»Europas größte Komponistin. Eine Spurensuche« heißt es im Untertitel der neuen Biographie über Emilie Mayer, die am 30. September im Dittrich Verlag erscheint. Und gleich der Titel setzt die für das Buch entscheidenden Themen: den unglaublichen Erfolg der wahrscheinlich ersten selbstständigen Komponistin Berlins und die Schwierigkeit, ihr als historischer Person nahezukommen. Emilie Mayer wurde 1812 in Friedland (Mecklenburg) geboren, erhielt früh Klavierunterricht und schlug mit Ende 20 nach dem Tod des Vaters eine Laufbahn als Komponistin ein, die sie konsequent verfolgte. Sie schuf, ledig mal in Berlin, mal in Stettin lebend, zahlreiche Werke, vor allem Sinfonien, Kammer- und Klaviermusik. Mayer starb im April 1883, zwei Jahre nach einem ihrer größten Erfolge: der Uraufführung der Ouvertüre zu Faust.

Barbara Beuys (Historikerin, Schriftstellerin und Journalistin) wirft in dieser neuen Biographie als erste einen ausführlichen historischen Blick auf Emilie Mayer. (Musikwissenschaftlich widmete sich bereits 2003 Almut Runge-Woll der Komponistin in einer Monographie, ansonsten ist die Mayer-Literatur sehr dünn gesäht.) Beuys befasst sich unter anderem ausführlich mit zeithistorischen Hintergründen, ohne die das »Phänomen Mayer« nicht zu verstehen ist. Darum starten auch wir mit einem Blick auf den Kontext in unser Zoom-Gespräch. 

Barbara Beuys © Dittrich Verlag

VAN: In Ihrer Biographie beschreiben Sie die Geschlechterollenbilder der Zeit, die eigentlich gänzlich gegen eine Karriere wie die von Emilie Mayer sprechen. Können Sie zusammenfassen, welche Erwartungen an bürgerliche wohlhabende Frauen wie Emilie Mayer in der Mitte des 19. Jahrhunderts gestellt wurden? Oder braucht man dafür ein ganzes Buch?

Barbara Beuys: Nein, das muss gehen. Seit Beginn der Aufklärung – so seltsam das klingt – hat sich in der bürgerlichen Gesellschaft der Gedanke durchgesetzt, dass Frauen und Männer von Natur aus polarisiert sind. Das heißt: Die Frau ist für ihren Beruf als Frau und Mutter bestimmt – auch von Gott, aber neu ist damals, dass sie es von Natur aus ist. Ihr Raum ist das Wohnzimmer, die Privatsphäre. Der Mann dagegen ist von Natur aus für die Öffentlichkeit geschaffen, die Welt. Er muss kämpfen und dafür hat er einen Verstand und Kreativität – beides Dinge, die der Frau abgesprochen werden. So widerspricht das, was Emilie Mayer gewagt hat – und später auch andere Künstlerinnen in anderen Sparten, ob Malerei oder Literatur – völlig dem herrschenden Frauenbild, denn eine Frau kann nicht kreativ sein, sie kann nicht Musik schreiben, schon gar nicht bestimmte männliche Arten von Musik wie Sinfonien. 

Weil sich in der Gattung Sinfonie dann diese beiden männlichen Eigenschaften Verstand und Kreativität verschränken?

Ganz genau. Und weil dort Gefühle von Kraft, ›Titanentum‹ – so hat man das genannt – und Genie verankert werden. Solche Gefühle hat eine Frau von Natur aus nicht. Das, was sie höchstens machen darf, und was sich im Bürgertum ja auch durchsetzt: Sie darf sich züchtig und bescheiden ans Klavier setzen. Und sie kann vielleicht auch noch eine Sonate für Klavier komponieren. Aber was darüber hinausgeht, ist verboten. Auch Instrumente werden als ›männlich‹ und ›weiblich‹ belegt. Klavier ist weiblich, die Geige, bei der man sich stärker bewegt, und vor allem das Cello, bei dem man die Beine spreizt, sind absolut unweiblich. Insofern wagen sich in der Zeit von Emilie Mayer auch nur ganz wenige Frauen an diese Instrumente. Emilie Mayer hat aber etliche Streichquartette komponiert, was auch unweiblich war. Von allen von Frauen komponierten Streichquartetten des 19. Jahrhunderts stammt ein Drittel von Emilie Mayer. 

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Wie hat Emilie Mayer das geschafft?

