250 Komponistinnen. Folge 58: lächelnd und zugewandt.
Ungefähr 20 Jahre vor der ersten Gesamt-Aufführung der legendären astronomischen Suite The Planets (1914 bis 1916 komponiert) lernte Gustav Holst die junge Chorsängerin Emily »Isobel« Harrison kennen; beide heirateten im Jahr 1901 – und am 12. April 1907 wurde Tochter Imogen Holst im Südwesten Londons geboren. Schon früh begann Imogen, erste eigene Stücke zu komponieren; bald wurde sie an der St Paul’s Girls’ School ausgebildet, wo ihr Vater selbst unterrichtete. Das Verhältnis zu ihren Eltern war wohl, wie man erfährt, nicht gerade von »Nestwärme« geprägt; auch unterwies Gustav Holst seine Tochter zu keiner Zeit persönlich im Fach Komposition.
Imogen Holst studierte Klavier bei einer nicht näher bekannten Aline O’Neill und Komposition bei ihrem Landsmann Herbert Howells (1892–1983), der als junger Mann an einer Schilddrüsenerkrankung mit sehr schlechter Prognose litt und in die Medizin-Geschichtsbücher Englands einging, weil er der erste Patient dieses Landes war, den man 1915 erfolgreich mittels einer Strahlentherapie behandelte (Howells wurde 91 Jahre alt). Imogen erwies sich als musikalisches Multitalent und spielte Violine, Horn, Orgel, Klavier, dirigierte und begeisterte sich für professionellen Volkstanz. Auch Ralph Vaughan Williams (1872–1958) gehörte kurze Zeit zu den Lehrern Imogens.
Außerdem war sie eine vorbildliche Studentin und gewann für ihre Kompositionen früh Auszeichnungen und Stipendien ihrer Hochschule, dem Royal College of Music; eine Pianistinnen-Laufbahn kam für Imogen bald nicht mehr infrage, da sie an einer chronischen Venenentzündung im Arm erkrankt war, die ausgiebiges Klavierüben unmöglich machte. Trotz dieser Widrigkeiten trat Imogen eine gewisse Zeit lang als Tänzerin auf und war als Dirigentin diverser Ensembles äußerst gefragt. Diese Tätigkeit bedingte, dass Imogen – die gerne auch reine Bläser-Ensembles leitete – immer häufiger Arrangements anfertigte sowie eigene Kompositionen für Blechbläser vorlegte; ihr universitäres Blechblas-Orchester-Abschlussstück The Unfortunate Traveller (dessen Partitur sie später wohl aus Frustration verbrannte) brachte sie freilich selbst am Pult zur Uraufführung – und war damit, wie verbrieft ist, »die erste Frau, die eine solche Formation in einem öffentlichen Konzert dirigierte.«
Dank eines ihrer Stipendien konnte Holst Anfang der 1930er Jahren Italien und Deutschland bereisen, nahm eine Kapellmeisterinnenstelle an einem kleinen Theater im Westen Englands (Bath) an und wurde nachfolgend von der English Folk Dance and Song Society fest angestellt, wo sie als Tänzerin, Sängerin, Korrepetitorin und Dirigentin zugleich arbeitete. Etwa ab dem Jahr 1933 fokussierte sich Imogen Holst mehr und mehr auf die reine Musikausübung und das Komponieren, unterrichtete dabei Klavier und Musiktheorie in London und Brighton; mit dem Tod ihres berühmten Vaters im Jahr 1934 schlüpfte sie in die Rolle einer universellen Ansprechpartnerin und Beraterin in Sachen Gustav Holst und seine Musik. 1938 veröffentlichte sie eine gerühmte Biographie ihres Vaters.
