Francisca Edwiges Neves Gonzaga wurde am 17. Oktober 1847 in Rio de Janeiro geboren. Der Vater der sich später mit dem Vornamen »Chiquinha« schmückenden Gonzaga war ein wohlhabender und hochrangiger Angehöriger des Militärs. Dieser wiederum konnte den brasilianischen Politiker und Marschall Luís Alves de Lima e Silva (1803–1880) als Taufpate für seine Tochter gewinnen; Silva hatte 1823 im brasilianischen Unabhängigkeitskrieg gegen Portugal gekämpft und wurde später Kriegsminister und Ministerpräsident. Im Kontrast zu diesen prominenten Voraussetzungen einer wirtschaftlich reich bestallten Kindheit und Jugend stand die »Problematik« der Herkunft von Franciscas Mutter. Diese wird im kolonialistischen Sprachgebrauch als »Mestiza« (eine abfällige Bezeichnung für eine Frau mit »gemischten«, zumeist europäischen und gleichzeitig amerikanisch-indigenen Wurzeln) beschrieben, wahrscheinlich waren ihre Eltern Sklav:innen. Nur mit Schwierigkeiten konnte Vater José die Heirat mit Chiquinhas Mutter durchsetzen.

Die Erziehung und Bildung, die man einem brasilianischen Mädchen großbürgerlicher Herkunft angedeihen ließ, ähnelte Mitte des 19. Jahrhunderts in den etwaigen »Zielbestimmungen« und praktischen Ausprägungen jenen in Europa. So war es Vater Gonzaga ein großes Anliegen, seiner Tochter schnell Lesen, Schreiben, Rechnen und Klavierspielen beibringen zu lassen; nicht aus dem Bestreben heraus, ihr ein sich frei entfesselndes Leben zu ermöglichen. Vielmehr stand zur Debatte, sie als gebildetes Mädchen guter Herkunft auf dem Heiratsmarkt entsprechend zu »platzieren«. Mit elf Jahren komponierte Chiquinha ihr erstes Stück: Das Weihnachtslied Canção dos Pastores scheint bis heute in Brasilien wohlbekannt zu sein.

Mit 16 Jahren heiratete Francisca einen 24-jährigen Militärangehörigen. Die Ehe war von ihrem Vater – gegen ihr Einverständnis – eingefädelt worden. Der Ehemann Franciscas misshandelte die junge Künstlerin körperlich wie psychisch, versuchte (trotz meist militärbedingter Abwesenheit), ihre musikalischen Impulse zu unterdrücken; die Ehe, aus der drei Kinder hervorgegangen waren, wurde nach zehn Jahren geschieden – und Francisca von ihrem Vater verstoßen. Ab 1876 lebte Gonzaga mit ihrem ältesten Sohn – die zwei anderen Kinder verblieben wohl gegen ihren Willen beim Erzeuger – zusammen in Rio. Es folgte eine durchaus lange und erfolgreiche Phase der Konzentration auf Klavierpraxis und Komponieren. Mit 52 Jahren verliebte sich Gonzaga in einen 16-jährigen Musiker, den sie schließlich adoptierte. Um Skandalisierungen zu entgehen, zog das Paar nach Lissabon – und kehrte erst nach einigen Jahren zurück nach Brasilien. Die Beziehung hielt bis zum Lebensende Franciscas.

Gonzaga finanzierte ihr Leben wohl, wie es heißt, viele Jahre als Klavierlehrerin. 1877 erlangte sie mit ihrer Klavierpolka Atrahente einen beachtlichen Erfolg. Gonzaga interessierte sich besonders für die damals langsam in die Kunstmusik einziehende, temperamentvoll-rhythmische Musik der Schwarzen Bevölkerung Rios sowie für die Polkas und Walzer, die aus Europa nach Südamerika herübergelangten. Ähnlich wie der früh verstorbene Komponist Louis Moreau Gottschalk (1829–1869) bewegte sich Gonzaga musikalisch-rezeptionsseitig im Spielfeld einer innovativen Mixtur aus diversen europäisch-nordamerikanischen Stilen, Folkloristischem und aus Sicht des Großbürgertums als »unwürdig« geltenden Musiktraditionen wie denen versklavter Bevölkerungsgruppen. Gonzaga gilt demgemäß als Pionierin des Choro, einem brasilianischen Musikstil, der aus der Fusion afroamerikanischer Musikkulturen und europäischer Tanzmusikausprägungen entstand. (Der mit Abstand bekannteste Choro ist Zequinha de Abreus weltumtanzender Hit Tico-Tico no Fubá).