Ich mache mal einen Sprung an den Anfang ihres Lebens: Sie ist in Friedland in Mecklenburg geboren und hat mit fünf Jahren angefangen, Klavier zu lernen. Dabei hatte sie einen sehr wohlwollenden Klavierlehrer, der, als er ihr Talent erkannte, nicht gesagt hat: ›Hör auf damit, du musst Frau und Mutter werden‹, sondern sie gefördert hat. Genauso ihr Vater, die Mutter ist früh gestorben. 1840 hat Emilie Mayers Vater, ein angesehener Apotheker, Selbstmord begangen. Warum weiß man nicht. Sie ist dann mit 28 Jahren nach Stettin gegangen, weil dort Carl Loewe Musikdirektor war und sie bei ihm Komponieren lernen wollte. 

Loewe hat in einem Vorstellungsgespräch offenbar sofort ihr Talent erkannt. Von 1840 bis 1847 hat sie bei ihm gelernt. Loewe hat sie gefördert und nach 1847 weiterempfohlen an einen Freund in Berlin: den Musikwissenschaftler Adolph Bernhard Marx. Bei ihm hat sie weitergelernt, außerdem auch bei Wilhelm Wieprecht, einem Reformer der Militärmusik in Preußen. Da waren also Männer, die sie gefördert haben. Das ist das eine.

Außerdem hat sie erkannt, dass sie im deutschen Kulturraum listig vorgehen muss. Das heißt: Alle loben sie Zeit ihres Lebens als bescheidene, freundliche, zurückhaltende Frau. Das entsprach dem Frauenbild und das hat es den Männern leicht gemacht, sie zu fördern. In Frankreich hatte auch eine Schriftstellerin wie George Sand, die in Männerkleidung und mit Zigarre auftrat, Erfolg. Emilie Mayer hat erkannt, dass sie so etwas in Deutschland nicht machen kann. Aber hinter den Kulissen hat sie – und das ist bis heute nicht erkannt worden – unglaublich organisiert Kontakte gepflegt, damit ihre Werke aufgeführt werden konnten. Das fiel ja nicht vom Himmel. Die erste Konzertagentur wurde in Berlin 1880 gegründet und erst danach konnten sich Komponistinnen und Komponisten zurücklehnen und sagen: ›Machen Sie mal für mich.‹ Emilie Mayer hat alles selbst organisiert, was aber nach außen nicht zum Vorschein kam. Da bleibt sie die freundliche, bescheidene Frau. 

Mich hat die häufige Betonung ihrer Bescheidenheit in Aussagen von Zeitgenoss:innen etwas verwundert. Steht das nicht in einem Widerspruch zu ihrem selbstbewussten Auftreten als Komponistin? Sie hat sich ja zum Beispiel in die Adressbücher in Stettin und Berlin mit der Berufsbezeichnung Komponistin eintragen lassen. Auch ihre Schreiben an Verleger oder ihre Bitten um Aufführung ihrer Werke sind recht forsch und fordernd formuliert. Die wirken nicht so, als würde sie ihr Licht unter den Scheffel stellen.

Das hat sie auch nicht. Aber offenbar ist ihr öffentliches Auftreten entscheidend gewesen. Das Bild der Bescheidenheit wird in den Musikzeitschriften weitergegeben. Ich denke: Wenn sie im Konzertsaal war oder mit Journalisten gesprochen hat, ist sie so aufgetreten. Wenn sie allerdings an die Verleger in Berlin geschrieben hat, dass sie ihre Briefe bitte an die Komponistin Emilie Mayer adressieren sollen, ist das öffentlich nicht so durchgedrungen. Den entscheidenden Männern, von denen sie abhängig war, hat sie im Hintergrund aber gezeigt: Ich bin selbstbewusst, zielstrebig und ich lasse mich von meinem Weg nicht abbringen. 

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Können Sie ein Beispiel nennen für dieses zielstrebige Handeln? 

