Auf dem Dach des Nationaltheaters in München weht zur Zeit die ukrainische Flagge. Nachts hüllt sich das Opernhaus in blau-gelbes Licht. Nichts Besonderes, in Hochkulturkreisen. Womit aber die Frage, was Kunst und Künstler ausrichten könnten gegen den ungerechten Krieg und ob es eventuell auch einen gerechten gibt, keineswegs beantwortet ist. Eine Oper ist eine Oper ist eine Oper. Ist die Vorstellung vorbei, stehen die Bühnentoten wieder auf, sie verbeugen sich, die Leute gehen heim, das Leben geht weiter.
Vladimir Jurowski, Generalmusikdirektor in München, ist gebürtig aus Moskau und deutscher Staatsbürger schon seit Jahren. Besondere Umstände, unter anderem bedingt durch eine coronabedingte Spielplanverschiebung und intensive Diskussionen, haben dazu geführt, dass Jurowksi jetzt, gemeinsam mit dem ebenfalls exilrussischen Opernregisseur Dmitri Tcherniakov, eine Oper in russischer Sprache zur Aufführung gebracht hat, die zur Stalinzeit entstand und als Nationaloper gilt, denn sie handelt, nach der Romanvorlage von Lew Tolstoi, davon, dass das russische Volk in einen sogenannten »Großen Vaterländischen Krieg« verwickelt wird. Und siegt. Bei Tolstoi handelt es sich um den Krieg gegen Napoleon, anno 1812. Tolstoi war einst, im Kaukasuskrieg, selbst Soldat gewesen. Er wurde zum Pazifisten. Von dieser Haltung ist der Roman bereits imprägniert. Der Komponist Sergej Prokofjew nahm sich Krieg und Frieden vor im Jahr 1941, als die deutsche Wehrmacht in Russland einmarschierte. Er war, wie aufrichtig auch immer, ein Patriot, der die Romanhandlung entsprechend umbog und mit glühend-martialischen Chören aufmöbelte, wozu seine junge Gattin, die ihm half, das Libretto zu schreiben und von der es heißt, sie sei als KGB-Agentin auf ihn angesetzt worden, ihren Teil beitrug. Jurowski und Tcherniakov fassen das Stück nun ebenfalls als Parabel auf. Sie lassen Assoziationen an die Gegenwart eines Krieges zu, in dem Russland als Aggressor auftritt. Drei verschiedene historische Ebenen, übereinander kopiert. So war das nicht geplant, als das Stück 2018 angesetzt wurde. Nach dem 24. Februar letzten Jahres wurde es unvermeidlich. Und wie leicht hätte dieses Experiment schief gehen können!

Aber es gab keine Sekunde lang den erwarteten sauren Kitsch zu ertragen. Keine Peinlichkeit. Keine Lächerlichkeit. Keinen billigen Zynismus. Stattdessen: Ernst und Schrecken, Wärme und Ironie. Der Premierenabend löste eine heftige Erschütterung aus. Nicht wenige Zuschauer im Theater, die sich zu Ovationen erhoben, hatten Tränen in den Augen. Sie waren, wie wir Kritiker, sprachlos. In dieser Münchner Fassung erwies sich Krieg und Frieden als das »Stück der Stunde« (Jurowski). Ein großer Wurf oder vielmehr: eine machtvolle Demonstration dessen, wie politisch ein Kunstwerk sein muss.
Viele Romane, viele Opern, Filme, Lieder entwerfen Utopien, sie träumen von Frühling, Frieden, Glück und Güte. Letztlich ist genau das die Aufgabe von Kunst: an die guten Seiten des Menschseins zu erinnern. Aber wann hatte zuletzt ein Kunstwerk so wuchtig und scharf, zugleich so intelligent und beweglich, mit so einfachen Mitteln und so leichtem Strich Widerspruch eingelegt gegen einen aktuellen Krieg? War das Guernica von Picasso? Oder war es der Shylock-Monolog, gesprochen von dem jüdisch-ostpreußischen Schauspieler Felix Bressart, in der Hollywood-Komödie To Be or Not to Be von Ernst Lubitsch, 1942? Diese Vergleiche mögen hinken, aber sie sind, wie sich im Detail zeigt, nicht zu hoch gegriffen.
