Venedig ist Musik. Musik ist Venedig. (Venedig ist heute aber vor allem: Venedig. Auf der Rialtobrücke trampelt man sich touristisch – aber irgendwie freundschaftlich, denn: Die Stadt ist zu schön – tot.)

Vor etwas mehr als 300 Jahren wurde teilweise an bis zu 20 verschiedenen Häusern in Venedig Oper gespielt. Heute sind es weniger als 20 Orte in ganz Italien, die einen einigermaßen regelmäßigen Spielbetrieb vorweisen können. Ein Hoffnungsschimmer kommt aus: Frankreich. Jedenfalls, was ein dramaturgisch immer interessantes Programm angeht. Die Programmatik des Palazzetto Bru Zane. Inzwischen steht dieser Name (auch als Label) gleichsam als Code für Ausgrabungen, Ungehörtes und notentechnisch neu Aufbereitetes.

Der Palazzetto Bru Zane liegt zu allem Extrem-Schönheitsüberdruss im Herzen Venedigs. Ende des 17. Jahrhunderts ließ ein gewisser Marino Zane eine Bibliothek in dem kleinen Palast einrichten. Seit mehr als zehn Jahren gehört die Behausung der Stiftung einer Mäzenatin: Nicole Bru, deren Familie mit Schmerzmitteln zu Wohlstand kam. Die inzwischen hochbetagte Französin Bru fand in ihrem Heimatland offenbar keine Abnehmerinnen und Abnehmer für ihre Idee, sich wissenschaftlich, aufführungspraktisch und editorisch vor allem französischer Musik vom Ende des 18. bis Anfang des 20. Jahrhunderts zu widmen. Also ging man nach Italien, kaufte 2006 den besagten Minipalast, sanierte das Gebäude – und hat hier, in Venedig, neben Paris nun eine zweite Basis. Im Palazzetto wird tatsächlich viel Französisch gesprochen, auch bei Konzertmoderationen. Und jetzt kümmert man sich auch äußerst ausführlich um Komponistinnen. Jüngst ist eine 10-CD-Box mit 165 Werken von 21 – teilweise völlig »unentdeckten« – Komponistinnen erschienen. Außerdem kommt es in der ganzen Spielzeit 2022/2023 sehr regelmäßig zu Aufführungen von Komponistinnenmusik. Komponistinnen-Serien-Schreiber Arno Lücker hat zwei dieser Konzerte in Venedig besucht und den Direktor des Palazzetto – den Musikwissenschaftler Alexandre Dratwicki – zum Interview getroffen.

VAN: Bei uns in Deutschland holen wir gerade etwas auf. Wir arbeiten daran, dass die Leute mehr kennenlernen als »nur« Clara Schumann und Fanny Hensel

Alexandre Dratwicki: Fanny Mendelssohn! [lacht] Nein, aber die Fixierung auf die beiden von Ihnen genannten Komponistinnen gibt es ja selbst bei uns in Frankreich! In Frankreich setzt man inzwischen häufig Clara Schumanns Konzert für Klavier und Orchester a-Moll aufs Programm. Die Orchester wollen mehr Komponistinnen-Musik präsentieren, stehen aber oft vor der Frage: Was können wir überhaupt spielen? Meistens dreht sich alles um die gleichen sechs Stücke. Auch darum haben wir die Komponistinnen-CD-Box produziert: Um Vorschläge zu machen, um zu zeigen, was es sonst noch so gibt. Man sagt sich ja inzwischen: ›Okay, wir kennen jetzt Cecile Chaminade, Marie Jaëll und Mélanie Bonis.‹ Aber auf der CD gibt es eine ganze Reihe von Werken von Komponistinnen, die quasi noch niemand kennt. Die Zukunft, auch in Sachen Forschung, gehört Komponistinnen wie Jeanne Danglas, Marthe Bracquemond und anderen.

In Ihrer Konzertreihe hier erklingt ja auch Musik von Juliette Dillon (1823–1854). Von der hatte ich nun wirklich noch nichts mitbekommen …

Ja, der Pianist Jean-Frédéric Neuburger wird bei uns Dillons Contes fantastique de Hoffmann spielen. Virtuose Klaviermusik aus den Jahren 1850 bis 1854. Ich denke, das ist sehr gute Musik. Wie die von Liszt. Sehr attraktiv auch durch den E.T.A-Hoffmann-Hintergrund dieser zehn programmatischen Stücke. Dillon ist leider schon mit 30 Jahren gestorben – und hat nicht viel komponiert. Dadurch sticht dieser Klavierzyklus sehr in ihrem Schaffen hervor. Und natürlich muss man als Pianistin und Pianist nicht den ganzen Zyklus spielen. Ohne Probleme lassen sich für zukünftige Konzertprogramme zwei, drei Stücke herauspicken. Man könnte sich einzelne Teile auch als Klavierwettbewerbsstücke vorstellen, so virtuos ist diese Musik. Jedes Stück ist ungefähr acht Minuten lang. Das ist ziemlich attraktiv.

