Mit vollständig gelähmten Beinen wurde Louise Bertin am 15. Februar 1805 in der Nähe von Paris geboren – fast genau einen Monat bevor Napoleon Bonaparte nun auch König von Italien wurde. Louises Vater war Louis-François Bertin (1766–1841), der in den Folgejahren der Französischen Revolution von 1789 zu einem politisch einflussreichen Autor und Publizisten geworden war und nach dem Staatsstreich Napoleons im Jahr 1800 zusammen mit seinem Bruder das proroyalistische »Journal des débats et des décrets« übernommen hatte.
Als seine Tochter Louise 1805 geboren wurde, musste der Vater bereits auf mehrere Haftstrafen zurückblicken, die er unter anderem aufgrund des Verdachts der Verschwörung mit England abgesessen hatte. Louise erblickte also in politisch stürmischen Zeiten das Licht der Welt. Der umtriebige Vater ließ Louise dennoch eine umfassende Bildung angedeihen: Neben ihrer musischen Ausbildung wurde sie in Malerei und Literatur unterrichtet. Gesangsstunden bekam Louise bei François-Joseph Fétis (1784–1871), dem wichtigsten Chronisten der Musikgeschichtsschreibung Belgiens im 19. Jahrhundert, der nach der Vorgabe des belgischen Königs Leopold I. das Königliche Konservatorium Brüssel mitaufgebaut hatte und mit der Erstellung des Musikverzeichnisses seiner Biographie universelle des musiciens et bibliographie générale de la musique in die Annalen der historischen Musikwissenschaft einging.
Möglicherweise studierte Bertin auch bei dem bedeutenden Lehrer und bis heute unterschätzten Komponisten Anton Reicha (1770–1836) Harmonielehre, Korrepetition, Kontrapunkt und Fuge am Pariser Konservatorium. Reicha, der sensationell humor- und geistvolle Fugen – wie die wohl witzigste Fuge der Geschichte, op. 36 Nr. 12 – schrieb, gilt in der musikwissenschaftlichen Genderforschung als ein positives Beispiel in Sachen Gleichberechtigung. Zu Bertins Zeit nämlich hatten Frauen keinen Zugang zu den »fortgeschrittenen Fächern« (Kontrapunkt und Fuge) am Konservatorium. Reicha unterrichtete trotzdem eine ganze Reihe von Komponistinnen und setzte sich damit über bestehende Regeln hinweg, wie an in dieser Serie bereits mehrfach erwähnter Stelle informiert nachzulesen ist.
In langen Fugenbänden wirkte sich der – ja auch nur vermutete – Unterricht bei Reicha im kompositorischen Leben Louise Bertins allerdings nicht aus. Dafür schrieb sie mehrere Opern, die durchaus Aufsehen erregten.
Bertin starb am 26. April 1877 in Paris. Sie wurde 72 Jahre alt.
Louise Bertin (1805–1877)Air des Cloches (aus der Oper La Esmeralda) (1836)
Niemand Geringeres als Victor Hugo (1802–1885) schrieb 1836 das Libretto zu Louise Bertins Grand Opéra La Esmeralda und adaptierte damit eigens seinen Erfolgsroman Der Glöckner von Notre-Dame (1831) für seine gute Freundin – und für die große Opernbühne. Das Werk wurde am 14. November des Jahres am Théâtre de l’Académie Royale de Musique in Paris uraufgeführt – und war ein Misserfolg. Und das, obwohl Hector Berlioz die Proben geleitet und Franz Liszt den Klavierauszug des Werkes angefertigt hatte und somit scheinbar optimale Bedingungen gegeben waren.
