Mutter war die Pianistin Sara Benedicts (1861–1949), die zu dieser Zeit zu den zentralen Persönlichkeiten des Musiklebens der Stadt zählte. Benedicts stammte aus einer jüdischen Amsterdamer Familie, innerhalb der Musik eine große Rolle spielte. Diese Praxis gab Mutter Sara an ihre Tochter Henriëtte weiter (1881 hatte sie den – römisch-katholischen – Cellisten Henrik Bosmans kennengelernt und 1886 geheiratet). Es gibt wohl keine Familie auf der Welt, in der auch nur ein einziges Kind kein Instrument lernt, wenn beide Eltern Profi-Musiker:innen sind.

So unbeschwert, wie man vielleicht glauben mag, verliefen die ersten Ehejahre der Eltern von Henriëtte Bosmans leider nicht. Bald nach der Hochzeit beklagte man den schwer zu verkraftenden Tod von gleich zwei Kindern: Beide Töchter – geboren 1886 und 1887 – starben bereits im Säuglingsalter. Henriëtte Bosmans überstand ihre Kinder- und Jugendjahre unbeschadet. Dafür verstarb ihr Vater Henrik, als Henriëtte gerade einmal acht Monate alt war. Von ihrer Mutter erhielt Henriëtte den ersten Klavierunterricht. Doch stand nicht als nächster Schritt der Gang aufs Konservatorium ins Haus. Zunächst blieb Henriëtte Privatschülerin ihrer Mutter und besuchte nebenher eine reguläre Musikschule. In diesen Jahren der Adoleszenz verfertige sie wohl ihre ersten Kompositionen.

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Ende des Jahres 1915 spielte die 19-Jährige den Solo-Part von Mozarts Konzert für Klavier und Orchester B-Dur KV 450, worauf einige Engagements folgten, unter anderem als Solistin des vierten Klavierkonzerts G-Dur von Ludwig van Beethoven im legendären Amsterdamer Concertgebouw. Auch wurde Bosmans zu einer der ganz wenigen Pianistinnen, die die zu Unrecht selten gespielte – sogar von Glenn Gould geschätzte – Burleske für Klavier und Orchester von Richard Strauss verteidigten, sprich: aufs Programm setzen ließen.

Darüber hinaus betätigte sich Bosmans als Kammermusikerin. Doris Hermanns schreibt in ihrem Artikel über die weitere Entwicklung Bosmans: »1919 erhielt sie von dem Cellisten Marix Loevensohn einen Auftrag, ein Werk für die Ausstellung ›De Onafhankelijken‹ im Stedelijk Museum zu komponieren. Dieses Stück für Cello und Klavier erhielt zwar nur mäßige Reaktionen, sollte aber dennoch ihr Eintritt in die offizielle niederländische Komponistenwelt sein. Mit dieser Cellosonate fängt Bosmans an, eine eigene Stimme zu entwickeln, weg von der in den Niederlanden vorherrschenden Musikpraxis, die sich im Wesentlichen an Schumann und Brahms orientierte. Sie mochte das Cello lieber als ihr eigenes Instrument und sollte zahlreiche Stücke für Cello schreiben.« Und über die privaten Geschehnisse dieser Zeit notiert Hermanns: »Im Oktober 1921 lernte Bosmans die neun Jahre jüngere Cellistin Frieda Belinfante kennen, mit der sie eine siebenjährige Liebesbeziehung verbinden sollte. Obwohl sie jünger war, fühlte sie sich für Bosmans verantwortlich, regelte alle praktischen Dinge, nicht nur in den Jahren, in denen sie zusammenlebten, und nahm sie vor ihrer überfordernden Mutter in Schutz. Die regelmäßigen Affären, die Bosmans nebenher hatte, schienen sie nicht weiter zu stören. Bosmans widmete ihr ihr 2. Cellokonzert, das im Januar 1924 mit Belinfante als Solistin uraufgeführt wurde. War sie bislang meist in einem Duo aufgetreten, so spielte Bosmans ab 1928 häufig in einem Trio, so zu dieser Zeit mit Belinfante und dem Flötisten Johan Feltkamp als ›Amsterdamsch Trio‹, ab 1930 als ›Het Hollandsch Trio‹ mit dem Violinisten Ferdinand Helmann und dem Cellisten Henk van Wezel.«