Der Palazzetto-Direktor Alexandre Dratwicki • Foto © Matteo de Fina

Manchmal höre ich von Intendanten (weniger Intendantinnen), dass Werke von Komponistinnen nicht programmiert werden könnten, weil diese zu wenig Orchestermusik komponiert hätten. Das ist natürlich systemisch bedingt. Viele Komponistinnen waren selbst Interpretinnen, darunter sehr viele Pianistinnen, die teilweise gleichzeitig hervorragende Sängerinnen waren. Also gibt es in Sachen ›Komponistinnen des 19. Jahrhunderts‹ vor allem Solo-Klaviermusik und Lieder.

Eine unserer Landsfrauen ist ja Augusta Holmès. Sie hat großangelegte Orchesterwerke komponiert! Die Noten liegen in Versailles – und wir beginnen gerade, diese editorisch aufzuarbeiten. Etwa das symphonische Poem Irlande aus dem Jahr 1882. Auf unserer CD-Box finden sich auch Aufnahmen von Arbeiten von Charlotte Sohy, etwa deren Symphonie cis-Moll op. 10. Das große Problem, das es noch immer gibt, sind die Noten beziehungsweise die Art und Weise, wie die Noten von manchen Werken vieler Komponistinnen überliefert sind. Zum einen sind einige Notenausgaben einfach extrem schwer aufzutreiben – oder sie sind sehr teuer. Die Noten der beiden Violinsonaten von Louis Farrenc (op. 37 und op. 39) kosten 200 Euro! Also will das kaum jemand spielen. Entweder ist die Musik von Komponistinnen gar nicht verlegt oder sie ist schwer zu finden – oder die Ausgaben kosten Wucherpreise. Und ein vierter – vielleicht besonders fataler – Aspekt kommt noch hinzu: Denn viele Ausgaben von Komponistinnen-Werken auf dem Markt sind einfach schlecht. Und wenn Notenausgaben dilettantisch aufbereitet sind, dann wirkt es auf manche Musikerinnen und Musiker so, als wäre das schlechte Musik. Viele Interpretinnen und Interpreten urteilen dann schnell über diese Werke, weil es ganz oft vorkommt, dass die Notenausgaben im Grunde von Amateuren, manchmal von den hinterbliebenen Verwandten der Komponistinnen, herausgegeben wurden.

Das kann ich auch aus konzertdramaturgischer Sicht nur bestätigen. Bei amateurhaften Ausgaben schreckt man sofort zurück …

In den früheren Ausgaben von Louise Farrencs Klaviertrios und ihren Klavierquintetten beispielsweise – zeitgleich entstanden zu einiger Kammermusik des gerühmten George Onslow (1784–1853) und mit ihm übrigens qualitativ absolut auf gleichem Level – fehlen in der Klavierpartitur die Stimmen der Streicher. Das war früher üblich, aber heute will keine Pianistin, kein Pianist Kammermusik aus einer Partitur spielen, in der sie oder er nicht sieht, was die anderen Stimmen im Verbund mit dem Klavier machen! Ich stelle mir das so vor: Womöglich an Komponistinnen interessierte Musikerinnen und Musiker gehen, was naheliegt, auf IMSLP, schauen sich schnell die Noten an – und sehen, dass man aus dieser alten – und deswegen kostenlos zugänglichen – Ausgabe auf jeden Fall nicht spielen kann. Also wenden sie sich lieber anderer, besser verlegter Musik zu.

Das editorische Problem ist im Falle von Opern sicherlich sogar noch fataler, oder?