Die Oper erzählt die Geschichte der schönen »Zigeunerin« Esmeralda, in die sich der bucklige Glöckner Quasimodo und gewissermaßen alle anderen auch – darunter königliche Angestellte und Priester – verlieben. Die Arie Air des Cloches (Lied der Glocken) wird von Quasimodo (Tenor) im vierten Akt der Oper gesungen. In der Zeitschrift Das Ausland (Ein Tagblatt für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker) hieß es, wenige Tage nach der Pariser Uraufführung, am 29. November 1836 zu der entsprechenden Stelle innerhalb der Oper: »Esmeralda, im Gefängnis, empfängt den Besuch [des Priesters] Frollo’s, der sie noch einmal zur Gegenliebe zu bewegen sucht und ihr unter dieser Voraussetzung Rettung verspricht, im andern Fall ist sie verloren, denn schon macht man Anstalten zu ihrer Hinrichtung. Da Esmeralda ihn mit Abscheu zurückweist, läßt er sie fortschleppen. Hierauf erscheint der Vorplatz der Notre-Dame-Kirche mit dem großen Eingangsthor, und Quasimodo, der auf den Stiegen der Kirchentreppe zusammengekauert seine Wiege und seine Heimath mit anbetungsvoller Begeisterung betrachtet. Wir sind weit entfernt dem Dichter von Notre-Dame de Paris seine Vorliebe für Quasimodo zum Vorwurf zu machen. Wir glauben vielmehr, daß er in der Behandlung des Ausbundes äußerer Häßlichkeit sein wirkliches und unbestreitbares großes Talent bewährt hat. Wer erschrickt nicht bei dem ersten Bilde Quasimodo’s? Wer hat das Buch weggelegt ohne innige Rührung, ohne Liebe für den unglücklichen Gnom? Auch in dem Libretto ist der Triumpf für Quasimodo. Er horcht dem Glockengeläute. Dann erhebt er sich und singt […].« Im Folgenden gibt der Autor den Text im französischen Original wieder.
Mit stampftanzartigem Gestus und schroffen Vorschleifern erinnert die Arie schon zu Beginn fast etwas an Verdis späteren »Zigeunerchor« aus Il trovatore (1853) und vor allem an den Grand-opéra-Pomp und die französisch-revolutionäre Brusttrommelattitüde von Berlioz und Meyerbeer. Meyerbeers Einfluss, dessen Huguenots ebenfalls 1836 in Paris zur Uraufführung kam, lässt sich bereits durch den Verweis auf Bertins einstigen Lehrer Fétis, der Meyerbeers letzte Oper Vasco de Gama (bei Fétis: L’Africaine) in einer gekürzten Fassung unters Volk brachte, herleiten.
Quasimodo singt voller Inbrunst zu Gott, beschreibt Natur und das Kreuz Jesu in seiner Kirche – und verharrt zunächst in der Akzeptanz seiner ihm zugeschriebenen Daseinsdefinition: »Je suis laid. […] C’est la vie!« (»Ich bin hässlich. […] So ist das Leben!«). Am Ende findet er eine positive Wendung und bekundet mit glühendem Herzen und angefüllt mit aufrichtigster Liebe: »Dans mon âme je suis beau!« (»In meiner Seele bin ich schön!«).
Bertin lebte nach dieser letzten Oper aus ihrer Feder noch 41 Jahre. Zerstörerisch reagierte das testosteronangetriebene Publikum nach der wunderschönen Arie des Quasimodo bei der Uraufführung mit Zwischenrufen wie: »Das Stück ist von Berlioz!«. Nach nur sechs Vorstellungen wurde die Oper vom Spielplan genommen. Für die letzten vier Aufführungen kürzte man das Werk – und setzte noch das Ballett La fille du Danube von Adolphe Adam als »Finale« des Abends hintendran. Die Emotionen des Publikums sollten mit der äußerst prominenten Ballettbesetzung – es tanzte niemand Geringeres als die legendäre Marie Taglioni (1804–1884), die 1832 die Titelrolle bei der Uraufführung von La Sylphide gegeben hatte – beschwichtigt werden. Dennoch kam es bei der letzten Aufführung von La Esmeralda erneut zu Turbulenzen. Im Auditorium brüllte man: »Nieder mit Bertin!« und »Nieder mit dem Journal des débats!« Die politischen Verstrickungen von Bertins Vater musste die Komponistin sozusagen durch ein mit Ansage inszeniertes Scheitern ihrer Oper mit ausbaden.
Zu einer Einspielung der Oper kam es erst im Jahre 2008 unter der Leitung von Dirigent Lawrence Foster. Deutschen Opernintendant*innen, die in den letzten Jahren – keinesfalls stets zur Freude des Publikums – immer und immer wieder Meyerbeer auf den Spielplan gehievt haben, wäre eine szenische Produktion dieses vergessenen Meisterwerks dringend anzuempfehlen. ¶