Es ist ja unglaublich: Da kommt eine Frau aus Friedland oder Stettin, schon ein bisschen aus der Provinz, nach Berlin in die große Stadt und organisiert wie aus dem Nichts am 28. April 1841 ein Konzert im größten Konzertsaal im Königlichen Schauspielhaus. Da musste sie vorher den König um Erlaubnis fragen, der diese sofort erteilt hat, sogar unentgeltlich. Den Kennern war sie schon bekannt, weil es zuvor zwei Besprechungen ihrer Werke in der Neuen Berliner Musikzeitung gegeben hat. Auch Ludwig Rellstab – die Autorität der Musikkritiker, zugleich aber sehr konservativ – hat sie gefördert und ihr erstes Konzert in Berlin einen Tag vorher angekündigt. Es ist schon etwas Besonderes, so schreibt er, dass hier eine Frau ausschließlich ihre eigenen Werke aufführen lässt, das sei ein Unikum in der musikalischen Weltgeschichte. Da hat ihr der Kritiker mit einem Paukenschlag eine Bühne bereitet. Das Konzert war so erfolgreich, dass sie von 1850 bis 1854 fünf Mal im Frühjahr jeweils ein Konzert organisiert hat mit ihren Werken – immer wieder neuen. Das wäre auch für einen Komponisten dieser Zeit ein unglaublicher Erfolg. Die Kritiker wie auch das Publikum waren also von dieser Musik überzeugt, wenn nicht gar überwältigt.

Woher kannte Rellstab ihre Werke schon vor dem ersten Konzert in Berlin? Warum konnte er sie empfehlen?

Auch Rellstab war befreundet mit Carl Loewe, ihrem Ausbilder. Ganz offensichtlich hat Loewe Rellstab informiert über die Aufführung von Mayers ersten zwei Sinfonien 1847 in Stettin. Rellstab war von diesen so beeindruckt, dass er über diese zwei Konzerte in der Neue Musik Zeitung in Berlin eine Besprechung geschrieben hat. Und damit war Emilie Mayer in Berlin bekannt. 

In Ihrer Biographie stellen Sie einen Zusammenhang her zwischen diesem ersten großen Berlinkonzert und selbstgekneteten Skulpturen aus Weißbrot. Was hat es damit auf sich?

Das wird meistens verdrängt. Emilie Mayer hat das auch nicht an die große Glocke gehängt, aber es ist aus zeitgenössischen Quellen eindeutig überliefert, dass sie offenbar irgendwann bei großen Essen ein bisschen gelangweilt war und dann aus geknetetem Weißbrot Plastiken geformt hat: Vasen, Schüsseln … Auch da sehen wir wieder, wie überzeugt sie von sich war: Sie hat diese Plastiken als Geschenkgaben verschickt, unter anderem an die Königin von Preußen – dazu gehört ja auch einiges – schon vor 1850. Die Königin hat ihr für die Plastik eine Medaille verliehen. Ich bin überzeugt: Emilie Mayer hat das nicht naiv gemacht, sondern sie wusste: ›Mein Hauptjob ist es, Komponistin zu sein. Aber wenn ich im königlichen Haus schon bekannt bin dank der Weißbrot-Plastiken, wird mir das helfen.‹ So war es dann kein Problem, die Genehmigung für das Konzert im Schauspielhaus zu bekommen. Also alles kluge Taktik!

Kann man sich diese Plastiken irgendwo angucken?

Nein. Ich habe das recherchiert, bin aber nicht weitergekommen. Es gab eine, die im Grünen Gewölbe in Dresden ausgestellt wurde. Aber ob sie verschwunden ist oder in irgendwelchen Hinterzimmer steht, habe ich nicht herausfinden können.

Übrigens muss man auch wissen, dass viele ihrer Kompositionen, zum Beispiel die h-Moll-Sinfonie, die als die ›beste‹ gelobt worden ist, nicht überliefert sind. Ein ganz großer Teil ihres Werkes ist heute nicht mehr hörbar.

Die Biographie hat den Untertitel ›Spurensuche‹. Hat es Sie bei der Arbeit manchmal  frustriert, dass so vieles im Unklaren bleibt, weil zu Emilie Mayer so wenig Quellen und Briefe überliefert sind? 

Das gehört für eine Historikerin dazu: dass man sich auf eine Spurensuche begibt, ohne zu wissen, was am Ende herauskommt. Bei Emilie Mayer ist es wirklich extrem. Es gibt gar keinen persönlichen Brief. Ich habe aber zwei wirklich minimale, aber ganz wichtige persönliche Reaktionen herausgefunden in einem Brief an den Musikschriftsteller Wilhelm Tappert, in dem sie Einblicke in ihr Seelenleben gibt, was ganz selten ist.