Im Gegensatz zu Gottschalk (französisch-sephardisch-US-amerikanischer Herkunft) allerdings suchte Gonzaga auf eine Weise nach der »eigentlichen« Substanz der Musik ihres Heimatlandes Brasilien – und orientierte sich hierbei bald an den Potentialen des von Portugies:innen seit Mitte des 19. Jahrhunderts geprägten Karnevals von Rio, der in den 1840er Jahren seine bis heute bestehende Form angenommen hatte. Gonzaga komponierte die Musik dazu: »Wenn die großen Sambaschulen beim Karneval in Rio ihre Paraden abhalten, dann ist die Musik das Herzstück des Spektakels«, so Journalistin und Perkussionistin Antje Schrupp. »Jede Sambaschule lässt sich für ihren farbenprächtigen Auftritt alle Jahre wieder einen speziellen Hymnus komponieren. Was hier zu Lande nur wenige wissen: Diese Tradition geht auf eine Frau zurück – die Komponistin Francesca Gonzaga, genannt Chiquinha, kam 1899 als erste Musikerin auf die Idee, ein eigenes Lied extra für den Karneval zu schreiben – Abre Alas« (auf deutsch etwa: Macht Platz!). Die Melodien Gonzagas gehören gewissermaßen zu den brasilianischen Kronjuwelen der Musik und sind Teil eines (sonst zu oft beschworenen) »kollektiven Gedächtnisses«.

Heute gilt Chiquinha Gonzaga nicht nur als die »Urmutter aller Karnevalszüge«, sondern überdies als die »Begründerin der brasilianischen Popmusik«. Außerdem war sie meist Dirigentin ihrer orchestralen Werke und Mitgründerin der brasilianischen GEMA (Sociedade Brasileira de Autores Teatrais). Außerhalb der Musikwelt engagierte sie sich nachhaltig für die Abschaffung von Sklaverei und sozialer Benachteiligung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen. Gonzaga starb am 28. Februar 1935 mit 87 Jahren in Rio de Janeiro.

Chiquinha Gonzaga (1847–1935)Faceiro für Klavier

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Neben Kompositionen für den Karneval schuf Chiquinha Gonzaga zahlreiche Klavierstücke: Polkas, brasilianische Tangos, aber auch Werke für Opern- und Theaterbühnen. Wenige Monate vor Ende ihres Lebens entstand ihre Oper Maria. Ihr kurzes Klavierstück mit dem Titel Faceiro (Fröhlich) ist kein typischer leidenschaftlicher Tango, der vor Erotik und Emotionsausbruchsgefahr nur so brodelt. Gonzaga komponiert mit herzlichen und abwartenden Augenzwinkereien.

Die »Begründerin der braslianischen Popmusik« und »Urmutter aller Karnevalszüge«, Komponistin, Pianistin, Dirigentin, Menschenrechtsaktivistin und Vorreiterin des Urheberrechts in Brasilien: Chiquinha Gonzaga in @vanmusik.

Die Ironie und der Witz von Faceiro liegt darin begründet, dass die Komponistin die lässige – und dabei nicht einmal harmonisch ganz unkomplex strukturierte – Melodie in den Bass, sprich: in die linke Pianist:innenhand legt. Kleine Aufmüpfigkeiten heben derlei Salonstücke sogar aus der Masse (viel) späterer Tango-Choro-Ragtime-Vorläufer heraus. Dynamische Überraschungen mischen weitere Hör-Lust-Zutaten hinein. Musik, die einfach Freude machen soll. ¶

Arno Lücker

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.