Absolut. Auf unserer CD-Box haben wir uns übrigens dagegen entschieden, Auszüge aus Opern mit aufzunehmen. Für uns ist eine Oper eine Oper – und besteht eben nicht nur aus einzelnen ›Highlights‹. Eine Oper muss man komplett aufführen! Eine einzelne schöne Arie verweist noch nicht auf die Qualität eines ganzen abendfüllenden Musiktheaters. Momentan arbeiten wir an zwei Opernprojekten, die Clémence de Grandval und Pauline Viardot betreffen. Und im Juni zeigt das Théâtre des Champs-Élysées mit uns in Kooperation die Oper Fausto von Louise Bertin konzertant. Die Rolle des Fausts ist bei Bertin mit einer Mezzosopranistin besetzt – und Margarethe (Margarita) mit einer Sopranistin, also so wie in Bellinis I Capuleti e i Montecchi (1830). Fausto gibt es dann auch szenisch zu sehen. An einem großen deutschen Opernhaus, das aber noch nicht seinen Spielplan veröffentlicht hat. Exakt zur gleichen Zeit zeigt die Oper Dortmund La Montagne noire (1895) von Augusta Holmès. Eine fantastische Oper – vier Stunden lang!

Alexandre Dratwicki über weitere Opern-Projekte des Palazzetto Bru Zane (mit typisch venezianischen Kirchenglockengeläut im Hintergrund).

Sie haben ja Musikwissenschaft an der Sorbonne in Paris studiert, ich lediglich an deutschen Universitäten …

Damit sind Sie der seriösere Musikwissenschaftler! [lacht]

Ich bin noch mit einer sehr von Adorno geprägten Fortschrittssicht auf die Musikgeschichte ›aufgewachsen‹. Und bestimmte Musiker:innen oder Musikwissenschaftler:innen bewerten bestimmte Werke von Komponistinnen eben immer noch sehr streng aus der Fortschrittsperspektive. Da ist dann mal schnell von ›Epigonentum‹ oder Ähnlichem die Rede; etwa, wenn eine Komponistin nicht direkt am ›Zahn der Zeit‹ zu komponiert zu haben scheint. Bei Rachmaninow, der noch in d-Moll komponiert hat, während andere schon bei der Zwölftönigkeit angelangt waren, ist das dann aber häufig eher nicht so ein Problem. Sind diese Bewertungskriterien in der französischen Musikwissenschaft ebenso stark am Werke?

Ja! In quasi jedem allgemein musikgeschichtlichen Buch auf Französisch, das Sie öffnen, ist von einer jeweiligen ›Moderne‹ die Rede. ›Die Modernität Monteverdis‹, ›Die Modernität Rameaus‹ und so weiter. In Frankreich denkt man, geht es um ›Moderne‹ so: Monteverdi – Rameau – Gluck – Berlioz – Debussy. Ich sehe das anders. Beispiel: Lili Boulanger. Sie ist vielleicht für ihre Zeit nicht so ›modern‹ wie Ravel, aber Boulanger ist auch schon mit 24 Jahren gestorben. Sie wäre sicher später Avantgarde gewesen! Der musikgeschichtlichen Modernitätssichtweise fallen aber natürlich auch die Männer zum Opfer. Die Musik von Louis Théodore Gouvy (1819–1898) beispielsweise ist wirklich sehr gut; so gut wie die Musik von Felix Mendelssohn – aber halt 40 Jahre nach Mendelssohn. Und die erwähnte Louise Bertin … Ihre Oper Fausto ist zur exakt gleichen Zeit wie Donizettis Anna Bolena entstanden – auf dem exakt selben Level der Modernität dieser Zeit! Exakt! Aber der Text und der Stil ihrer Oper Fausto sind nun einmal italienisch. Und damit ist sie ebenfalls kein wirklicher Teil der französischen Musikgeschichte …


Die Hörlektüre der Werke des ersten Kammermusikkonzerts des Palazzetto Bru Zane im April 2023 stellt die Frage nach der Fortschrittskonformität von Komponistinnen im Allgemeinen überhaupt nicht. Denn die von Pierre Fouchenneret (Violine), Lise Berthaud (Viola), Yan Levionnois (Violoncello) und Adam Laloum (Klavier) dargebotenen Werke sind allesamt hervorragend – und auf dem »Stand ihrer Zeit« (will man dieses immer auch ein bisschen langweilige Dogma ewig vor sich hertragen). Cellist Levionnois und Pianist Laloum beginnen in der Scuola Grande San Giovanni Evangelista (nahe dem Palazzetto) den subtil-französisch-verinnerlichten Reigen mit Rita Strohls Solitude. Ein Beginn wie in Schuberts Ständchen. Zwischenzeitlich tieftraurig, dann wieder hymnisch. Erst nach einer Minute darf auch einmal Laloum die Melodie spielen.