Mir ist es aber immer wichtig, dass die Leser:innen wissen: Das ist eine Quelle, ein Fakt und das ist die Meinung der Autorin. Wenn ich Fakten schreibe, sind das auch Fakten und keine Phantasie. Und ich habe keine Hemmungen zu sagen: ›Dazu gibt es keine Quellen, das kann ich Ihnen nicht genau sagen, aber meine Überlegungen sind folgende …‹

Welche Entdeckungen zu Emilie Mayer haben Sie auf Ihrer Spurensuche besonders überrascht?

Die ganz wenigen persönlichen Quellen, ein knappes Dutzend Briefe in sehr schöner Handschrift, liegen seit 1918 in der Staatsbibliothek in Berlin. Sie sind seit kurzem digitalisiert und öffentlich zugänglich.

Foto: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (CC BY-NC-SA 4.0)

Zwischen den fachlichen Briefen an die Verleger findet man dort zwei Briefe an Schriftsteller und Kritiker Wilhelm Tappert vom Juni und Juli 1870 und dort zu meinem großen Erstaunen zwei winzige aber doch entscheidende Einblicke in ihre persönlichen Gefühle. Einmal geht es um Carl Loewe. Bisher hieß es immer: ›Wie schade, wir wissen überhaupt nicht, wie die Beziehung zu Carl Loewe war.‹ Carl Loewe erwähnt seine berühmteste Schülerin in seiner Biografie gar nicht. Niemand hat das verstanden. Dabei wurde erstens nicht bedacht, dass diese Autobiographie nach seinem Tod herausgegeben worden ist, Loewe hat sie gar nicht zusammengestellt. Und in diesem Brief an Tappert öffnet Emilie Mayer plötzlich einen Blick in ihre Seele, sie ist ja sonst so zurückhaltend. Da schreibt sie sinngemäß: ›Ich kann es gar nicht verstehen, dass in dieser Autobiographie, die Briefe und alles, was Loewe von mir angefordert hatte, weil er es in die Biografie mit aufnehmen wollte, nicht auftaucht.‹ Das findet sie bitter, wortwörtlich schreibt sie: ›Es schmerzt mich sehr.‹ Das Fehlen ist dem Herausgeber geschuldet. Ich glaube, es schmerzt sie nicht aus Eitelkeit, sondern weil sie wirklich eine sehr persönliche Beziehung zu Loewe hatte und in ihrem Umkreis jetzt gar nicht auftaucht.

Im anderen Brief schreibt sie, es habe Widerstände gegen ihre Musik gegeben – bei Männern und bei Frauen. So glänzend diese Karriere auch verlaufen ist, es muss im Hintergrund Opposition gegeben haben. Was ich erstaunlich finde ist, dass die Musikzeitschriften nicht darüber berichtet haben. Das wäre ja eigentlich ein willkommenes Futter gewesen. Offenbar haben die Musikkritiker gesagt: ›Das lassen wir nicht an die Öffentlichkeit kommen, denn Emilie Mayer ist so gut, das beachten wir einfach nicht.‹ Da schreibt Emilie Mayer, dass sie die Kritik durchaus angegriffen hat.

Eine weitere Spur, die bisher noch niemand beachtet hat, führt in die Familie des Historikers Leopold von Ranke und geradewegs in den Salon seiner Frau Clarissa. Ich habe die Entdeckung gemacht, dass diese Clarissa von Ranke ein Sonett über Emilie Mayer geschrieben hat. 

Welche Werke von Emilie Mayer waren zu ihrer Zeit am erfolgreichsten? 

Natürlich gab es immer auch Kritiker, die meinten: ›Das ist ein bisschen an Mozart und Beethoven ausgerichtet.‹ Mit denen hat man sie gerne verglichen, damit sie nicht so sehr als eigenständige Komponistin dastand. Aber eigentlich ist alles – Streichquartette, Trios, Kammermusik, Sinfonien – öffentlich besprochen worden. Sie hat die Kammermusik auch zuhause aufgeführt, das war damals sehr populär.