Es beginnt im Finstern. In Stille. Selbst im Orchestergraben brennt kein Licht. Dann taucht eine Schrifttafel auf, ganz so, als säßen wir nicht in der Oper, sondern im Berliner Ensemble. Ein Zitat von Tolstoi, aus einer seiner späten Schriften, es lautet: »Wieder Krieg. Wieder Leiden, notwendig für niemanden, völlig ohne Grund. Wieder Betrug, wieder die Verdummung und Verrohung des Menschen.« Dann öffnet sich langsam der Vorhang und im Dämmerlicht liegt der Säulensaal aus dem Moskauer »Haus der Gewerkschaften« vor uns, kenntlich an seinen charakteristischen Oberlichtern und den fünfundzwanzig Riesenkronleuchtern. Ein ikonischer Raum, geschichtsmächtig. Der Bau geht zurück bis auf Katharina die Große. Bälle wurden hier getanzt, Konzerte und Kongresse abgehalten, Stalins Schauprozesse fanden hier statt, zuletzt war hier Gorbatschow aufgebahrt. Jetzt liegen Schlafende dicht gedrängt auf dem Fußboden herum, ein grauer Haufen, mit Sack und Pack, Männer, Frauen, Kinder. Die Guten, die Bösen, die französischen und russischen Soldaten, Chor und Statisten: Alle, die in den nächsten viereinhalb Stunden in dieser Geschichte eine Rolle spielen werden, sind schon da. Alle Stände, alle Parteien. Die ganze Welt. Natürlich auch: das Liebespaar. Die werden als erste wach.

Die Ouvertüre hat Vladimir Jurowski weggelassen. So ist also das erste, was man zu hören kriegt, ein heller Flötenton. Kommt direkt aus Arkadien, aus dem plötzlich hell leuchtenden Graben. Eröffnet das lyrische Arioso von Fürst Andrej, der aufsteht, seine Jacke auszieht und im weißen Shirt dasteht, wie eine gute Nachricht. Singt vom Frühling, von Blumen und Birken. Aber auch von der hässlichen alten Eiche und davon, dass, ebenfalls typisch russisch, jedes ersehnte Glück nur Täuschung sein kann. Zu diesem Stichwort schlägt dumpf die Pauke drein, Andrej steckt sich eine Pistole in den Mund. Und die Oper wäre nach wenigen Minuten schon aus, würde nicht rasch auch die Komtess Natascha aufspringen, in ihrem weißgepünkelten Kleid unterm Trench, und mit Sirenengesang den Selbstmord des schwermütigen jungen Fürsten verhindern.
Die Refugees, aber auch Pauke und Pistole signalisieren: Der Krieg ist schon da. Krieg unterwandert die trügerische Idylle der feudalen Gesellschaft auch im zweiten Bild, das mit Trompetenfanfaren zum Petersburger Neujahrsball einlädt – nur halt nicht in Petersburg. Vielmehr in besagtem Säulensaal, wo sich Andrej und Natascha zum schönsten, langsamsten Walzer der Welt wiedertreffen und verlieben. Wo sich außerdem die geladenen Gäste aus ihren Schlafsäcken schälen, um einzeln im Defilé vorgestellt zu werden: alle wichtigen Protagonisten des Stücks, über vierzig größere und kleinere Rollen. Das »Haus der Gewerkschaften« entpuppt sich als Einheitsbühnenbild, in dem dann später, nach der Pause, auch die Schlacht von Borodino stattfinden wird, die standrechtlichen Erschießungen, der Schneesturm auf der Strasse nach Smolensk. Keiner verlässt den Raum.
Dieser legendäre Saal umfasst also die ganze Welt der Freunde und Feinde. Er wird, in der psychologisch differenzierten Regie Tcherniakovs, zum Schauplatz einer provozierenden Versuchsanordnung, die ihr eigenes, starkes Narrativ entwickelt. Manchmal ballt sich eine Gruppe am Ausgang, schaut hinaus ins Wetterleuchten. Dann wieder hocken alle im Kreis, ermuntern oder verlachen einander. Man übt den Nahkampf oder Erste Hilfe. Man fällt tot um und steht wieder auf. Und in dem Maße, wie sich das Kriegsgeschehen ins Absurde steigert, beschleunigt sich das Tempo, rast die Zeitmaschine vorwärts.
