Der deutsche Wikipedia-Artikel zu Mélanie Bonis handelt zu mehr als der Hälfte von Beziehungen und Kindern – ein gleichermaßen bekannter wie unpassender Blick auf Künstlerinnen vergangener Zeiten. Wer würde demgegenüber – wie es bei (entsprechend kinderlosen und unverheirateten) Komponistinnen bis heute üblich ist – im ätzenden »Beethoven-Jahr« über den Komponisten schreiben: »Beethoven starb 1827 unverheiratet und kinderlos«? In der Tat kann man das Leben von Mélanie Bonis aber wohl kaum thematisieren, ohne die Besonderheit ihrer Zwangsheirat mit dem mehr als zwanzig Jahre älteren Industriellen und zweifachen Witwer Albert Domange zu erwähnen, mit dem die Komponistin 25-jährig 1883 von ihren Eltern verehelicht wurde.
Bonis war Kind einer kleinbürgerlichen Familie in Paris – und »genoss« eine strenge katholische Erziehung, die ein entsprechendes Frauenbild mit sich brachte. Ihr großes Talent am Klavier wurde wohl nur deswegen gefördert, weil eine gewisse pianistische Kompetenz auf dem Heiratsmarkt damals – und auch für die Eltern von Mélanie – für Frauen als »wertsteigernd« galt. Erst mit zwölf Jahren erhielt Mélanie regelmäßigen Klavierunterricht.
Bald darauf wurde Mélanie bei César Franck vorstellig, der ihr 1876 zu einem Studienplatz am Pariser Konservatorium verhalf. So wurde aus Bonis keine – so ihre eigentliche elternseitige Bestimmung – Näherin, sondern eine Studentin in den Fächern Klavier und Harmonielehre. Ihr kompositorisches Talent wird sich dementsprechend eindrücklich bemerkbar gemacht haben – und so wurde Bonis Teil der Pariser Kompositionsklasse an der Seite von Mitstudent Claude Debussy.
Kurze Zeit nach Studienbeginn verliebte sich Bonis in den Musikstudenten Amédée Landély Hettich, der von ihren Eltern als »schlechte Mitgift« (sprich: als armer Musiker) abgelehnt wurde. Sie musste gar ihr Studium abbrechen – und die Beziehung zu Hettich beenden. Der ihr »zugeteilte« Ehemann Domange brachte fünf Stiefsöhne mit ihn die Ehe – und Mélanie war angehalten, sich um die teilweise fast gleichaltrigen Kinder Domanges zu kümmern. Später bekam sie mit Hettich eine außereheliche Tochter, die über viele Jahre lang quasi versteckt lebte.
Erst um 1900 nahm Bonis ihre kompositorischen Tätigkeiten wieder auf, woraus vor allem zahlreiche Klavier- und Orgelwerke resultierten. Nach dem Ersten Weltkrieg engagierte sich die Komponistin aufopferungsvoll für Kriegsversehrte und Waisenkinder. Die immensen familiären, politischen und arbeitsökonomischen Belastungen führten zu Migräne- und Depressions-Phasen, gegen die Bonis – sich trotz ihrer repressiven Kinder- und Jugendjahre auf ihre religiösen Wurzeln besinnend – gewissermaßen auch »mittels« religiöser Kompositionen ankämpfte.
Bonis starb im Alter von 79 Jahren 1937 in Paris.
Mélanie Bonis (1858–1937)Barcarolle Es-Dur op. 71 (1905)
Die Barcarolle Es-Dur aus dem Jahr 1905 klingt wie die perfekte und vollmundige Allianz von russisch-slawischer Spätromantik-Tradition und französisch-verwegener Innovation. Der nur allzu erwartbar »wiegende« 6/8-Takt kennt den – von allen Jazzer*innen bis heute häufig eingesetzten – großen Septakkord (in Es) als sanft aufgerauten Überraschungskontrapunkt. Der zweite Takt rückt sogleich übermäßige Harmonie-Widersprüche als Korrektiv ins Bild vermeintlicher Klavierschönheiten; perlend fließt es weiter.
Sogleich à la Rachmaninow ausgreifend und themenvariierend setzt Bonis den Reigen fort. Als schönes und besonderes Detail finden wir plötzlich die Melodiestimme als »Daumenmelodie« in der bratschigen Mitte von rechter und linker Hand wieder. Klangauffüllend setzt die Komponistin tradierte Synkopen als Begleitung ein, um der dezidiert ohrwurmfähigen Melodie hymnisch zu frönen. Intelligent und einfallsreich entwickeln die um eine 16tel versetzten Begleitsynkopen-Linien als Überleitung ihr Eigenleben. Im »Andantino«-Teil schließlich vernehmen wir beharrlich-exotische Debussy-Anverwandlungen, die aber im Folgenden zu einer vergleichsweise viel expliziteren Emotionsäußerung als bei Ex-Mitstudent Debussy führen. Bonis’ Barcarolle ist nur ein Beispiel aus dem reichhaltigen Klaviermusik-Katalog der Komponistin, die als erhabene und originelle Meisterin »zwischen den Stilen« diverse Repertoirelücken kreativ und farbenfroh füllen könnte. ¶