Das Erstaunliche ist dann: Sie hatte sich von 1862 bis 1875 zurückgezogen nach Stettin, dort aber weiter komponiert und Kontakte nach Berlin gepflegt. Danach ist sie nochmal zurückgegangen nach Berlin und hat sich dort eine Wohnung genommen, in einem Alter, in dem man eigentlich denkt: Da ist es jetzt vorbei mit dem Komponieren. Sie hatte noch einen ganz großen Erfolg mit ihrer Faust-Ouvertüre, die 1879 komponiert und 1880/81 überall aufgeführt wurde mit ganz großen Kritiken. Das hatte auch etwas Provokatives, denn Faust war ein Männerthema. Man muss wissen, dass schon vorher Komponisten wie Richard Wagner, Hector Berlioz, Robert Schumann und Franz Liszt Faust-Ouvertüren komponiert haben. Sie hatte überhaupt keine Hemmungen, als Frau sozusagen in diesem Wettbewerb anzutreten. Auch da ist es ihr gelungen, überall aufgeführt und gelobt zu werden, auch wenn ein Kritiker am Ende schrieb: ›So gut das ist, die Titanenqualität hat doch nur die Musik von Richard Wagner.‹ Ganz konnte man die Vorurteile also nicht begraben. 

Wenn mich jemand fragen würde: Welches eine Stück von Emilie Mayer soll ich hören, dann würde ich die Faust-Ouvertüre empfehlen. Da kommt ganz viel von ihrem musikalischen Charakter zusammen: das Kräftige, was die Kritiker ›männlich‹ genannt haben: rhythmisch, schnell, scharf, profiliert, aber auch eine unglaubliche Weichheit, die aus meiner Sicht aber nie sentimental ist. 

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Hat Emilie Mayer auch bewusst andere Frauen in der Musik gefördert? 

Ludwig Rellstab hat auch Emilie Mayers Hausmusiken besprochen in der Neue Musik Zeitung – und zwar sehr positiv – und da schreibt er, dass nur Kompositionen von Frauen aufgeführt wurden. Und ausgeführt auch nur von Frauen. Das schreibt er ohne Häme und das ist schon erstaunlich für die 1850er Jahre. Ganz offensichtlich hat sie das bewusst gemacht. Ich nenne das vorsichtig ›ein gewisses Frauennetzwerk‹, das sie offenbar hatte. 

Mit Komponieren hat Emilie Mayer überhaupt kein Geld verdient, oder?

Das ist richtig, sie hatte sogar viele Ausgaben. In den 1860er Jahren wurden Werke von ihr gedruckt, da hat sie die Druckkosten bezahlt. Und als noch keine Drucke vorlagen, musste sie für die Konzerte die einzelnen Stimmen von Hand kopieren lassen und das bezahlen. Das war ihr möglich durch das Erbe ihres Vaters. 

Wie sahen ihre Lebensumstände aus?

In Berlin hatte sie eine Wohnung in einer bürgerlichen Wohngegend und in Stettin den Vorteil, dass zwei ihrer Brüder dort jeweils eine Apotheke hatten, da hat sie in der Familie gelebt.

Was auch wichtig ist: Im Jahr 1843 fuhr zum ersten Mal ein Zug von Berlin nach Stettin. Die Eisenbahn hat ungeheuer zur Verbreitung von Kultur und Wissenschaft beigetragen. Mit der Postkutsche brauchte man für den Weg 16 Stunden, mit dem Zug viereinhalb. Ihre Schwester war in Pasewalk verheiratet und ihr anderer Bruder in Halle. Ab den 1860er Jahren kommt es immer wieder vor, dass sie zwischen den Orten pendelt. Sie war eine reisefreudige Person und in den Familien nicht nur die freundliche Tante. Sie hat dort auch komponiert. 

Die Zugverbindung war ja auch insofern eine Erleichterung, als dass sie als Frau alleine reisen konnte – im Gegensatz zur Reise in der Postkutsche. 

Genau, in der Postkutsche musste immer ein Mann dabei sein. Das hat sich dann gegeben. 

Sie zitieren Zeitgenoss:innen, die Emilie Mayer als eher schusselig und überhaupt nicht modisch interessiert beschreiben. War sie etwas kauzig?

In Berlin ist sie bei den Konzerten und sicher auch in den Gesprächen mit wichtigen Persönlichkeiten als gut gekleidete bürgerliche Frau aufgetreten. Aber es gibt eine Schilderung von ihr aus Stettin. Dort hat die Schriftstellerin Marie Silling, die mit ihrer Nichte befreundet war, sie irgendwann getroffen und festgestellt: Oh, da steht ja die berühmte Emilie Mayer. Sie war ganz erstaunt, weil diese Berühmtheit etwas völlig Unmodisches anhatte, mit dem Regenschirm irgendwo an den Mantel geknöpft, offenbar um ihn nicht zu verlieren. Silling schreibt, dass Mayer in Stettin in Gesellschaften oft ohne Hut erschien, das war für eine bürgerliche Dame eigentlich unmöglich. Ich ziehe daraus vorsichtig den Schluss: Sie hat sich in Stettin etwas gehen lassen, was sie im bürgerlichen Leben in Berlin nicht konnte. Hinter der bescheidenen, konventionellen Person trat dann in Stettin eine hervor, die leger gekleidet war und sich nicht nach den Normen richtete. 

