Wissembourg (Weißenburg) ist ein äußerst idyllisches Städtchen im Elsass. Karlsruhe ist die nächstgrößere Stadt. Teilweise gehörte Wissembourg im 19. Jahrhundert zur von Bayern regierten Pfalz. Im Juli 1825 trat Bayern Wissembourg allerdings an Frankreich ab – bis im August 1870 preußische Truppen im Zuge der »Schlacht bei Weißenburg« das französische Heer besiegten. Von 1871 bis 1918 war Weißenburg Teil des Reichslandes Elsass-Lothringen.

Im Jahr 1846 dürfte Wissembourg um die 5000 Einwohnerinnen und Einwohner gehabt haben. Am 17. August des Jahres kam hier – genauer: in Steinseltz bei Wissembourg – Marie Trautmann zur Welt. Ihr Vater, Landwirt und zugleich Bürgermeister von Steinseltz, ermöglichte Trautmann eine musikalische Früherziehung, in deren Verlauf, so lässt sich auf der Seite des Sophie Drinker Instituts nachlesen, die Schülerin als Quasi-Wunderkind angepriesen wurde: So sei sie imstande gewesen, Melodien nachzusingen noch bevor sie das Sprechen gelernt habe. Mit sechs Jahren wurde Marie Trautmann zu einem Lehrer nach Stuttgart geschickt, der ihr Klavier-, Gesangs- und Kompositionsunterricht erteilte. Drei Jahre später folgte dort ihr erster öffentlicher Auftritt als Pianistin mit Werken von Mozart, Moscheles und Beethoven. In süddeutschen Regionen wurde Trautmann ab diesem Zeitpunkt als junges Pianistinnen-Talent herumgereicht.

Bald trat Marie Trautmann auch in Paris und London erfolgreich auf und wurde Ende 1861 als Studentin am Pariser Konservatorium aufgenommen, wo sie bei dem komponierenden Tastenlöwen Henri Herz (1802–1888, zuvor schon ihr Privatlehrer) Klavier studierte. Jannis Wichmann berichtet: »Zu ihrem erfolgreichen Abschluss bekam Marie Trautmann von Henri Herz einen Flügel aus eigener Fabrikation geschenkt, den sie auch auf späteren Konzertreisen mit sich führte.« Man könnte demgemäß davon ausgehen, dass Marie Trautmann eine der ersten Pianistinnen überhaupt war, die es sich leisten konnten, mit eigenem Instrument zu reisen.

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Inmitten vieler Konzerttourneen durch ganz Europa lernte Marie Trautmann um das Jahr 1866 den Pianisten Alfred Jaëll (1832–1882) kennen, der auch immer wieder als Komponist – ganz in der Tradition des Komponierens à la Chopin – auf sich aufmerksam machte. Nach der Hochzeit zogen Marie und Alfred nach Paris und traten in den Folgejahren häufig als Klavierduo auf. Nun bereiste man also zusammen diverse Länder Europas. Über das Zusammenspiel der Eheleute hieß es damals seitens eines Rezensenten (auf der besagten Seite zitiert): »(Alfred) Jaell (…) hatte bald eine gewisse Höhe erreicht, auf der er sich auch jetzt noch zu erhalten weiß. Wenn es seinem perlenreinen Spiele an Schlagschatten gebricht, weiß dies seine Ehehälfte, Frau Marie Trautmann-Jaell, doppelt zu ersetzen. Ihre große Technik und männliche Energie fühlt sich am wohlsten auf Liszt’scher Unterlage.«

Die Tatsache der seitens Alfred Jaëlls als tendenziell sich immer weniger gleichwertig herausstellenden Technik resultierte darin, dass die gemeinsamen Auftritte seltener wurden. Die Zeit des Deutsch-Französischen Kriegs verbrachten die Eheleute in der Schweiz, wo es – so berichtet Wichmann – auch zu einem Zusammentreffen mit Cosima und Richard Wagner kam. Alfred Jaëll starb 1882. In den Folgejahren wurde Franz Liszt zu einem guten Freund Marie Jaëlls (wie diese nach der Hochzeit hieß); Liszt machte sie im Zuge dessen nicht nur mit Anton Rubinstein und Johannes Brahms bekannt, sondern auch zu seiner eigenen Sekretärin. Liszt wiederum starb Ende Juli 1886 und Jaëll setzte ihre Laufbahn als Pianistin fort, wobei sie vor allem mit ihren Gesamtaufführungen – so aller 32 Klaviersonaten Beethovens – Eindruck machte. Hinzu kam die Beschäftigung mit den psychophysiologischen Voraussetzungen des Klavierspiels (mitsamt diesbezüglicher musikpublizistischer Tätigkeiten). Jaëll konnte so ihren zahlreichen Klavierstudentinnen eine absolut moderne Art des Unterrichtens, des Weitergebens von systemisch weitläufigen Erfahrungen zuteilwerden lassen.

Ab 1870 begann eine Phase intensiven Komponierens. Zwischenzeitlich hatte Jaëll Unterricht bei César Franck und Camille Saint-Saëns genommen und erfreute sich bald an der prompten Veröffentlichung zweiter Klavierkonzerte, eines Konzerts für Violoncello und Orchester sowie an der Drucklegung verschiedener Stücke für Chor und Orchester. 1879 kam es zur Uraufführung ihrer Oper Ossiane in Paris, ein Jahr zuvor war ihre dreiaktige Oper Runéa entstanden.

In den letzten 25 Jahren ihres Lebens komponierte Marie Jaëll fast gar nicht mehr. Sie starb am 4. Februar 1925 im Alter von 78 Jahren in Paris.


Marie Jaëll (1846–1925)
Impromptu für Klavier (1871)

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Arpeggengesättigt eröffnet das 1871er (Noten) Impromptu. Die Melodie liegt wohlig in der Oberstimme und klangvoll schön ergötzt sich die Komponistin an der zwischenzeitlichen Verwendung von kleinen Moll-Septakkorden, die das ganze Gefüge nicht als harmloses Salonstück erscheinen lassen. Die Satzstruktur verändert sich nach ein paar Augenblicken, Robert Schumann betritt – synkopiert-stockende Akkorde diktierend – freundlich die Türschwelle.

Jaëlls Klavierästhetik erweist sich als ein interessanter Mix von eben jenen Schumannschen Momenten mit ein wenig Liszt und den virtuos-motorischen Kaskaden Charles Valentin Alkans angereichert. Mächtig greift der Klaviersatz aus; rhapsodisch, balladenartig. Ein auflockerndes Allegro bringt wieder Schumannsche Märchensplitter hervor, doch dieses Stück scheint weniger auf eine Geschichte aus zu sein. Vielmehr entsteht diese Musik aus der Gebärde des Improvisierens. Urromantisch, ernst, heroisch. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.