Bosmans ergänzte ihre musikalischen Kompetenzen durch ein Studium der Orchestermusik in Amsterdam, woraus in den späten 1920er Jahren eine ganze Reihe von entsprechenden Werken resultierte. Bosmans wurde zu einer anerkannten Komponistin ihrer Zeit – und verlobte sich 1934 mit dem Geiger Francis Koene, der jedoch ein Jahr später an einem Gehirntumor starb.

In der Zeit des Nationalsozialismus konnte die als »Halbjüdin« bezeichnete Bosmans nur noch sehr eingeschränkt auftreten. Es blieben ihr, ähnlich wie Rosy Wertheim, nur illegale Auftritte im Untergrund. Nach dem Krieg entstand eine enge Freundschaft mit dem legendären Künstler-Duo Benjamin Britten und Peter Pears. Doch ein Großteil des Kreises von Freund:innen und Förderern war durch den Krieg und die Shoah verlorengegangen. So betätigte sich Bosmans als Musikjournalistin. Und, so Doris Hermanns: »Ende der 1940er Jahre lernte sie ihre letzte Liebe kennen: die französische Mezzosopranistin Noëmie Perugia. Durch sie wurde sie wieder zum Komponieren inspiriert; sie widmete ihr zahlreiche Lieder. Sie traten auch regelmäßig zusammen auf, so z. B. beim Sommerfestival 1949 in Sceaux bei Paris sowie beim Holland Festival 1950. Im Sommer 1950 machte sich eine Erkrankung bei Bosmans bemerkbar, die sich später als Magenkrebs herausstellen sollte. Trotzdem nahm sie im September 1950 noch an einem Konzert zum Gedenken an die Widerstandskämpfer:innen teil, die während der deutschen Besatzung im ›Oranjehotel‹, dem Gefängnis in Scheveningen, inhaftiert waren. Im nächsten Jahr wurde sie mit dem niederländischen Verdienstorden ›Ridder in de Orde van Oranje Nassau‹ ausgezeichnet, der an Menschen mit besonderen Verdiensten um Gesellschaft und Gemeinwesen verliehen wird.«

Henriëtte Bosmans starb am 2. Juli 1952 im Prinsengracht Krankenhaus Amsterdam im Alter von 56 Jahren.


Henriëtte Bosmans (1895–1952)
Concertino für Klavier und Orchester (1928)

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Neben ein paar Werken für Klavier solo sowie Kammermusiken komponierte Bosmans exponiert Stücke für Solo-Instrument und Orchester, so auch das Concertino für Klavier und Orchester aus dem Jahr 1928.

Fröhlich beschwingt, rhythmisiert à la Bernstein geht es los. (Nur eben viele Jahre vor Bernstein.) Jazz-Salon, Rauch, Tanz, Bar-Atmosphäre; das Ganze natürlich eingebettet in die Tradition des Komponierens für Tasteninstrument und Orchester und doch gleichsam elegant-verschmitzt zur Tür hereinfallend. Merkwürdigkeiten, die von Ravel und Debussy herüberschwappen; plötzlich ein gleißender, mehrstimmiger Triller. Verwegene Akkorde umdräuen uns sanft, zwischenzeitlich ein wenig an die Bedeutungsschwangerschaften Rachmaninows gemahnend.

Flöten umblasen herrlich absichtlich losgelassene Leerstellen der Partitur. Extrem aufregend und dabei immer elegant und nie zähnefletschend nimmt der Drive des Ganzen bald zu. Angeschärfte Musik, gechillt – und super avantgardistisch. Warum kennen wir diese Musik nicht viel besser, verdammt? ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.