Hatte nicht Jurowski im Vorfeld darauf hingewiesen, dass der Titel »Krieg und Frieden« bei Tolstoi auch ebenso gut mit »Krieg und Welt« übersetzt werden könnte? Denn das russische Wort »mir« könne, je nachdem, wie es geschrieben wird, sowohl »Frieden« als auch »Welt« bedeuten. Womit sich die historische Zuschreibung aufhebt und die drei Zeitebenen sich zu einer einzigen Parabel zusammenschließen, die jeden etwas angeht. Diese »Welthaltigkeit« der insgesamt 12 Tableaux, in denen die menschlichen Beziehungen kontaminiert werden, betrifft nicht nur Russen, Franzosen, Ukrainer, Deutsche, nicht nur Dienstboten, Bauern, Soldaten, Fürsten, sondern alle, die Zeugen des Geschehens werden. Dmitri Tcherniakov braucht nur wenigen Gesten, um deutlich zu machen, wes Geistes Kind die Menschen sind. Und er zeigt dabei auch, dass man sie alle irgendwie lieben könnte, würden sie nicht vom Krieg zerstört. Die supernervöse Natascha (Olga Kulchynska), flatterhaft wie ein Blatt im Wind. Sie stirbt im vorletzten Bild, an gebrochenem Herzen, in den Armen des toten Andrej (Andrei Zhilikhovsky). Die beiden haben sich einfach verpasst. Oder: Den frivolen Anatol Kuragin (Bekhzod Davronov), der zum Zeichen seiner Nichtsnutzigkeit im Abgang immer einen Ballett-Luftsprung tut. Ja, sogar Feldmarschall Michail Kutusow (Dmitry Ulyanov), ein echter Kriegsverbrecher, der als Prolet mit Bauch und Hosenträgern dauernd irgend etwas kaut und es sich, beizeiten schon ausgestattet mit Stalins Schnauzbart, zum Schluß auf Stalins Sarg gemütlich macht, ist mehr als nur eine Karikatur. Eine solche gibt es nur ausnahmsweise, aus Propagandagründen: den kreischenden Hampelmann Napoleon (Tómas Tómasson).

Insgesamt wurden für diese Produktion Solisten aus zwölf Nationalitäten engagiert, viele kommen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken: aus Lettland, Litauen, Usbekistan Belarus, Moldawien, Armenien, der Ukraine… Auch das ist ein Zeichen. Niemand hat es sich leicht gemacht, mit der Entscheidung, an diesem riskanten Projekt mitzuwirken. Das traumhafte junge Liebespaar, sie aus der Ukraine, er aus Moldawien, zieht eigens für den Schlussapplaus schwarze T-Shirts über, geschmückt mit der ukrainischen Flagge.
Phänomenal die Chöre, zumal in den heiklen Massenszenen. In Bestform das Bayerische Staatsorchester. Einmalig die Sängerbesetzung, charakteristisch und stimmenstark bis in die Nebenrollen. Wunderbar, wie Sergei Leiferkus als arroganter alter Fürst Bolkonski seinen Ärger über die Mesalliance des Sohnes ins Kissen knurrt. Perfekt gerundet Violeta Urmana als parlierende Strippenzieherin Achrossimowa. An die Spitze der Belegschaft aber setzt sich der warme, dunkel leuchtende Tenor von Arsen Soghomonya. Bewundernswürdig bewältigt er die Aufgabe, einen exemplarisch guten Menschen zu verkörpern. Dieser Graf Pierre Besuchow wird schon beim ersten Auftritt für sein Gutmenschentum verspottet von den adligen Klatschbasen. Er läßt sich nicht korrumpieren, nicht zerstören. Hilft am Ende denen, die sich nicht mehr selbst helfen können und singt, wie gedruckt, die letzten wahren Worte. Der hurrapatriotische Jubelchor indes, mit dem Prokofjew das Werk beschließen wollte, wurde, wie auch das ätzende Tableaux mit dem Palaver der Generäle im Dorf Fili, gestrichen. Nur eine bizarre Blaskapelle ist am Ende übrig geblieben. Sie marschiert quer durchs Chaos in einem »Haus der Gewerkschaften«, das so unverändert clean und cool aussieht wie immer. ¶
Bei ARTE kann die Produktion noch bis zum 5. September 2023 (in sechs Sprachen untertitelt) online an- bzw. nachgesehen werden.