Hélène Fleurys Fantasie – dahingezaubert von Lise Berthaud und besagtem Adam Laloum – ist eine verwegene Rhapsodie; voller Hinterfragungen der Bratsche, voller Vorhalte. Wahnsinnig differenziert auskomponiert. Die Emotionen werden wie zu einer Fuge, zu einem Kanon der Gefühle. Wir lernen einmal mehr: In vielen Ausprägungen französischer Musik ist ein Höhepunkt nie laut, sondern nur Schlussfolgerung, Gefühlsemanation.

In Charlotte Sohys Trio avec piano en la mineur funkelt Debussy durch. Durch das Nebeneinander von Harmonien, mittels des pastellenen Tirilierens im Klavier, in Form von Ambivalenzen tiefromantischen Gurgelns. Schnell denkt man auch an Brahms: große Emphase an einigen Stellen, aber französisch (respektive norddeutsch) gediegen umgesetzt. Ein Weinen in der Violine? Ja, aber immer auch kontrapunktiert vom Cello.

Pierre Fouchenneret (Violine), Adam Laloum (Klavier), Lise Berthaud (Viola) und Yan Levionnois (Violoncello) am 1. April 2023 in der Scuola Grande San Giovanni Evangelista in Venedig • Foto © Matteo de Fina

Lili Boulangers D’un matin de printemps (1917) ist eine fabelhaft-fies-lustige Fieberphantasie, die an den zweiten Satz (Intermède. Fantasque et léger) von Debussys (im selben Jahr komponierter!) Violinsonate erinnert – und dieser in Genie und Handwerk in nichts nachsteht. Und Mel Bonis’ Klavierquartett B-Dur op. 69 aus dem Jahr 1905 schließlich gibt sich ebenfalls französisch arpeggiert, dabei wagnerisch schmeichelnd – und noch einmal deutlich virtuoser als alle vorherigen Werke. Versöhnliche Töne von Geige und Cello. Doch, da: ein leises Gleißen im Klavier! Diverse »Wetterlagen«. Jede Emotion wird zu einem wahren Gedanken – und dieser wieder zur reinen Emotion. Das unnachgiebige (ungerne zugegebene) Wagnerische an französischer Kammermusik dieser Zeit. Der zweite Satz bringt dann »klare Perioden«, aber auch koboldhaft Abdriftendes. Eine winzig-witzige Pizzicato-Passage verschafft Erleichterung. Im dritten Satz Brahmssche Zerknirschung – und im Finale Chopin-Etüden-Einschübe des Klaviers. Plötzlich »wuppt« es. Witzige Brütungen – und am Ende ein epischer Ausbruch. Großartige Musik, großartig gespielt. Nichts für Freunde expliziter Lautstärke, nichts für Brucknerianer:innen. Sehr gefasst – und unfassbar tief durchdrungen.

Im Kammermusiksaal des Palazzetto spielt Jean-Frédéric Neuburger jene genau Mitte des 19. Jahrhunderts komponierten Contes fantastique von Juliette Dillon (hier ein Teil des Zyklus‘ als Noten), die man in ihrer feixenden Virtuosität vielleicht noch einmal anders gespielt, noch einmal lyrischer ersonnen, diabolischer durchwirkt hören wollen würde. Diese programmatischen E.T.A-Hoffmann-Stücke, die immer wieder – wie schon die erste Nummer: Le violon de Crémone – an die überbordend virtuos-klopfenden, dazwischen wie wahnsinnig rasenden Hammer-Etüden Charles-Valentin Alkans gemahnen (wie beispielsweise an dessen Etüde En rythme molossique, 1846), gelegentlich auch an Schumanns Kreisleriana (1838). Herrliche Eskalationen, feurig hingepfeffert; ästhetisch im Verbund mit Gounod, Bizet, Chopin; hier ein rhythmisches Motiv in der Mitte, dort die einrahmenden/einrammenden Hack-Oktaven in den Außenbezirken. Bald choralartig, dann humorvoll. Stücke, die man in dieser Komplettheit noch nie gehört hat.

Der Pianist Jean-Frédéric Neuburger am 2. April 2023 im Kammermusiksaal des Palazzetto Bru Zane • Foto © Matteo de Fina

Das wäre auch ein gefundenes Fressen für Klavierlöwen vom Schlage Marc-André Hamelins. Dem Palazzetto Bru Zane ist es zu verdanken, dass diese Musik vor einer wissenden, kleinen Öffentlichkeit erklingt. Und immer mit dabei: Der Zauber, den jedes mit (noch) unbekannter Musik bestückte Konzert umgibt. Erfrischend, erforschend. Wie das Neue, das mit dem Frühling in uns dringt.

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.

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