Als begeisterte Anhängerin der Laienmusiker:innen-Bewegung Englands engagierte sich Imogen Holst während des Zweiten Weltkrieges als Botschafterin der Amateur-Musikkultur und bereiste in dieser Lobbyfunktion für ein paar Jahre das ganze Land. 1943 kam es in der Wigmore Hall zu London zu einem Konzert, in dem Holst – auch hier in der Funktion einer Dirigentin – ausschließlich eigene Werke auf das Programm setzen konnte.
Die 1950er Jahren waren für Imogen Holst sehr von der engen Bindung zu Benjamin Britten geprägt, für dessen Festival in Aldeburgh sie ihre Kompositionslaufbahn zwischenzeitlich nahezu aufgab, obwohl anfangs auch ein Kompositionsauftrag von Britten an Holst vergeben wurde. Bis zum Jahr 1964 widmete Holst ihr Leben dem Gelingen von Brittens Musikfestival – und war hier »Mädchen für alles« (Planung, Einstudierung, Archivverwaltung und vieles mehr): »Ihr Arbeitsalltag glich sich schnell dem Brittens an: Montags bis freitags verbrachte sie in Aldeburgh und das Wochenende in London, wo sie eigenen Projekte verfolgte und Freunde traf.« 1966 gründete Holst die »G. & I. Holst Ltd.«, um ihr – trotz zahlreicher (kleiner) Dirigentinnen-Engagements von Chören und Instrumentalensembles außerhalb von Aldeburgh – nicht ausreichendes Einkommen aufzubessern und um ihre Mutter finanziell zu unterstützen. Immer mehr setzte sie sich für die Verbreitung der Werke ihres Vaters ein, dessen Musik durch Imogens Aktivitäten eine große Renaissance erfuhr; außerdem verfasste sie mehrere Bücher und wurde 1974 zum »Commander of the British Empire (CBE)« ernannt. Im Alter entstanden wieder vermehrt eigene Kompositionen. Seit etwa Mitte der 1970er Jahre hatte Holst jedoch mit gesundheitlichen Problemen – etwa einer Nierenentzündung – zu kämpfen.
Imogen Holst starb am 9. März 1984 an den Folgen eines Herzinfarkts im Alter von 77 Jahren in Aldeburgh.
Imogen Holst (1907–1984)Phantasy (1928) für Streichquartett
Neben einer Puppenoper (Young Beichan, 1945), einem einaktigen Musiktheaterwerk (Benedick und Beatrice, 1951) sowie zwei Schauspielmusiken komponierte Holst Chormusik, Solo-Lieder, Orchesterwerke und vor allem Kammermusik. Bereits im Alter von 21 Jahren entstand 1928 ihre Phantasy für Streichquartett.
Warme Akkorde des ganzen Quartetts tönen uns entgegen. Daraus erlauben sich einzelne Instrumente, scheu hervorzuschauen; aber immer in der Tutti-Gesamtschau des Klangs verbleibend. Nach fast genau einer Minute entwickelt sich scheinbar ein möglicher Hauptthemen-Ansatz heraus; doch die Linie bricht ab; wie ein Schicksalsschlag.
Also muss sich alles neu zusammenfinden. Jetzt wird die Musik heterogener, spaltet sich noch mehr auf; immer wohlklingend, auf einem unnachgiebig tonalen Boden. Diese Musik ist in sich »Zuhause« – und erzählt Geschichten aus längst vergangener Zeit mit dezent modernem Anspruch in der Narration.
Viele kleine musikalische Ereignisse ermöglichen ein heiteres wie echt beteiligtes Hören. Da blüht die Musik nach gut drei Minuten völlig auf; fast orgiastisch – aber immer fein und englisch. (»Lass uns nicht schreien!«) Sonor ergreift die Bratsche milde mahnend das Wort. Viele Tempo-, Farb- und Stimmungswechsel sorgen dafür, dass niemals Langeweile aufkommt. Genussvoll dürfen die Instrumentalist:innen ihre Old-School-Linien durchs Streichquartettgeschmeide ziehen; lächelnd und zugewandt. ¶