Sie ist eine der ganz Großen unter den Komponistinnen klassischer Musik. Laut Melanie Unseld zählte Ethel Smyth »zu den bekanntesten und meistaufgeführten Komponistinnen ihrer Zeit«. Jürgen Otten bezeichnete ihre zuletzt 2022 prominent beim Glyndebourne Festival aufgeführte Oper The Wreckers in der Opernwelt als ein »absolut originäres wie originelles Opus«. Und Gesa Finke sieht in der Österreichischen Musikzeitschrift in Ethel Smyth eine »Felsensprengerin«, die jedoch vor allem »durch ihr Engagement in der Suffragettenbewegung sowie [durch] ihre Liebesbeziehungen zu Männern und Frauen« provozierte, »womit sie die Geschlechterkonventionen ihrer Zeit radikal in Frage« gestellt habe.
Die am 23. April 1858 in Kent (oder London, so Unseld) geborene Smyth war das vierte von acht Kindern; ihre Mutter eine künstlerisch interessierte Frau mit Adelsherkunft, ihr Vater ein Generalmajor der königlichen Armee. Mutter Nina, auch dies berichtet Unseld, hatte einst einen Salon in Paris organisiert, in dem sich Chopin, Rossini und andere illustre Gestalten sehen ließen.
Smyth »genoss« eine strenge und gleichzeitig elitäre Bildung – und suchte schnell die Nähe zum Klavier. Von 1872 musste sie drei Jahre in einem Mädcheninternat zubringen. Eine Strafmaßnahme, »da die junge Ethel als schwer erziehbar gilt. Die Internatszeit wird für Ethel Smyth im Hinblick auf ihre homosexuelle Neigung prägend«, so Unseld.
1877 zieht Ethel Smyth nach Leipzig, um Komposition zu studieren. Vom dortigen Konservatorium ist sie nicht sehr begeistert und engagiert Heinrich von Herzogenberg (1843–1900) als ihren Privatlehrer, der zu diesem Zeitpunkt schon fast acht Jahre lang mit der Komponistin Elisabeth von Herzogenberg (1847–1892) verheiratet ist. Eine Frau komponiert: Hier einmal (auch wegen der privaten Hintergründe des Lehrers von Smyth) endlich kein Problem. Bei den Herzogenbergs trifft Smyth auf Clara Schumann, auf Brahms, Grieg und Dvořák. Kammermusik, Solo-Klavierwerke und Liedern entstehen zu dieser Zeit.
1882 verliebt sich Smyth in Italien in Julia Brewster, die Schwester von Elisabeth von Herzogenberg. Julia Brewsters Mann verliebt sich wiederum in Smyth. Tragische Brüche, amouröse Mesalliance. Smyth darf Julia Brewster nie wiedersehen. In den 1890er Jahren entstehen dafür bedeutende Werke, 1898 beispielsweise die Oper Fantasio für das Hoftheater Weimar. Und so geht es weiter. 1906 erlebt die Welt erstmals Smyth’ Oper The Wreckers. Die Uraufführung erfolgt in Leipzig – unter der Leitung des legendären Leo Blech (1871–1958).
Nach dem Tode von Julia Brewster knüpft Smyth eine enge Freundschaft zu Henry Brewster. Doch dieser stirbt 1908 – ein wichtiger Fürsprecher der Komponistin Smyth fehlt ab diesem Zeitpunkt. In den Jahren 1911 bis 1913 macht sich Ethel Smyth für die Frauenrechtsbewegung der Suffragetten stark. Der March of the Women aus der profunden Feder von Smyth wird zu einem tönenden Inbild dieser Zeit, zur – wie es Melanie Unseld äußerst treffend formuliert – »Marseillaise der Frauenrechtsbewegung«.
Von Ethel Smyth werden wir noch viel hören. Obwohl sie – freilich – nicht mehr unter uns weilt. Sie starb 86-jährig am 8. Mai 1944 in Woking (gelegen im Süden Englands).
Ethel Smyth (1858–1944)
The Prison (1930)
Smyth komponierte sechs Opern, viele Kunstlieder, Chormusik, Orchester-, Kammermusik- und Solowerke. Ein gehaltvoller, spannender und größtenteils noch zu entdeckender Werkkatalog! 1930 brachte sie die Vokalsymphonie The Prison zu Papier. Das Libretto erstellte die Komponistin selbst – auf Basis des gleichnamigen Buches von Lebensfreund Henry Brewster.
Ein Gefängnisinsasse ohne Namen wartet auf seinen Tod. Ein Abgesang auf das eigene Leben. Die Natur – »rückblickend« betrachtet. Tiefes Blech, dazu die sogleich abschwellende, dem Gefangenen die Szenerie tönend überlassende Pauke. Wie so häufig bei Mahler kommt zum Grundton die große Sekunde – schichtend – hinzu. Die nie selbstmitleidige Klarheit des Ausdrucks im Zeichen des Todes. Fans denken an Britten. Doch Smyth war früher da!
Eine – wieder quasi Mahlersche! – Solo-Violine übernimmt die Rolle des zwitschernden Vogels. Engschrittigkeiten vermitteln die Tragik des Augenblicks. Changierende Harmonien wechseln mit immer wieder ganz unisono geführten Passagen. Komplexität vs. Plastizität. Eine große Geschichte der Innerlichkeit – fantastisch wissend, empathisch und meisterinnenhaft in Musik erzählt! ¶