In den großen Musikzeitschriften wurde wirklich viel über Emilie Mayer geschrieben – aber eigentlich immer von Männern. Am Ende ihres Lebens schreiben dann auch Frauen über Mayer, weil sie langsam Einzug finden in den Musikjournalismus. Haben diese Journalistinnen einen anderen Blick?

Es ist nur eine einzige Frau, die über sie schreibt: Elisabeth Sangalli-Marr, eine bekannte Schriftstellerin und zwar schon 1877. Eine Frau schreibt über eine andere Frau in einer Zeitung, die ansonsten nur männlichen Kritikern offen steht – und dann sogar einen Artikel mit Fortsetzung! Das sagt etwas über Mayers Stellung in der Gesellschaft. Und der Text ist die einzige große persönliche Beschreibung, die wir von ihr haben. Elisabeth Sangalli-Marr, die in anderen Texten übrigens auch eintritt für eine gleiche Bildung von Frauen, sagt ganz eindeutig, dass es sich hier einerseits um eine bescheidene Person handelt, aber andererseits auch eine, die bewusst auf die Ehefessel verzichtet, um Komponistin zu werden. Da spricht sie aus, was ein Tabu ist, denn natürlich musste eine Frau heiraten, alleine zu leben war eigentlich unmöglich. Und dieser Text erscheint in einer Zeit, in der der Kampf gegen die Emanzipation der Frau wieder in vollem Gange war. Treitschke zum Beispiel hat sich, wie auch andere, vehement gegen die Frauenemanzipation ausgesprochen, weil man plötzlich sah: Da taucht eine bürgerliche Frauenbewegung auf, die unsere Männerbastion bedroht. 

Mayers Werke werden auch außerhalb von Preußen gespielt, von damals berühmten Interpret:innen wie dem Cellisten Adrien-François Servais. Auch in Komponist:innen-Lexika der Zeit taucht sie auf. Wie kommt es, dass heute fast niemand mehr diese Komponistin kennt? 

Es ist wirklich ein Phänomen. Sie stirbt im Frühjahr 1883, hochgelobt. Aber schon sechs Jahre später traut sich die Komponistin Adolpha Le Beau, eine Sinfonie zu schreiben und ein Kritiker schreibt dazu: ›Das ist ja unglaublich, bisher hat noch nie eine Frau eine Sinfonie geschrieben.‹ Und ich bin überzeugt, dass er das nicht aus Häme geschrieben hat, sondern keine Ahnung mehr von Emilie Mayer hatte. Sie scheint mit ihrem Tod aus den Konzertsälen zu verschwinden. Ein Grund könnte sein, dass sie als Persönlichkeit so wichtig war für die Aufführung ihrer Musik, dass in dem Moment, in dem sie nicht mehr organisierte, mit den wichtigen Konzerthäusern und Dirigenten Kontakt hatte, der zu 100 Prozent männlich betriebene Musikbetrieb sie wieder vergessen hat. Wirklich erst um die Jahrtausendwende ist sie wiederentdeckt worden, wird langsam etwas gespielt. 

Wenn sich noch heute Konzertveranstalter weigern, Emilie Mayer auf die Programme zu setzen und lieber Beethoven spielen lassen wollen – was sagen Sie dazu?

Das zeigt, wie sehr dieses polarisierte Geschlechtermodell, das ganz besonders im 19. Jahrhundert in Stein gemeißelt war, noch bis ins 21. Jahrhundert hineinragt. Immer noch steckt die Vorstellung in den Köpfen, dass Frauen das zweite Geschlecht sind und die Männer vorherrschen in Kunst, Wissenschaft, Politik … Diese Vorurteile sind traurig. Es ist wichtig, dass Frauen gemeinsam dagegen antreten, nicht nur in der Musik, sondern in der Gesellschaft insgesamt. 

Es verlangt ja auch niemand, gleich einen Emilie-Mayer-Abend zu machen. Aber wenn im Konzert neben Mendelssohn, Schumann und Mozart auch Mayer gespielt wird, werden die Leute doch nicht aufstehen und den Saal verlassen! ¶ 

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com

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